MFG - ST. PÖLTEN 1945
ST. PÖLTEN 1945


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

ST. PÖLTEN 1945

Text Siegfried Nasko
Ausgabe 06/2015

ZERBOMBT, BEFREIT, BESETZT

Die Stadtwaldsiedlung, die Innenstadt, das Bahnhofsviertel sowie der südliche Stadtteil Spratzern waren im März 1945 Ziele von Tausenden Bomben gewesen. Bei einem dieser Angriffe am 20. März war auch der Tunnel der Mariazeller Bahn zerstört worden. Darin befanden sich zahlreiche Todesopfer, die letzten konnten erst ein Jahr danach, als man mit den Instandsetzungsarbeiten begann, geborgen werden. Es waren sechs Wehrmachtsangehörige, die sich in den Tunnel geflüchtet hatten. An den ersten beiden Apriltagen, dem Ostersonntag und -montag, flogen 130 US-Flugzeuge in 18 Wellen fünfeinhalb Stunden über St. Pölten und verwandelten vor allem das Bahnhofsgelände in ein Trümmerfeld mit über 500 Toten und zahlreichen Verwundeten. Das Sowjetische Oberkommando der 3. Ukrainischen Front sollte mit dem rechten Flügel bis spätestens 12./15. April bis zur Linie Tulln – St. Pölten – Lilienfeld vorrücken. Noch am 4. April schwadronierte Kreisleiter Mühlberger vor 30 Volkssturmmännern von einer Trendumkehr, von nahenden deutschen Panzern und dem Zurückweichen der Roten Armee. Tags darauf wurden 270 Gefangene aus dem Kreisgericht unter Volkssturmbegleitung nach Mauthausen eskortiert. SS und sogenannte „Kettenhunde“ streiften durch die Ruinen der Stadt und nahmen auf bloßen Verdacht hin vorwiegend junge Burschen als Deserteure fest. Die Erschossenen wurden u.a. am Europaplatz mit Tafeln „Fahnenflucht!“ ausgestellt. Im krassen Gegensatz dazu passierten höchste Persönlichkeiten des alten Regimes, wie der Polizeipräsident von Budapest oder der Wiener Gauleiter Baldur von Schirach, auf ihrer Flucht in den Westen St. Pölten.
Noch am 11. April wurde in St. Pölten jene überparteiliche Widerstandsorganisation durch Verrat des Konfidenten Brandtner aufgedeckt, die bei der Polizei, bei der Glanzstoff, in bäuerlichen Kreisen und im Schloss Pottenbrunn Stützpunkte hatte. Gestapochef Röhrling erzwang unter brutalen Vernehmungsmethoden Geständnisse. Polizeioberleutnant Schuster erhängte sich aus Verzweiflung in seiner Zelle. Staatsanwalt Dr. Stich berief im Lehrsaal der heutigen Polizeidirektion ein Standgericht ein. Unter den Zuhörern soll auch Gauleiter Dr. Hugo Jury gewesen sein. Elf der 12 Angeklagten, darunter das Ehepaar Helene und Josef Trauttmansdorff,wurden zum Tod verurteilt und im Hammerpark ermordet. Röhrling aber lebte bis zum Ende der 80er Jahre unter falschem Namen in Zeiselmauer.
St. Pölten war Frontstadt, in deren Vorfeld ein Stellungskrieg geführt wurde. Sowjetische Tiefflieger und beidseitiges Granatfeuer waren hör- und fühlbar. Viele Häuser lagen in Trümmern, Straßen- und Eisenbahnbrücken waren gesprengt, das Bahnhofsgelände war von Bomben um und um gepflügt.
Am 14. April besetzten die Sowjets Pottenbrunn und in der Nacht zum 15. April wurde St. Pölten unter Artilleriebeschuss genommen. In einem Schreiben des sowjetischen Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 1978 wurde der St. Pöltner Kulturverwaltung mitgeteilt, dass in der Nacht zum 15. April die 9. Gardearmee mit der 104. Gardeschützendivision, dem 18. Panzerkorps und der 35. Garde-Artillerie-Brigade St. Pölten innerhalb von drei Stunden in Besitz nahm. Die Nazis waren mit Oberbürgermeister Emmo Langer aus der Polizeikaserne heraus geflohen. Überall hörte man MG-Feuer und um 9 Uhr befanden sich die Sowjets bereits am Neugebäudeplatz, um 12 Uhr mittags war die gesamte Stadt unter sowjetischer Kontrolle. Die Gauleitung Linz meldete an Reichsleiter Martin Bormann nach München „St. Pölten von Bolschewisten genommen.“ Die Front war nach Westen vorgeschoben worden und hatte sich am Rande des Dunkelsteiner Waldes konsolidiert, wo sie drei Wochen bis Kriegsende verlaufen sollte.
