MFG - Patient im eigenen Haus
Patient im eigenen Haus


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Patient im eigenen Haus

Text Sophie Schiesser
Ausgabe 06/2014

Es ist längst kein Geheimnis mehr, sondern traurige bis schockierende Tatsache: Das Krankenpersonal in Österreich kriecht am Zahnfleisch. Im Vorjahr sorgte der Selbstmord eines Arztes für Betroffenheit, zahlreiche Studien belegen, dass die in der Krankenversorgung Tätigen die Berufsgruppe mit der höchsten Burnout-Gefährdung der Republik ist. Das Landesklinikum St. Pölten bildet diesbezüglich keine Ausnahme.

Auch in St. Pöltens größtem Arbeitgeber mit rund 3.000 Beschäftigten stehen die Mitarbeiter mächtig unter Druck: Hohe Personalfluktuation, krankheitsbedingte Ausfälle, schlechtes Arbeitsklima sind Realität. Und es geht die Angst um, die sich anhand einer einfachen Tatsache ablesen lässt: Kein einziger der Befragten – egal ob Arzt, Therapeut, Pflegepersonal, Leiharbeiter – möchte seinen Namen in der Zeitung lesen: „Kritik wird nicht gern gehört, wir haben einen Maulkorb umgehängt“, meint etwa Krankenschwester Karin Hinterlechner (Name geändert). Und daran halten sich die Mitarbeiter in der Regel auch, weil es kaum Alternativen gibt. „Wenn du dich mit der Führung anlegst, bist du schneller weg als du denkst. Nur wohin gehst du dann – in Niederösterreich wirst du keinen Job mehr bekommen, weil alles unter dem Dach der Holding ist, dir bleibt also nur der Weg in ein anderes Bundesland.“ Den viele dann doch nicht auf sich nehmen möchten – auch weil eine Besserung der Situation nicht gesichert ist: Diese ist nämlich in vielen Spitälern ähnlich. In der Fachsprache gibt es für diese Art von „Arbeitstourismus“ im Pflegebereich sogar einen eigenen Terminus: Caredrain. Dass er ursprünglich von Entwicklungsländern in Richtung reiche Länder vor sich ging, das Phänomen aber nunmehr auch hierzulande besteht, sollte den Verantwortlichen zu denken geben.
Wofür sind wir da?
Da ist ein Bild, das Schwester Franziska Summer (Name geändert) nicht aus dem Kopf geht. „Die Gattin eines alten Herren war soeben verstorben, er wurde kurz ans Sterbebett gebeten, dann erfolgte das ärztliche Gespräch. Nach drei Minuten stand er wieder draußen am Gang – völlig verloren. Da war niemand, der ihm Trost gespendet, ein paar nette Worte an ihn gerichtet hätte – es hatte einfach niemand Zeit. Irgendwann ist er dann mit hängenden Schultern gegangen. Das werde ich nie vergessen.“
Für Summer spiegelt sich darin die ganze Diskrepanz der aktuellen Situation wieder, die sie als extrem widersprüchlich und belastend zum eigentlichen Auftrag wahrnimmt. „Von Geschäftsseite ist durchgerechnet wie viel Minuten du quasi pro Patienten brauchen darfst – nur, ein Patient ist nicht irgendein Arbeitsstück, da gibt es auch Unvorhergesehenes. Wichtig wäre, nicht nur einfach Tabletten zu verteilen, sondern auch Fragen zu beantworten, Ängste zu nehmen, jemanden im Bett aufzurichten, damit er besser atmen kann, ihn vielleicht mal rauszuführen auf den Gang – das ist Pflege, und die braucht vor allem Zeit!