Sesshaft werden in St. Pölten?
Text
Althea Müller
Ausgabe
„Na wäh, nach St. Pölten? Was machst’n dort? Du spinnst ja!“ Soviel zum Grundtenor der liebevollen Worte, die mir meine beloved friends mit auf den Weg gaben, als mein Entschluss feststand, der Stadt Wien nach fünf Jahren den Rücken zu kehren, um (nicht nur) wohntechnisch in niederösterreichische Gefilde abzudriften. Nicht grad erbaulich, was ich da an dunklen Prophezeiungen zu hören bekam, aber wie immer tat ich sowieso das, was ich wollte. Und das Ergebnis meiner Landflucht? Gut? Schlecht? Die Eindrücke nach mittlerweile ganzen sieben Monaten als mehr oder weniger ordentliche Wahl-St. Pöltnerin, hier von A bis Z ...
A wie Alte Menschen
Während sich meine Erlebnisse mit ihnen in der Großstadt darauf fokussierten, dass mir völlig fremde Omas eine definitive Drogensucht unterstellten, wenn ich sie in der Bim mal unabsichtlich streifte, tippen mir hierzulande betagte Damen im Arzt-Wartezimmer besorgt aufs Tattoo und erkundigen sich nach meinem Wohlergehen. Und diverse Herren älteren Semesters wiederum weisen mich, ohne dass ich fragen müsste, bereitwillig von selbst ein, weil ich mich mal wieder mit der 2-Meter-Karre wegen einer circa dreimal so großen Parklücke abquäle. 1A! Und danke!
B wie Besser aussehen
Meine über den letzten Winter liebevoll angefressenen Kilos bin ich – padauz ! – innerhalb weniger Wochen dank dem Life Line Fitness & Sun-Center losgeworden. Inklusive Mini-Mitgliedsgebühr und eigens erstelltem Trainingsplan ohne Aufpreis. Schön, wenn my best friend S jetzt grollt, weil sie in ehemals unserem, nunmehr ihrigem Stamm-Club in Wien nach wie vor das halbe Monatsgehalt ablegen muss, um zumindest ein paar aufmunternde Blicke vom Trainer zu erhaschen.
C wie Cinema
Für Leute, die auf lässige Atmosphäre, „Genusskino“ mit Raucherlaubnis, feines Frühstück und ausgesuchte Qualitätsfilme stehen, gibt’s am Rathausplatz das Cinema Paradiso, das auch sommerliche Open Air-Film-Events in tha city veranstaltet. Für Leute wie mich mit Vorliebe für minder intellektuelle Action und Schnulzen, schön übersalzenes Popcorn, Neonlicht und einladend ausladende Kuschelsitze, gibt’s das Hollywood Megaplex. Und alle sind glücklich.
D wie Drive
Den hab sogar ich Natur-Un-Talent nun doch noch auf meine oiden Tag‘ – dank einer sehr engagierten Fahrschule Sauer. Ja, das ist die mit dem leiwanden, sorry: leiwauunden Übungsplatz, den feinen VW-Cars und den süßesten FahrlehrerInnen. Ja genau - DIE ist das!
E wie Enten
Aufgebläht von drei Tonnen Weißbrotwürfeln, die ihnen ungezählte kindliche Patschhändchen etwa alle 24 Stunden vorsetzen, treiben sie schaukelnd im Teich des Hammerparks und umfahren dabei in gekonnten Haken mein extra tagelang für sie getrocknetes, in Schnabel-gerechte Portionen zerstückeltes Sonnenblumenkernbrot. Ich bewundere ihren Stolz und verschreibe mir diese, meine private Tiertherapie zwecks innerer Besinnung am liebsten jeden Sonntagnachmittag.
F wie Friseur
In good ol‘ Favoriten zahlte ich 150,- und bekam von der Hausmeister-Friseur-Verschnittsdame auch noch „a Goschn anghängt“, wie wir Wiener sagen. Hier, bei Meister Gotschim zahle ich einen Batzen weniger, bekomme den fast besten Kaffee der Stadt und bin dabei auch noch umgeben von superhübschen Ladies (ja, auch Frauen mögen schöne Frauen!), die wirklich toll hairdressen können. Fazit: Friseur gut, alles gut, wie meine Geschlechtsgenossinnen und ich sagen ...