Im großen Luftschutzkeller unter dem Dom, auch unter der Franziskaner Kirche, hatten viele Familien, besonders Frauen und ältere Männer, Zuflucht gesucht. Obwohl man noch von allen Seiten den Einschlag von Geschossen gehört hatte und das Domdach unter dem Fliegerbeschuss geradezu rollte, zelebrierte Domkaplan Dr. Franz König hier eine Messe. König dazu später im Gespräch für Österreich II: „...und gerade am Schluss der Messe sind die ersten russischen Soldaten in den Luftschutzkeller eingedrungen.Da war ein gewisses Aufatmen unter denen, die im Luftschutzkeller waren: Jetzt ist der Krieg zu Ende, jetzt ist diese Unsicherheit zu Ende, jetzt sind die Russen als Befreier gekommen, und jetzt beginnt sozusagen schon die Vorstufe des Friedens. Leider war das eine Täuschung, denn nun begann eine Zeit der Unruhe und der Unsicherheit. Der erste Tag, der Sonntag, hatte die ganze Stadt verändert: überall russisches Militär, russischer Nachschub.“
Kaplan Dr. König, der gut russisch sprach, wurde ununterbrochen geholt, um zwischen dem Bürgermeister bzw. der Bevölkerung und den Besatzungssoldaten zu vermitteln. Auf Königs Ersuchen wurde vor dem Eingang zum Dom-Luftschutzkeller zwar ein Sowjet-Posten aufgestellt, um Vergewaltigungen zu verhindern, dennoch beruhigten sich die bedrohten Frauen erst durch Königs persönliche Anwesenheit. Als er gegen Mitternacht so auf einer Pritsche am Eingang zu schlafen versuchte, weckte ihn ein Soldat, der von König die daneben schlafende Frau begehrte. Geistesgegenwärtig wehrte König mit den Worten den scheinbar gutmütigen Russen ab „Sie, das ist meine Frau!“
Grotesk war die Verlautbarung, Plünderungen und Schändungen sollten noch zum Zeitpunkt der Tat am Rathaus gemeldet werden. Nur bei vorliegenden Beweisen würden die Sowjets dagegen etwas unternehmen. Immerhin waren allein in der ersten Nacht im Dom 54 Frauen vergewaltigt worden. Bei insgesamt 12.000 untersuchten Frauen im St. Pöltner Spital wurden bis zum Jahresende 1945 bei 98 Lues und bei 1.250 Gonorrhoe festgestellt. Gegen die sibirische Syphilis hatte man im Übrigen keine geeigneten Medikamente.
Manche prononcierte Nazis nahmen sich aus Angst vor Repressalien nun, wie eine ganze Familie nahe dem Dom-Café, selbst das Leben. Noch am Tag des Einmarsches erschienen sowjetische Offiziere in der St. Pöltner Sparkasse, um die gesamten Barbestände in der Höhe von 775.000 Reichsmark zu beschlagnahmen. Sie quittierten dies vorerst, verlangten aber später die Rückgabe der Bestätigung mit der fadenscheinigen Begründung, sie müsse erst mit dem entsprechenden Stempel versehen werden.
 Der halbjüdische Kaufmannssohn Günther Benedikt war nicht zur Wehrmacht eingezogen und als Spross einer Mischehe auch nicht deportiert worden. Als Benedikt am 16. April im Dom-Café je zwei Radios und Pistolen weisungsgemäß ablieferte, ernannte ihn der von seiner stattlichen Erscheinung beeindruckte Stadtkommandant Major Skoritschenko spontan mit den Worten „Du Bürgermeister, Du Rathaus“ zum provisorischen Stadtoberhaupt.
In erster Linie hatte Benedikt zu sorgen, dass täglich alle Leute zwischen 16 und 50 Jahren bei Androhung der Todesstrafe am westlichen Stadtrand zum Ausheben von Schützengräben kamen, ohne dass es vorerst eine Verpflegung gab. Später bekam man von den Sowjets requirierte Kartoffel oder Marmelade. Auf diese Weise wurde auch die Eisenbahnbrücke, die unmittelbar vor St. Pölten über die Traisen führt, wieder provisorisch instand gesetzt. Bestätigungen des Bürgermeisters sollten vor Beschlagnahme von Fuhrwerken durch die Sowjets bewahren, manchmal wurde auch bescheinigt, dass Bürger so wichtige Funktionen hätten, dass man sie nicht zu Schanzarbeiten heranziehen dürfe.
Benedikt bestätigte vorsprechenden Bürgern bereitwillig, Verfolgungen durch die Nazis. Nicht zuletzt nahm er im Rathaushof im Bewusstsein seiner nunmehrigen Würde bei Herbert Wieden Reitunterricht.