“ Die habe man aber nicht mehr, mit negativen – auch volkswirtschaftlichen – Auswirkungen. „Für den Heilungsprozess – das ist das Kurzsichtige an diesem Wahnsinn – ist dies völlig kontraproduktiv. Denn die persönliche Ansprache, das Streicheln der Hand u. ä. würden den Genesungsprozess beschleunigen!“
Ein Zeitfresser, der in den Augen sämtlicher befragter Mitarbeiter in den letzten Jahren überbordende Ausmaße angenommen hat, betrifft die Dokumentation. „Heute scheint die Dokumentation vielfach wichtiger als der Patient zu sein. Du musst alles festhalten, die Kollegen laufen nur mehr mit Laptops herum – und was du nicht dokumentiert hast, das hast du sozusagen auch nicht gearbeitet“, erzählt Hinterlechner, und auch die Ärzteschaft klagt über „eine unglaubliche Überbürokratisierung. Du darfst quasi einen Fehler machen, Hauptsache er ist dokumentiert. Aber keinen Fehler zu machen, das aber nicht zu dokumentieren – das ist ein Fehler!“
Dabei ist es nicht so, dass man die Dokumentation an sich ablehnt „die Zeiten haben sich geändert, es ist auch notwendig – etwa im Hinblick auf steigende Regressforderungen der Patienten“, so Summer, aber die Relationen seien schlicht aus dem Ruder gelaufen, weil dadurch die Zeit für den Patienten zu kurz komme. „Und wie dokumentierst du, dass du einem Patienten, der Angst hatte, erklärst, was der Herr Doktor mit seinen Worten gemeint hat? Da wird dann gefragt: ‚Was haben Sie in dieser Zeit gemacht?‘“
Manche Bedienstete, so sie noch die Kraft dazu finden, machen derlei „Service“ mittlerweile unter der Hand. „Denn du musst deine Arbeitszeiten penibel einhalten“, so die Therapeutin Angelika Riegler (Name geändert). „Ich habe z.B. einmal einen Patienten getröstet, der fix und fertig war, das ging über meine fixe Zeit hinaus – dafür wurde ich gerügt. Seitdem mach ich das quasi illegal“. Auch Dr. Ralf Huber (Name geändert) bringt die Starrheit des Systems pointiert auf den Punkt „Im Grunde genommen müsstest du während der Reanimation abbrechen und an einen Kollegen übergeben, nur damit du nicht die Zeit überschreitest.“ „Seine“ Patienten würde er mittlerweile nach Dienstschluss besuchen.
Was ebenfalls durch die Bank als Negativerfahrung wahrgenommen wird, ist etwas, das nicht passiert. „Im Grunde genommen gibt es keine Wertschätzung von Seiten der Vorgesetzten“, so Dr. Huber. Eine solche könne man sich bestenfalls selbst aus Erlebnissen ziehen „als ich zum Beispiel ein Leben gerettet habe, weil ich auf etwas draufgekommen bin, was übersehen wurde – und dann siehst du, wie es dem Patienten wieder besser geht, das kompensiert schon vieles!“ Und natürlich Patientenlob, das aber – weil zeitbedingt der Service am Patienten, also die Leistung immer nüchterner ausfällt – im Umkehrschluss geringer wird.
