MFG - Caritasdirektor Hannes Ziselsberger - Wenn wir Not sehen, handeln wir
Caritasdirektor Hannes Ziselsberger - Wenn wir Not sehen, handeln wir


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St. Pöltens gute Seite

Caritasdirektor Hannes Ziselsberger - Wenn wir Not sehen, handeln wir

Text Johannes Reichl
Ausgabe 03/2020

Die Caritas ist ein „geschäftstüchtiger“ Verein, und dies ist keinesfalls als Kritik an der Hilfsorganisation zu verstehen, denn ihr „Geschäft“ ist Hilfe für Menschen in Not, ihr Kapital die Solidarität der Mitmenschen, die sich oft auch in Form von Spenden manifestiert – und so ist es nur schlüssig, dass mich Caritasdirektor Hannes Ziselsberger zu Beginn unseres Gespräches gleich auf die neue Möglichkeit des SMS-Spendens aufmerksam macht. Schmunzelnder Nachsatz: „Das könnten wir ja gleich ausprobieren.“

Nach kurzem Laufen auf der Leerscheibe verstehe ich den sozialen Wink mit dem Zaunpfahl und zücke mein Telefon. „Ja klar, können wir.“ Ich tippe die Spendennummer +43 664 6603333 ein und gebe das Kennwort: KIND ein, doch bevor ich abschicke, fällt Ziselsberger ein, dass das SMS-Spenden nicht bei Firmenhandys funktioniert. Ich muss die gute Tat also aufschieben – definitiv nicht die Herangehensweise der Caritas, deren DNA auf rasche Hilfe gepolt ist oder, wie es Ziselsberger formuliert: „Wenn wir Not sehen, handeln wir!“
100 Jahre Nächstenliebe
Dieses Motto hat sich auch nach 100 Jahren nicht geändert. Damals, 1920, „hat Dompfarrer Michael Memelauer mit anderen Christinnen und Christen die Caritas St. Pölten ins Leben gerufen“, erzählt der Direktor, dies insbesondere unter dem Eindruck der verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges. „Da ging es ums nackte Überleben, um Grundbedürfnisse wie Essen, Heizen, ein Dach über dem Kopf, medizinische Versorgung – die Säuglingssterblichkeit war enorm!“ Heute stellt sich „Armut“ in einem der reichsten Länder der Welt natürlich anders dar, wenngleich – wie es die Caritas auf einer breitgefassteren Sinnebene  verortet – „Not nach wie vor allgegenwärtig ist. Unsere aktuelle Kampagne etwa lautet ‚Einsamkeit ist Not!‘“, führt Ziselsberger aus und bringt ein Beispiel aus seiner eigenen Erfahrungswelt. „Bei mir in Herzogenburg besuche ich zum Beispiel im Zuge unserer Haussammlung jedes Jahr einige ältere Damen – die freuen sich schon richtig auf diesen Termin, weil sie sonst übers Jahr kaum Kontakt mit anderen Menschen haben.“
Not in Zeiten wie diesen sei aber auch „Überforderung“, so der Caritas-Chef. „Stress und Leistungsdruck sind ja enorm, viele halten das einfach nicht mehr aus. Aber auch Hoffnungslosigkeit bedeutet Not – etwa ein Gefühl der Ohnmacht angesichts drohender Gefahren wie Klimawandel oder, ganz aktuell, des Corona-Virus.“ Freilich sei auch „klassische“ Armut noch immer nicht überwunden „wenn Familien gar nicht wissen, wo sie das Essen für den nächsten Tag auftreiben sollen.“ In derlei Härtefällen hilft die Caritas aus, „etwa mittels Lebensmittelgutscheinen, der Übernahme von Energiekosten oder einem einmaligen Zuschuss zur Monatsmiete.“
Der Taufschein der Unterstützten spielt für die römisch-katholische Hilfsorganisation dabei keine Rolle.„Wir helfen, weil WIR Christen sind, nicht weil die anderen Christen sind“, so Ziselsberger. Auch für eine Anstellung ist die Konfession kein Kriterium, „einzig wichtig ist, dass unsere Mitarbeiter unsere Philosophie mittragen“, soll heißen, Nächstenliebe in einem universalen Sinne leben.