Dr. Leo Schinnerl, der unter den Nazis ziemlich rigoros die „Liegenschafts-Entjudung“ durchgeführt hatte, wurde nun neuerlich mit der Amtsleitung und Lösung von Wohnungsproblemen betraut. Dabei erhielt er als damals „korrekter Pflichterfüller“ Rückendeckung durch Vizebürgermeister Dr. Wilhelm Steingötter. Dr. Rudolf Plaschke wurde mit der Organisation des Ernährungswesens betraut. Die Verwaltung wurde sukzessive nach dem Stand von vor 1938 wieder eingerichtet.
Im Garten von Lackerbauer in der Klostergasse hatten die Sowjets ein Lager eingerichtet, in dem sie etwa 60 Zivilisten grundlos gefangen hielten, um sie hernach in die Sowjetunion zu transportieren. Als Stefanie Graf eines Tages dort vorbei ging, hörte sie Schreie „Geh hinaus zu meinem Vater, dem Zotti, er soll herkommen!“ Als sich diese Schreie mehrmals wiederholten, reagierte Graf – der sowjetische Wachsoldat blickte gerade in die andere Richtung – gleichsam im Befehlston, der junge Mann solle schnell heraustreten, nicht nach links und nicht nach rechts schauen, schon gar nicht sich umdrehen, er solle auch seinen Rucksack zurücklassen und einfach gehen, aber rasch. Als der Bursche durchs Tor trat, hängte sie sich bei ihm ein, als gehörten sie zusammen, und marschierte mit ihm so geradewegs in die Freiheit. Hätte man sie erwischt, wären wahrscheinlich beide erschossen worden.
Um vor allem dem Ernährungsproblem Herr zu werden, veranlasste Ing. Walter Klein als Sekretär des Bürgermeisters Volkszählungen, waren in den ersten Tagen nur 7.800 Personen gezählt worden, verdoppelten sich diese innerhalb nur einer Woche auf 17.000. Die Bäckerei Unterberger verfügte noch über einen Waggon Mehl und backte damit drei Monate hindurch täglich einige hundert Kilo Brot, um das die Bewohner Schlange standen, während der Dom-Luftschutzkeller kostenlos beliefert wurde. Selbstversorgung wurde großgeschrieben, die Milch einer Kuh konnte damals Leben retten. So kaufte z.B. die wegen des Frontverlaufs von Hart nach Böheimkirchen übersiedelte Familie Reither dort einem Bauern, der seine überschüssige Kuhmilch an die Schweine verfütterte, diese ab, um sie mit sowjetischer Genehmigung am St. Pöltner Rathausplatz an kinderreiche Familien kostenlos auszugeben.
In einem Garten am Spratzerner Kirchenweg war Ende April eine ganze Batterie von russischen Soldaten einquartiert. Diese nötigten die Nachbarschaft zu Reinigungs- und Ausbesserungsarbeiten, waren häufig betrunken und belästigten die Frauen. Um den Menschen das Gefühl völliger Hilflosigkeit zu nehmen, wurden zwei Hilfspolizisten in dieser Straße eingesetzt. Die Rote Armee hatte bald 14 Amts- und Schulgebäude besetzt. Weiters war eine ganze Reihe von Betrieben von sowjetischen Soldaten belegt worden. Besetzt waren u.a. die Mühlen, Betonwerke, Textilbetriebe, Mechanikerwerkstätten, Malerei- und Tischlerbetriebe, Schlossereien, Friseurlokale, Schuhmacherwerkstätten sowie die Papierfabrik Salzer. Großbetriebe, wie die Glanzstoff, Voith oder das Viehofener Standardwerk waren beschlagnahmt und wurden als USIWA-Betriebe geführt. Durch die folgenden Demontagen erlitten diese vom Krieg weitgehend verschonten Anlagen bis zu 50%ige Maschinenpark-Verluste. Die Uhrmacherbetriebe arbeiteten ausschließlich für die Sowjets, auch zahlreiche Privathäuser waren beschlagnahmt.
Schon in den ersten Tagen nach der Befreiung bekam St. Pölten Besuch aus Wien. Der Vizebürgermeister der Systemzeit und nunmehrige Funktionär des Siebener Komitees Viktor Müllner war auf der Suche nach seiner eigenen Frau sowie nach der Frau von Ing. Leopold Figl in die Traisenmetropole gekommen. Müllner wurde nach eigenen Worten hier empfangen, als wäre er ein Mensch von einem anderen Stern. Man bestürmte ihn mit Fragen nach der politischen Zukunft und, was in Wien vor sich gehe. Dem Altbürgermeister Stephan Buger überbrachte Müllner Grüße von Landeshauptmannstellvertreter Oskar Helmer. Bereits am 21. April nahm Bürgermeister Benedikt selbst Kontakt mit der Bundeshauptstadt auf. Ein sowjetisches Militärfahrzeug brachte ihn nach Wien, wo er dem erwähnten Helmer einen Brief von Buger überbrachte. Darin hieß es, Helmer solle den nunmehrigen St. Pöltner Bürgermeister Benedikt nach Kräften unterstützen. Umgekehrt erhielt Erwin Unterberger Post von Ing. Julius Raab aus Wien, er solle sich um den Aufbau der Wirtschaft in St. Pölten kümmern.