Dabei gehe es gar nicht nur um fehlendes Lob an sich, sondern die mangelnde Wertschätzung schlage sich auf unterschiedlichen Ebenen nieder – für Schwester Summer beispielsweise „wenn ich im Mai höre, dass das Jahres-Abteilungsbudget für Fortbildungen aufgebraucht ist.“ Was Summer ebenso sauer aufstößt, ist die Nichtanerkennung persönlichen Engagements „Ich hab in meiner Laufbahn sicher tausende Ausbildungen absolviert, 2/3 davon auf private Kosten, aber ich habe noch nie gehört: ‚Toll, dass Sie sich dafür interessieren, das ist gut für die Abteilung, wir unterstützen das!‘ Das ist jedem egal, obwohl man viel einbringen könnte – du bist im Grunde genommen völlig austauschbar.“
Auch im Hinblick auf Anschaffungen, Umbauten etc. würden die Mitarbeiter nicht miteinbezogen. „Es sind mittlerweile so viele Generica im Umlauf, jede Woche etwas Neues. Und der zentrale Einkauf – der ja durchaus Sinn macht – wird von einem sogenannten ‚Leadbuyer‘ getätigt, der aber vielfach keine Ahnung von der Materie hat. Und das wäre noch nicht das Problem – aber er kauft z. B. Betten, ohne jene, die damit arbeiten, die wissen, worauf man achten muss, zu befragen.“ Ebenso sei es bei Umbauten, die an den Bediensteten vorbei umgesetzt würden, „wir müssen dann halt damit leben.“ Zugleich irritiert die Bediensteten, „dass im mittleren Management jede Woche neue Posten entstehen, von denen keiner weiß, was diese Damen und Herren eigentlich genau tun, während die Basis ausgeblutet wird“. Denn letztlich, und dies hört man durch die Bank, laufe es auf ein Grunddilemma hinaus: „Es ist einfach nicht genügend Personal vorhanden! Es geht nur um Einsparung, Einsparung, Einsparung.“ Ein Vorwurf, den die Landeskliniken Holding – eine einzig dürre Antwort auf Anfrage – übrigens zurückweist. „Eine Unterbesetzung kann sich aufgrund der natürlichen Fluktuation im Personalstand ergeben, ist allerdings nicht der Normalfall!“
Ein Befund, den die Mitarbeiter nicht bestätigen können. Obwohl sie ihre Arbeit lieben, wie zahlreiche Studien bestätigen, leiden sie zugleich an den Arbeitsbedingungen, kämpfen um ihre Ideale und auch einen letzten Funken Selbstachtung. „Es gibt so viele, die versuchen, den Wahnsinn so gut es geht zu kompensieren, weil es ihr Beruf, nein ihre Berufung ist. Aber irgendwann kannst du nicht mehr, bist am Ende, ausgebrannt. Wenn ich an das Bild von dem alten Mann denke – ich habe ihm nichts mitgeben können, keine Zeit für ihn gehabt – das ist extrem frustrierend. Dafür habe ich diesen Beruf nicht erlernt. So soll Medizin nicht sein!“
Sein und Schein
Dabei ist der Selbstanspruch der Politik und des Arbeitgebers von der Theorie her durchaus ambitioniert, wie ein Blick ins Leitbild des Landesklinikums zeigt: Dort ist u.a. die Rede von den Mitarbeitern als „der größte Wert des Unternehmens“, von „Freude und Humor“, welche „in angemessenem Maß“ die Arbeit begleiten sollen, von „respektvollem Umgang“ ebenso wie von einem Führungsverhalten, das sich „durch soziale und fachliche Kompetenz“ auszeichnet. „Dies äußert sich auch durch einen offenen, toleranten Umgang miteinander.“
Für viele Angestellte ist dieses Papier mittlerweile ein rotes Tuch. Therapeutin Riegler etwa moniert, „dass leider Sein und Schein extrem weit auseinanderklaffen.“ Und auch sämtliche befragten Ärzte stellen fest, dass man die hehren Ziele weit verfehlt. „Ich kann mich erinnern, als ich damals ans Landesklinikum kam, war gerade die Erstellung des Leitbildes im Gange. Das hat mir irrsinnig getaugt. Ich dachte, da ist etwas Großes im Umbruch, da gibt es Konzentration auf das Wesentliche“, erinnert sich etwa Dr. Manuel Eder (Name geändert). Knapp zehn Jahre später konstatiert er einigermaßen ernüchtert. „Was propagiert wird, wird nicht gelebt.“