Der Direktor selbst outet sich als religiöser Mensch. „Es gibt immer wieder schwierige Herausforderungen, und da ist es für mich schön zu wissen, dass es da eine Kraft gibt, die mir zur Seite steht und die mich liebevoll trägt – daraus kann ich Kraft schöpfen und bin sehr dankbar dafür.“
Neuer Hass
Vielleicht lässt genau dieses Grundvertrauen den Sozialmanager auch manch Anwürfe leichter ertragen, mit denen sich NGOs in den letzten Jahren zusehends konfrontiert sehen, was an Zynismus nebstbei kaum zu überbieten ist, weil die Caritas nicht erst einmal – um es plakativ zu formulieren – der Gesellschaft den Arsch gerettet hat und sie ohne jeden Zweifel nachhaltig zum sozialen Frieden in diesem Land beiträgt. Wie reagiert man darauf, wenn man ins Fadenkreuz populistischer Politiker oder wahrheitsresistenter Fundis gerät? „Zurückhaltend. Ich möchte nicht Feuer mit Öl löschen, sondern man kann nur versuchen, den verbreiteten Lügen mit Fakten zu begegnen“, meint Ziselsberger nüchtern.
Ein Fake-Klassiker ist diesbezüglich etwa die Mär, demnach die Caritas Flüchtlingen Handys schenkt „was vollkommener Blödsinn ist, aber natürlich tut es weh.“ Zumal diese Gschichtln ja keine harmlosen Unterstellungen sind, sondern ganz bewusst gestreute Falschinformationen, um einen gewissen Spin in der Gesellschaft zu erzeugen. Ziselsberger ortet diesbezüglich überhaupt ein gefährliches Zeitgeist-Phänomen, das vor allem Politiker vom Schlage eines Donald Trump salonfähig gemacht haben, „wobei es andererseits auch ein uraltes Thema zu sein scheint. Es gibt in der Bibel die Stelle‚ ‚Falschheit und Lüge lass ferne von mir sein; Armut und Reichtum gib mir nicht.‘ Das heißt, vor der Lüge wurde schon vor 2.500 Jahren gewarnt und dem sozialen Ausgleich das Wort geredet! Das hat sich nicht geändert – die Washington Post etwa hat Donald Trump bis Ende 2019 mittlerweile über 15.000 Falschmeldungen während seiner Amtszeit vorgerechnet!“
Ist man als Sozialarbeiter angesichts derlei Entwicklungen nicht in besonderem Maße frustriert, weil sie – Stichwort Arm-Reich – den Schluss nahelegen, dass es sich bei Not um ein zeitloses Phänomen handelt, das nie restlos überwunden werden kann? „Ich denke, man muss einfach akzeptieren, dass es seit jeher gute Menschen gibt, und solche, die weniger gute Absichten verfolgen. Als Sozialarbeiter braucht man natürlich eine hohe Frustrationsschwelle, zumal man oft wüsste, wie geholfen werden könnte – nur diese Hilfe muss auch angenommen werden, wir können und wollen ja keinen Zwang ausüben. Zudem müssen wir uns bewusst sein, dass wir die Welt als solche nicht verbessern können und dass – wenn wir eine Sache für ausgestanden halten – bestimmt eine neue folgt.“ Aktuell etwa Corona-Hysterie, Klimawandel oder eine möglicherweise wieder aufpoppende Migrationsdebatte. „Eines wissen wir aber bestimmt“, fügt Ziselsberger bestimmt hinzu: „Es ist unsere Pflicht zu helfen!“
An vorderster Front
So wie man es – um beim Thema Migration zu bleiben – auch 2015/2016 an vorderster Front getan hat, als nicht zuletzt dank des Engagements der Zivilgesellschaft und der NGOs rasch Strukturen geschaffen wurden, um die Situation in den Griff zu bekommen. Dafür erntete man aber nicht nur Dank, sondern auch Angriffe seitens Nationalisten und Migrationsgegnern, und zwar bis zum heutigen Tage. Für Ziselsberger nicht zuletzt deshalb nur schwer nachvollziehbar „weil sich die Lage ja danach wieder beruhigt hat – im Vorjahr hatten wir gerade einmal 12.500 neue Asylanträge“ (zum Vergleich: 2015 waren es über 88.000, Anm.).