G wie Gastro
Ungefähr tausendzweihundertdreiundsechzig Beisln gibt es in St. Pölten. Glaube ich. Nach kurzer Zeit hat man raus, welcher Wirt gerne Runden spendiert, wo die witzigsten Kellner sind und welche Bardame dir noch um vier Uhr morgens ein Baguette macht – lächelnd! Und Gladiatorenkämpfe von halbwüchsigen Rambos gibt’s mancherorts gratis dazu. I’m impressed. Und spiele gern die Barfly.
H wie Hilfe
Egal ob Emmaus-Paradehandwerker, die binnen kürzester Zeit aus einem wahren Loch von Wohnung ein Altbau-Schmuckstück zaubern oder ein EVN-Techniker, der an einem Freitag noch spätabends kommt und mich vor einem Wochenende in völliger Dunkelheit rettet – wo ich in Wien bis mindestens nach den Weihnachtsfeiertagen nächsten Jahres warten musste, bin ich hier komischerweise noch nie im Stich gelassen worden. Seitdem spreche auch ich manchmal in Steckdosen hinein ... (Mein Therapeut meint übrigens, dass das okay wäre.)
I wie Insel
Reif dafür bin ich zwar dauernd. Nachdem ich aber im heurigen Sommer zu pleite war für z.B. Barbados (höhö – in your wildest dreams, baby, und nicht mal da...), verbrachte ich einen Urlaub auf Raten am Ratzersdorfer See. Ein Luxus, der via Auto grade mal a few minutes von meiner Wohnung in der STP-Innenstadt entfernt liegt. Heureka Bräunungsmekka!
J wie Jugendkultur
Dürfte es hier wirklich geben. Sie bauen sogar eigene Hallen für sie, hier. Schade, dass ich selbst schon so ein alter Freak bin. Aber wenn die Jungen in ihren Hallen sind, kann ich wenigstens in Ruhe meine Enten füttern.
K wie Kurzparkzonen
Das Um und Auf in der Innenstadt. Ein Horror sondergleichen, eine Abzocke bis zum Gehtnichtmehr! Seid’s eahs olle wahnsinnig??? Moment mal – na gut: siehe P ...
L wie Live-Bands
Gibt’s mehr zu sehen, als ich erwartet hätte. Auf Flyer und Plakate achten und darauf, was die Schüler am Nebentisch im Café Mélange reden! Und öfter mal auf www.joynt.at surfen (ja Jaxon, ich mag dich auch!).
M wie Männer
Die zwischen 20 und 30 haben alle was gemeinsam: sie sind entweder Kellner, DJ, Handballer, Musikjournalist, Trainer, Veranstalter oder alles gleichzeitig UND sie sind vergeben. Bindungswütige Single-Frauen sollten daher entweder in Wien ausgehen oder sich für den Samstag Abend einfach ein 5000-Teile-Puzzle zulegen, dazu Bridget Jones auf DVD und um die dreizehn Kilo Kinderschokobons. Macht ja auch Spaß.
N wie Nachbar
Bis jetzt der Überbegriff für stumme Menschen, die in meiner Nähe leben und mir nur deshalb ins Fenster bzw. durch den Türspalt glotzen, weil sie sich zur reinen Befriedigung ihrer Neugierde davon überzeugen wollen, ob ich a) noch lebe, b) mich mit (sicher) asozialem Pack abgebe oder c) endlich wieder ausgezogen bin. Dass Nachbarschaft in der Großstadt nach genau diesem Schema abläuft, ist nämlich kein Klischee, sondern Faktum. An meine neue Nachbarschaft musste ich mich darum erst gewöhnen – die Leute hier haben Zungen, mit denen sie Sachen wie z.B. „Wie geht’s denn so?“ sagen, und Hände, mit denen sie dir helfen, fünfundsiebzig verschiedene Lebensmittel aufzuheben, weil dir am Gang das Spar Gourmet-Sackerl aufgerissen ist... Eine völlig neue Erfahrung.
O wie Outlet
Wir haben ein Mango-Outlet in der Stadt. Das ist einer der Gründe, warum ich mir von Anfang an so sicher war, dass meine Entscheidung mit dem Umzug hierher nicht falsch sein kann.
P wie Parkkarte
Als Autobesitzer in der Nähe vom Rathausplatz zu wohnen, bedeutet (siehe K) nicht nur Segen – dachte ich, bevor ich endlich draufkam, dass man unter bestimmten Auflagen vom (lieben, guten, besten, schleimschleimbuckelschleimundstolzdrauf) Magistrat eine wirklich, wirklich günstige Bewohnerparkkarte bekommt. Unter bestimmten Auflagen bin ich deshalb seit kurzem wirklich, wirklich entspannt.