Verantwortlich sei dafür auch die Holding-Konstruktion an sich. „Da wurde ein riesiger Konzern geschaffen, einer der größten Spitalsbetreiber Österreichs, und damit kann man noch nicht richtig umgehen. Die Kommunikation zwischen den Ebenen funktioniert nicht – nach oben heißt es ‚Eh alles super‘, nach unten hin wird ‚stille Post‘ in Sachen Unzufriedenheit gespielt.“ Dr. Joachim Hollaus (Name geändert) hingegen ortet ein allgemeines Zeitphänomen. „Das Geld wird immer weniger, daher der Spardruck immer größer – und gespart wird als erstes und einfachsten halt beim Personal. Das ist nicht nur in Niederösterreich so.“
Der Spardruck schlägt sich nach wie vor in einer überbordenden Arbeitszeit nieder. Vor allem Jungärzte würden nach wie vor „ausgequetscht wie eine Zitrone. Sie verdienen in Relation zu ihrem Studium und ihrer Verantwortung ja relativ schlecht und können ihr Gehalt nur durch Überstunden auffetten, und das weiß der Arbeitgeber auch – und nutzt es aus!“, so Dr. Hollaus. Dass die Nachwuchsmediziner dabei in der Regel nur mehr Zeitverträge bekommen, also auch nicht auf Sicht planen können bzw. wissen, ob sie überhaupt weiterangestellt werden, verschärft die Situation zusätzlich. Hollaus spricht diesbezüglich von „modernem Sklaventum. Ich habe früher nicht 38 Stunden, sondern im Schnitt 60/70 Stunden gearbeitet – der absolute Rekord waren 120 Stunden in der Woche!“, erinnert er sich zurück. Zwar sei die Situation mittlerweile besser geworden, „das gibt’s heut nimmer, und auch der EU-Druck wird die Leitungen wohl zwingen, mehr Personal einzustellen“, aber der Druck bleibe trotzdem enorm. Im Fall der Assistenz­ärzte erfahre er noch insofern eine Verschärfung, weil diese im Tandem mit einem Oberarzt den Großteil der Arbeit übernehmen „Das wollen sie auch, weil sie Verantwortung tragen möchten, lernen wollen – daher fühlen sie sich für alles zuständig – da bist du aber rasch bei der Selbstausbeutung und am besten Weg ins Burnout.“ Neben der Systemfrage komme also durchaus auch eine der Eigenverantwortung hinzu, die viele im Hinblick auf die eigene Belastbarkeit unterschätzen würden.
Hat man die Ochsentour der ersten Jahre halbwegs hinter sich gebracht und wird Oberarzt, hat man arbeitstechnisch das Gröbste hinter sich, „zumal man auch Routine bekommt.“ Dafür leide man an anderen, z.T. bereits erwähnten Problemen, wie mangelnder Wertschätzung oder Bürokratie. Auch Geld spielt eine Rolle, wobei diesbezüglich die Meinungen auseinander gehen. Während Dr. Eder meint „Als Oberarzt verdienst du rund 4.000 Euro netto, davon kann man schon ganz gut leben“, relativiert Dr. Hollaus: „In Relation zur Verantwortung verdienst du zu wenig im Spital. Es gibt auch keine Leistungsanreiz – das Gehalt ist immer gleich, egal ob du dich engagierst oder nicht. Viele verdienen deshalb draußen etwas dazu.“ Insbesondere als Wahlärzte, was unterschiedliche Auswirkungen nach sich zieht: Manche Kollegen würden dadurch erst recht wieder zu viel arbeiten und ins Burnout taumeln, klinikintern gäbe es Probleme zwischen Ärzten mit und Ärzten ohne Wahlarztpraxis hinsichtlich der Diensteinteilung, schwarze Schafe würden ihre Privatpatienten auf OP-Wartelisten im Krankenhaus vorreihen, wie der VKI nachgewiesen hat, vor allem aber würden viele Kollegen, so sie einmal auf den Geschmack gekommen sind, über kurz oder lang ganz wegfallen „was fürs Spital eine enorme Ressourcenvergeudung bedeutet, weil man die Leute ja teuer ausgebildet hat.“ Zugleich brächte dies auch einen Qualitätsverlust, „weil die erfahrenen Kollegen durch junge, unerfahrene Turnusärzte ersetzt werden.“
Wege aus der Falle?