Verstörend war und ist an der Debatte vor allem eine gewisse Wahrnehmungsverzerrung und Hysterie. „Ein Beispiel: Wir haben in Herzogenburg in einem Wohnhaus schon 2013 eine Flüchtlingsfamilie untergebracht. Als 2015 die Zahl stark gestiegen ist, wunderte sich eine Nachbarin, dass in der Stadt keine Flüchtlinge untergebracht sind. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass neben ihr schon jemand gewohnt hat. Oder nehmen wir eine Waldviertler Gemeinde, wo die Unterbringung von etwa 20 Asylwerbern zu großen politischen Auseinandersetzungen führte. Die Gemeinde hat 1.600 Einwohner – und die fürchten sich vor vier Familien mit 20 Personen? Wirklich?“, schüttelt Ziselsberger den Kopf, der das Thema zudem auf eine höhere, wenngleich gern verdrängte Ebene hebt. „Die Wahrheit ist, wir brauchen Migration! In den kommenden elf Jahren erreichen jährlich im Durchschnitt 27.000-29.000 Menschen in Niederösterreich das Pensionsalter. Gleichzeitig treten aber nur etwa 17.000 potentiell in den Arbeitsmarkt ein. Bislang kann mir niemand vorrechnen, wie sich das Füllen der Lücke – und damit die Sicherung unseres Sozialstaates – ohne Migration ausgehen soll.“
Das Mindeste
Allein aus diesem pragmatischen Grund, wenn schon nicht alle von Nächstenliebe beseelt sein mögen, „muss die Integration jener, die schon da sind, prioritäres Anliegen sein. Wir müssen diesen Menschen Zugang zu unserer Gesellschaft gewähren, insbesondere auch zum Bildungssystem, denn es zeigt sich vor allem bei den Jungen, dass sie sich rasch anpassen, die Sprache schnell erlernen und damit auch in ihrer Community insgesamt die Integration vorantreiben.“
Kontraproduktiv seien dahingegen Maßnahmen wie jene in der novellierten Mindestsicherung, die die Auszahlungshöhe an ein bestimmtes Sprachniveau  koppeln, „weil man anerkennen muss, dass es für die Neuankömmlinge zunächst prioritär ist, das nackte Überleben zu sichern – da verschwendet man sicher nicht den ersten Gedanken auf Spracherwerb.“ Dieser müsse dann natürlich – nicht zuletzt auf Basis eines dementsprechenden öffentlichen Angebotes – bestmöglich gefördert werden. „Und die Kurse werden auch gut angenommen“, räumt Ziselsberger gleich mit einem anderen Vorurteil der angeblich integrationsunwilligen Flüchtlinge auf.
Auch die ebenfalls mittlerweile nach einem Verfassungsgerichtshofentscheid abgefederte, aber seitens des Bundeslandes Niederösterreich auch in der „reparierten“ Neuversion des Sozialhilfegesetzes festgeschriebene unterschiedliche Unterstützungshöhe für Kinder hält Ziselsberger für sozial unverträglich. „Kinder sind nicht unterschiedlich viel wert und es ist grundfalsch, sie dafür zu bestrafen, dass sie in einer kinderreichen Familie aufwachsen, die mit Armut zu kämpfen hat.“ Durch diese Diskriminierung würde der Staat die Armut – zum späteren monetären und sozialen Nachteil der Gesamtgesellschaft – geradezu einzementieren und die Zukunftschancen dieser jüngsten Staatsbürger nachhaltig gefährden. Der Caritasdirektor bringt ein vermeintlich banales Beispiel. „Meine Tochter hat für ihre Diplomarbeit zum Thema Kinderarmut einige Menschen interviewt. Ein 60 Jahre alter Mann etwa hat auf die Frage, was für ihn eine schlimme Erfahrung gewesen sei, gemeint, dass er als Kind nie neue Schi bekommen hat, weil sich das die Eltern nicht leisten konnten. Er sei daher beim Schifahren immer der Letzte gewesen, habe sich immer unterlegen gefühlt. Dieses Kindheitserlebnis hat ihn sein Leben lang begleitet!“ Letztlich gehe es immer auch um die psychischen Langzeitwirkungen von Armut, die Scham, ganz abgesehen von der unmittelbaren Not, „wenn eine alleinerziehende Mutter nicht weiß, wie sie am nächsten Tag den Hunger der Kinder stillen soll, wo es also wirklich ums Allernotwendigste geht! Ich verstehe einfach nicht, wie man das in einem reichen Land wie Österreich zulassen kann.“
Alle denken nur an sich, nur ich denk an mich.