Quo vadis?
Nach St. Pölten, weil ich hier ewig lang spazieren gehen und jeden Tag im Kino sitzen und sorgfältig meine Wunden lecken kann, die mir das Leben in der Großstadt zugefügt hat. Ja. Das klingt genauso dramatisch, wie es sich anfühlt.
R wie Ratten
Leben in vielen glücklichen Sippen in unserem Hinterhof. Sie sind okay, fressen den Müll etc. Noch lieber wären sie mir nur dann, wenn sie nicht teilweise so groß wie meine Katze werden würden ...
S wie SAT
In Wien war ich teuer verkabelt. In St. Pölten habe ich plötzlich eine SAT-Anlage und zahle zumindest fürs gute TV-Programm nichts mehr. Und das sagt eigentlich eh schon alles. Außerdem hatte ich das letzte Mal einen SAT, als ich noch Nirvana-Poster aufhängte und lange schwarze Röcke trug. Als Teenie im Elternhaus halt. Nostalgie pur !!
T wie Traisen
Zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt. Dort kann man auf diesem Marmor-Dings am Wasser sitzen und mit den iPod-Stöpseln in den Ohren von einer besseren Welt träumen. Und wer weniger faul ist als ich, kann an den Ufern auch super skaten oder radfahren. Versuch ich vielleicht eh auch mal. (Und manchmal lernen Schweine fliegen.)
U wie Urban Legends
In St. Pölten: stinkt’s; gibt’s nur Schüler und Studenten; rollt man um zehn die Gehsteige ein; reden die Leute prinzipiell nur über dich, aber nicht mit dir; ist der hässlichste Bahnhof Österreichs. Et cetera, et cetara. Recht (ent-)spannend, festzustellen, in welcher Legende wieviel Prozent Wahrheitsgehalt steckt. Aber: ausprobieren! Denn: „Ich sag niiicht!“ (Nein. Ich bin nicht Enrico. Und ich hasse Clowns.)
V wie Verkäufer
Wer es gewohnt ist, bestenfalls nicht beachtet zu werden, schnallt bei den Verkäufern diversester Shops in St. Pölten ab: sie lächeln. Sie scherzen. Sie helfen. Sie verkaufen dir genau das, was du haben wolltest. Und wenn es mal eine Marionnaud(!!!)-Verkäuferin schafft, dir das Gefühl zu geben, eine Prinzessin zu sein und KEINE schlecht geschminkte Postpubertäre – dann, ja dann kommt mich sogar Großstadtpflanze und best friend S extra besuchen, um sich ihre blöde Wimperntusche hier zu kaufen!
W wie Wundersames
Ein ganzer Abend, an dem in jedem einzelnen Hinterhof gerockt und geschrammelt wird? Ein singender Zeitungsmann? Ein überdimensionaler Sandhaufen am Rathausplatz? Eine Elfe, die dir sieben Sonnenblumen einfach lieber schenken will, als Geld dafür zu verlangen? Ein Dreier im Lotto? Freundliche Postler? Und Goldfische in einem Brunnen? Wenn das nicht schön wundersam ist...
X wie X-zess
Kann man sich zu meiner very bad girl-Freude auch in diesem kleinen Städtchen ganz gehörig liefern. Wer ein wenig älter als 30 werden möchte und dabei auch nicht unbedingt blind, sollte nur rechtzeitig die Notbremse ziehen, dann ist das alles kein Problem ... Die besten, natürlich total subjektiven Tipps für an gscheid‘n Exzess: dort, wo es drunter und drüber geht und dort, wo du underground bist. Willst du Spass oder wass ? Na eben.
Y wie Yap-Yap
Das macht der Hund im Haus gegenüber jede Nacht, stundenlang. Mit Unterbrechungen, in denen er dann winselt oder sehr laut hechelt. Wenn das so weitergeht, werde ich zum Dognapper. Mit allen Konsequenzen (wie z.B. – ich weiß, es klingt unglaublich – regelmäßig Gassigehen!).
Z wie Zuag‘rast
Fühle ich mich auch jetzt noch. Aber das passt schon so. Ein echter Wiener geht halt nicht unter. Und eine WienerIN schon gar nicht.
FAZIT: hier bin ich. hier bleib ich. die nächsten fünf jahre? mal sehen ...