Wie man die Situation in den Spitälern, den Arbeits- und Kostendruck entschärfen könnte, darüber machen sich die Mitarbeiter so ihre Gedanken. Neben dem offenen – freilich lautesten – Ruf nach mehr Personal stelle sich als prinzipielles Dilemma die Zwei-Topf-Medizin dar. So trägt die Leistungen im Spital der Rechtsträger, jene draußen die Gebietskrankenkasse – und diese hätten wieder unterschiedliche Leistungskataloge. „Dadurch schiebt man sich die Patienten zu, damit es quasi nicht ins eigene Budget fällt. Sinnvoll wäre eine 1 Topffinanzierung, wo der Patient als 1 Kostenfaktor betrachtet wird, egal wo er sich bewegt “, so Hollaus.
Die Grundsystematik entfalte auch Kuriositäten, etwa „dass das Spital von draußen Leistungen zum Teil zukauft, weil sie dort billiger sind“, zum anderen leiste es aber v.a. einer Überlastung der Ambulanzen „die der grundsätzlichen Versorgung der stationären Patienten dienen sollten“ insofern Vorschub, „dass dort Leute behandelt werden, die eigentlich nicht hingehören.“
Dr. Huber versucht das Dilemma plastisch darzustellen. „Nehmen wir als Beispiel kleine chirurgische oder endoskopische Eingriffe, die in vielen Ordinationen angeboten werden: Auch wenn der Eingriff problemlos in der Ordination durchgeführt werden könnte, wird der Patient vom Artz häufig ins Spital geschickt, weil die von der Krankenkasse bezahlten Tarife geringer ausfallen als das Verbrauchsmaterial und die Personalkosten. Im Spital – wo der Patient der Krankenkasse nichts kostet – wird der Patient dann zur selben Sache ein zweites Mal untersucht, bindet Spitalspersonal und belastet das System – obwohl dies überhaupt nicht nötig wäre! Und das Spital ist mit solchen Fällen zugespamt!“
Gang und gäbe sei es auch, dass Patienten für manche harmlosen Untersuchungen (z.B. MR), welche die Krankenkasse in Ordinationen nicht bezahlt, ins Spital geschickt werden. „Völlig pervers ist es, dass diese Patienten für die Untersuchung stationär aufgenommen werden und eine Nacht im Spital verbringen müssen, nur damit das Spital mehr Geld bekommt.“
Umgekehrt würden wiederum vom Krankenhaus ambulante Leistungen angeboten, die auf Krankenkassenkosten mit gleicher Qualität ebenso in Ordinationen angeboten werden.