Der provisorische Leiter der Polizei Leutnant Muchitsch erklärte am 24. April in einer Versammlung, sich mit allen Mitteln für die Wiederherstellung der Ordnung einzusetzen: „Wir haben genug mit Bandenkämpfen und wollen endlich wieder einmal frei sein und wieder leben können ... es soll auch, wir wissen ja noch nichts, eine eigene Regierung gebildet sein. Glauben Sie ja nicht, dass Ihnen dieses Österreich das wird geben können, was Ihnen das Österreich von 1918 gegeben hat ... Ich bitte Sie daher, unterstützen Sie uns dadurch, dass Sie uns alle wichtigen Angaben sofort zukommen lassen, aber vernadern Sie nicht ... Wir sind mitten im Krieg, wir sind noch Kriegsgebiet. Wir haben leider das Pech, dass die Front nicht 40 oder 50 km über unserer Stadt hinweggestürmt ist. Es hat sich daher viel ereignet, was wir absolut nicht gutheißen...Wir sprechen ununterbrochen beim Stadtkommandanten vor und schildern die für die Bevölkerung so schwer erträglichen Zustände ...“
In einem Aufruf zum 1. Mai regte Benedikt die Bevölkerung zur rotweißroten Beflaggung der Häuser an, Arbeitsfreiheit gäbe es aber nicht, im Gegenteil, die Schanzarbeiten sollten noch stärker betrieben werden. Immerhin kämpften die Sowjets immer noch gegen die Nazis an der Front, Menschenleben seien das schlechthin Kostbarste. In Major Chomaiko hat St. Pölten inzwischen einen neuen Stadtkommandanten erhalten. Am 8. Mai kam es in der Kapelle des Spitals zur Trauung eines evangelischen Brautpaares durch den katholischen Geistlichen Franz König, da weder ein evangelischer Pastor noch ein Standesbeamter greifbar war. Anlässlich der deutschen Kapitulation an diesem Tag richtete Bürgermeister Benedikt einen Aufruf an die Bevölkerung: „Der Krieg ist zu Ende. Unsere Stadt hat aufgehört, Frontstadt zu sein. Die Aufnahme eines nach Möglichkeit normalen Lebens hat sofort zu erfolgen ... Wir kennen nur ein einziges Ziel, unser herrliches Österreich wieder aufzubauen in gegenseitiger Duldsamkeit und unverbrüchlicher Einigkeit. Nachdem, was wir durchgemacht haben, gibt es keine Hindernisse mehr für uns.“
Für den 10. Mai wurde Arbeitsfreiheit und eine Feier am Rathausplatz angekündigt. Am 13. Mai wurde Benedikt seines Amtes entbunden und der von der SPÖ zur KPÖ konvertierte Franz Käfer zum neuen Bürgermeister bestellt. Als Landeshauptmann Ing. Figl am 19. Mai zu Besuch kam, wurde er vor allem mit der prekären Lebensmittelsituation konfrontiert. Am 26. Mai wurde aus SPÖ, KPÖ und ÖVP ein provisorischer Gemeinderat als Parteieneinigung und noch nicht als Ausdruck des Volkswillens gebildet. Bei den ersten NR- und LT-Wahlen am 25. November ging die SPÖ als stärkste Kraft hervor. Dennoch blieb Käfer auf Befehl der Sowjets bis 1950 kommissarischer Bürgermeister.
Der katastrophale Zusammenbruch und die beherzten Anfänge des Wiederaufbaues 1945 in St. Pölten sind ein exemplarisches Spiegelbild der damals bundesweiten Situation von Bevölkerung, Verwaltung und Versorgung. Aller scheinbaren Aussichtslosigkeit und drohenden NS- sowie Sowjet-Willkür zum Trotz meisterte die Solidarität der gesamten Bevölkerung und die Fokussierung der politischen Kräfte auf eine erlebenswerte demokratische Zukunft in einem erneuerten Gemeinwesen dieses Jahr Null. Improvisationsbereitschaft, spontane Entschlusskraft und kreative Überlebenskunst heilten nicht nur die Narben der zu 39% beschädigten Bausubstanz, sondern auch durchlebtes Misstrauen und politischen Nichtdialog. Miteinander wurden so die Wurzeln zur damals unvorstellbaren künftigen Landeshauptstadt Niederösterreichs gepflanzt.