Könnte das seiner Meinung nach auch mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Entsolidarisierung zu tun haben, die – groteskerweise – einem gewissen Wohlstand geschuldet zu sein scheint? „Viele Menschen haben jedenfalls Angst, etwas zu verlieren. Faktisch betrachtet geht es uns heute natürlich viel besser als noch etwa unserer Großeltern- oder Elterngeneration. Die hatten zum Beispiel noch die 50-Stunden-Woche und drei Wochen Urlaub im Jahr, heute sind‘s 40 Wochenstunden und fünf Wochen Urlaub. Aber was sich vielleicht geändert hat, ist diese Zuversicht steten Aufstieges – heute haben viele eher den Eindruck, es kann nur mehr bergab gehen.“ Solidarität wird dadurch zusehends von Egoismus zersetzt, was aber gar nicht als amoralisch gilt, sondern gar als hipp. „Wenn man täglich mit Slogans wie ‚Geiz ist geil‘ beschallt wird, dann verändert das eben irgendwann das Mindsetting einer Gesellschaft.“ Und zerstört auf Sicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
In diese Kategorie fallen auch politische Slogans à la „Wer etwas leistet, darf nicht der Dumme sein.“ Dies suggeriert nämlich, dass „die anderen“ eben nichts „leisten“, ja es sich gar auf Kosten der Leistungsfähigen gut gehen lassen und sich dabei noch ins Fäustchen über deren Dummheit lachen. Nach den Gründen, warum diese Menschen zum Beispiel nicht arbeiten (können), wird gar nicht erst gefragt – was gerade etwa im Fall der Mindestsicherungsbezieher besonders bizarr ist, wenn man weiß, dass über 35% davon Kinder sind und weitere gut 25% schlicht nicht erwerbsfähig (Pensionisten, Menschen mit Betreuungspflichten). Die Gesellschaft wird so in Lager gespalten, Neid und Missgunst werden geschürt, Solidarität nicht mehr als Stärke, sondern als Schwäche aufgefasst, „ganz abgesehen davon, dass diese Sichtweise auch ein sehr einseitiges Verständnis von Leistung offenbart. Ich hatte diesbezüglich eine bemerkenswerte Episode mit meiner Tochter, die in der Schule immer zu kämpfen hatte, stundenlang am Tag lernen musste, während ihrem Bruder das alles recht leicht von der Hand gegangen ist. Als er für seine Leistungen einmal ausgezeichnet wurde, fragte sie verschmitzt: ‚Warum bekommt er eigentlich eine Auszeichnung? Er hat doch gar nichts geleistet, er merkt sich halt Dinge leicht. Ich musste viel mehr investieren, ich bekomme aber keine öffentliche Anerkennung. Was ich damit sagen möchte: Vielleicht ist die größere Leistung ja die, zum Beispiel als alleinerziehende Mutter den Kindern unter großen Entbehrungen ein halbwegs gutes Leben zu ermöglichen – nur diese Form von Leistung wird in unserer Gesellschaft nicht wahrgenommen und kaum wertgeschätzt.“
Wobei Begriffe wie „Leistung“ oder „Faulheit“ für die Caritas ohnedies keine Kategorie darstellen. Geholfen wird jedem, der in Not ist, und die kann – wie Ziselsberger wichtig ist zu betonen – „wirklich jeden treffen! Wir Menschen sind soziale Wesen und aufeinander angewiesen, das sollten wir nicht vergessen. Deshalb müssen wir zusammenhalten!“
Die Caritas St. Pölten praktiziert das seit nunmehr 100 Jahren auf vielerlei Art und Weise. Dies verdient nicht nur unseren Respekt, sondern vor allem auch unsere Unterstützung – etwa in Form einer Spende. Das kann man jetzt übrigens ganz einfach per SMS (oder wie in meinem Fall zuletzt auch ganz klassisch via Überweisung). Das könnten wir ja gleich ausprobieren …
Ich hoffe, Sie verstehen den kleinen Wink mit dem sozialen Zaunpfahl!
CARITAS ST. PÖLTEN
Die Caritas der Diözese St. Pölten deckt die Hauptstadtregion sowie das Most- und Waldviertel ab. Das Angebot von Beratungs-, Betreuungs- und Hilfsangeboten richtet sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Geholfen wird  u. a. Menschen mit Pflegebedarf, mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, sowie Menschen, die von akuter Armut betroffen sind. Die Caritas St. Pölten hat 2.500 hauptberufliche Mitarbeiter und ist an 165 Standorten aktiv, 4.800 Menschen engagieren sich freiwillig, die Zahl der bisherigen Spender liegt bei 70.000! Aktuell wird eine Übersiedlung der Hauptstelle ins ehemalige Alumnat in der Wiener Straße geprüft.
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