Der Chirurg Dr. Willibald Streissler (Name geändert) ist zudem überzeugt, dass „viel zu viele kleinere Operationen stationär durchgeführt werden und der internationale Trend der tagesklinischen Eingriffe in St. Pölten verschlafen wird. Tagesklinisch heißt, dass der Patient in der Früh zur Operation kommt und spätestens am Abend wieder nach Hause geht. Das führt zu höherer Zufriedenheit bei den Patienten und schont Ressourcen, da er viel weniger Kosten verursacht und weniger Personal benötigt wird, z. B. für die Nacht.“
Angesprochen, wer die Kosten für den Patienten tragen soll, plädiert Streissler für die Abdeckung durch die Öffentlichkeit, egal wo er sich bewegt. Das Gesundheitssystem sollte nach dem best point of service-Prinzip funktionieren: „Wer kann die Leistung in guter Qualität, zu einem guten Preis, effizient erbringen!“
Diesbezüglich ist man rasch in einer Grundsatzdebatte, welche Funktion ein Spital überhaupt hat. Dr. Eder plädiert diesbezüglich für eine Schärfung des Profils „In einem Krankenhaus sollten schwere, akute Fälle für alle Bürger durchgeführt werden. Was hingegen im niedergelassenen Bereich zu bewerkstelligen ist, sollte auch dort passieren, um die Spitäler nachhaltig zu entlasten.“
Effizienzsteigerung
Aber auch abseits des Ambulanzthemas orten die Ärzte verschiedene Möglichkeiten der Effizienzsteigerung, und zwar zur Entlastung des Personals, nicht auf seine Kosten. „Es gibt sinnlose und teure Mehrgleisigkeiten – nehmen wir jemanden, der operiert werden soll. Da schauen der Hausarzt, der Anästhesist, der diensthabende Arzt und dann noch der Operateur, ob er operationstauglich ist. Hier genügte ein Vieraugenprinzip, aber doch bitte nicht vier Ärzte, die alle dasselbe untersuchen.“ Auch die Therapeuten orten eine Überbürokratisierung, die erst in den letzten Jahren überhand genommen habe: „Früher hat der Therapeut über Anwendungen, die sich direkt bei der Arbeit mit dem Patienten ergeben haben, in der Regel selbst entschieden – heute darf er das nur mehr nach Konsultierung eines Arztes. Das hat den Effekt, dass sinnlos Zeit vergeudet wird, der Patient wieder drei Wochen warten muss. Und selbst der Facharzt, der früher etwas angeordnet hat, muss sich nunmehr den Sanktus vom Physikalischen Institut holen, wo der Patient dann nochmals untersucht wird – von einem nicht Facharzt, der darüber die Letztentscheidung fällt. Das heißt, es passiert im Prinzip zweimal dasselbe.“
Auch in der Frage, wo bzw. wie das Ärztepersonal eingesetzt wird, gibt es Vorschläge. „Am Vormittag, wenn der Hauptbetrieb ist, sollten eigentlich die besten Ärzte im Haus sein – es macht doch keinen Sinn, dass sie Nachtdienste schieben, wo kaum etwas los ist. Das ist Qualitätsvergeudung!“
Einen ganz besonderer Fall stelle die Notfallambulanz dar. „Heute wirst du ja ‚totgetreten‘ in der Notfallambulanz – da wartest du, wenn du Pech hast, 12 Stunden, ganz einfach weil eben Notfälle zwischendurch versorgt werden müssen – und ein Herzinfarkt wartet nun mal nicht“, erklärt Dr. Huber. Die Abteilung sei prinzipiell unterbesetzt, und es würde zum Teil auch das falsche Personal eingesetzt. „Du hast dort viele junge Ärzte, dabei sollte unbedingt immer ein erfahrener Notfallmediziner, ein alter Hase vorort sein, der gleich abwägen kann, was Sinn macht und was nicht. Denn die Wahrheit ist, dass die Jungen in ihrer logischen Unsicherheit oft Leute behandeln, die man weitergeben könnte, Untersuchungen anordnen, die gar nicht notwendig sind und auch mehr Medikamente verschreiben als sinnvoll.“ Kurzum: Wieder wird das System unnötig belastet, und es kostet viel Geld.
Ideen und Ansätze gibt es also viele, allein – so der Eindruck sämtlicher Mitarbeiter – aufgenommen, geschweige denn geschätzt werden diese nicht. „Ganz im Gegenteil, du machst dich unbeliebt, wenn du dich engagierst. Kritik, und zwar durchaus konstruktiv gemeinte, wird nicht gerne gehört.“
Dabei würden die Voraussetzungen einen guten Betrieb ermöglichen. „Wir sind in Sachen Ausstattung in St. Pölten ja auf einer Insel der Seligen“, ist Dr. Eder überzeugt, und auch Dr. Hollaus meint: „Als Versorgungsspital, und das ist die Aufgabe des Zentralklinikums, ist St. Pölten ein sehr gutes Spital!“ Freilich mit einem großen Haken, wie er hinzufügt: „Es lebt auf Basis der Ausbeutung seiner Mitarbeiter – vom Putzpersonal über das Pflegepersonal bis hin zur Ärzteschaft.“
Seitens der Klinikum-Leitung war leider niemand bereit, mit uns über dieses Thema zu sprechen. STATISTIKEN LANDESKLINIKUM ST. PÖLTEN 18 Abteilungen*
484.304 Ambulante Frequenzen
(Anzahl der Besuche von ambulaten Patienten auf Spitalsambulanzen)*
48.442 Stationäre Aufenthalte
(Anzahl der stationären Entlassungen)*
29.687 Operative Leistungen*
5,31 Tage durchschnittliche Verweildauer (Die Verweildauer wird nach der Belegung zu Mitternacht berechnet)*
3.041 beschäftigte Mitarbeiter
(Stand: 2. Halbjahr 2012)*
Aufteilung nach Berufsgruppen:
Ärztliches Personal: 534
Pflegepersonal: 1.549
Wirtschaftliches Personal: 591
Sonstiges, nicht ärztliches,
medizinische Personal: 367
1.178 tatsächlich aufgestellte Betten**
Zentralkrankenanstalt St. Pölten mit Lilienfeld!
1.020 Betten
lt. Homepage St. Pölten (Stand: 7.5.2014)
EUR 310.274.023,-- Aufwände
EUR 279.338.043,-- Erträge

Deckungsgrad 90,0%**
*Quelle: Landeskliniken-Holding Niederösterreich Bericht 2012, veröffentlicht am 19. September 2013 (http://user-27910463975.publ.com/Bericht-2012)
**Quelle: Landesrechnungshof Niederösterreich: Entwicklung ausgewählter Kennzahlen in den NÖ Landeskliniken, Bericht 2/2013
ECKPUNKTE DER NÖ LANDESKLINIKEN-HOLDING In den Spitälern der NÖ Landeskliniken-Holding sind ca. 20.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.
An 27 Standorten verfügt sie über rund 8.000 Betten.
Mit rund 3.500 Ärztinnen und Ärzten, rund 10.200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bereich der Pflege, 170.000 Operationen und 2,24 Mio. Belagstagen ist sie österreichweit einer der größten Klinikbetreiber.
Jährlich werden in den Landeskliniken mehr als 385.000 Patientinnen und Patienten stationär betreut.
Zielsetzung: „Somit können wir Ihnen rund um die Uhr eine wohnortnahe Gesundheitsversorgung auf höchstem Niveau bieten.“ ARBEITSBELASTUNGEN IN DEN GESUNDHEITSBERUFEN NÖ Fast ein Drittel aller angestellten ÄrztInnen und ein Fünftel des Pflegepersonals befinden sich in der Vorstufe des Burnout, jede/r neunte ÄrztIn ist bereits akut ausgebrannt.
Zentrales Ergebnis aus der Fragebogenbefragung ist eine hohe Zufriedenheit mit der Arbeit (nicht mit den Arbeitsbedingungen!) trotz hoher Belastungen.
Belastungen durch Faktoren der Arbeitsorganisation:
Der Anteil der Ärztinnen und Ärzte Niederösterreichs, die sich durch die folgenden Faktoren eher stark bis stark belastet fühlen:
Lange Arbeitszeiten: 52,6%
Spezielle Arbeitszeiten (Schicht, Turnus, Nachtdienst): 55,6%
Überlange Dienste: 48,8%
Zu wenig Personal: 59,4%
Bürokratie: 63,5%
Großer Zeitdruck: 49,2%
Schlechter Führungsstil der
Vorgesetzten: 37,3%
Zu starke Inanspruchnahme während
des Dienstes: 43,2%
*Quelle: Studie der Sozialökonomischen Forschungsstelle SFS (Wien) im Auftrag der AK Niederösterreich und der NÖ Ärztekammer, präsentiert 2010.