Forschen im menschlichen Abgrund
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Der St. Pöltner Historiker Christoph Lind, 2013 mit dem Wissenschaftspreis des Landes geehrt, hat sich wie kein anderer mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde St. Pöltens sowie der weiteren 14 Gemeinden in Niederösterreich beschäftigt. Wir sprachen mit ihm über Wurzeln und Formen des Antisemitismus, den Holocaust sowie einen „späten Sieg“ über die Nazis.
Wie kann man sich die St. Pöltner jüdische Gemeinde vorstellen. War das eine in sich homogene Gruppe, und war diese in die Stadt integriert?
Es gab schon verschiedene Strömungen innerhalb der Gemeinde, die sich im Vergleich aber bei weitem nicht so stark ausdifferenzierten wie etwa im großen Wien. Es gab sehr traditionelle, streng religiöse Juden, es gab Zionisten, die weniger von der Religion als von einem Nationsbegriff her kamen, es gab Säkuläre und so weiter. Und diese Gruppen waren in sich auch wieder vermischt. Prinzipiell waren aber alle St. Pöltner – ob sie nun mehr oder weniger gläubig waren, spielte keine Rolle. Und man musste die Juden auch nicht integrieren – sie waren Teil der Gesellschaft, fest verankert im Stadtleben, in Vereinen, im Geschäftsleben oder auch bei der Feuerwehr. Die spielte dann mit ihrer Blasmusik auf Begräbnissen für die verstorbenen jüdischen Kameraden.
Antisemitismus hat ja eine lange religiöse Tradition – auch in St. Pölten gibt es bereits im Jahr 1306 ein erstes Pogrom. Ab wann kippte es in Richtung Rassismus?
Rassenantisemitismus ist in etwa ab den 1880’er Jahren salonfähig geworden und Hand in Hand mit dem Aufstieg der Christlichsozialen gegangen. In Wien war deren exponiertester Vertreter Bürgermeister Karl Lueger, aber auch Josef Scheicher, der die St. Pöltner Zeitung – die heutige NÖN – aufbaute, spielte eine ganz bedeutende Rolle. Von Beginn an befeuerte er über seine Zeitung den Rassenantisemitismus.
Warum konnte das auf fruchtbaren Boden fallen – die „Theorie“ dahinter war ja völlig abstrus?
Man spielte ganz bewusst mit einer Wahnvorstellung, verbreitete Gerüchte über die Juden, die mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hatten. Nehmen wir etwa das Bild vom reichen Juden. In Wien waren gerade einmal Großfamilien wie die Rothschild oder Gutmann reich, während 10.000e Juden von der Hand in den Mund lebten. Auch in St. Pölten waren ganz wenige wohlhabend, reich niemand – trotzdem verfing sich diese Lügen, verband sich irgendwann mit der eigenen Frustration, und plötzlich wurde aus dem Wahn vermeintliche Realität. Selbst heute höre ich noch Leute von den „reichen Juden“ reden.
Wie konnte sich dieser Wahnsinn über die Jahre zum Holocaust auswachsen?
Wissenschaftlich betrachtet gibt es viele Herleitungen. Prinzipiell war es ein Zeitalter großer Veränderungen. Die Industrialisierung etwa löste eine Verdrängung der kleinen Handwerksleute aus, sie waren sozusagen Verlierer. Auch eine neue Gewerbeordnung befeuerte diesen Prozess. Das Wahlrecht wurde sukzessive ausgeweitet, Demagogen wie Lueger nutzten dies aus und gingen mit antisemitischen Parolen auf Stimmenfang – mit großem Erfolg. In Kunst und Wissenschaft gab es große Umbrüche, denken wir nur an den Juden Sigmund Freud, der plötzlich das Unbewusste und Sexuelle in den Fokus rückte – für die Konservativen war das ein Anschlag auf ihr traditionelles Weltbild.
Generell muss man aber aufpassen: DEN Antisemitismus gibt es nicht, jener in den 1890’er Jahren war ein ganz anderer als jener in den 1930’er Jahren. Hierzulande spielte zudem der Zerfall der Monarchie eine große Rolle. Kaiser Franz Joseph etwa galt – wenn späterhin wohl auch mystifiziert –als personifizierter Hüter der Verfassung und somit Garant für Rechtssicherheit.
Wobei Antisemitismus auch schon während der Monarchie grassierte.
Selbstverständlich, wobei wir da eine gewisse Widersprüchlichkeit beobachten können: So führten viele Vereine etwa sogenannte Arierparagrafen ein, die Juden vom Vereinsleben ausschlossen, zugleich erhielten diese Vereine aber – auch vom St. Pöltner Gemeinderat, wobei das dann schon in der ersten Republik war – genau aus diesem Grund keine öffentlichen Förderungen.
Oder in der Politik gab es quer durch alle Lager Antisemiten, auch unter den Sozialdemokraten, dennoch wurde der Jude Julius Fischer einer der herausragendsten sozialdemokratischen St. Pöltner Stadträte der Zwischenkriegszeit.
In zunehmenden Maße mussten die Juden aber für alles und jedes als Feindbild herhalten: Entweder sie waren die jüdischen Kapitalisten, oder sie waren die jüdischen Bolschewisten. Diese Widersprüchlichkeit begleitet die gesamte Zwischenkriegszeit. Ganz übel wurde es dann ab Beginn der 30’er Jahre mit der Wirtschaftskrise und dem damit parallel einhergehenden Aufstieg der Nazis. Schon damals fanden die ersten Übergriffe statt, etwa Schmierereien auf die Synagoge oder Tränengas-Attentate auf Geschäfte. Die IKG St. Pölten etwa überlegte damals den Beschluss, die Fenster zu vergittern, weil es immer wieder zu Steinwürfen und Vandalenakten gekommen war. Nach dem Anschluss ließen die Nazis dann alle Schranken fallen.
Warum gab es eigentlich seitens der Bevölkerung so wenig Widerstand. Haben tatsächlich alle – überspitzt formuliert – mit dem Naziregime sympathisiert.
Man kann sicher nicht sagen, alle waren Nazis und Mörder. Ein ganzes Volk dreht nicht kollektiv von einem Tag auf den anderen durch. Von Kollektivschuld halte ich überhaupt nichts, die bringt einen nicht weiter, vielmehr geht es darum, wie sich der einzelne verhalten hat.
Die Nazis waren von Anfang eine Mörderbande, schon lange vor ‘33 – die sind über Leichen gegangen. Nach ihrer Machtergreifung, die in Deutschland ja keine gewaltsame, sondern Ergebnis einer konservativen Intrige war, haben sie sofort ein Mord- und Terrorregime aufgezogen. Es ist also nachvollziehbar, dass sich viele schwer taten, widerständig zu sein. Man wusste ja, was ablief – während des Krieges etwa wurden jede Woche große rote Plakate affichiert, auf denen die Namen der hingerichteten Regimegegner aufgelistet waren. Allein in der Wehrmacht gab es 20.000 Exekutionen. Im Vergleich dazu ging diese Zahl bei Engländern oder Amerikanern gegen 0!
Viele hatten also Angst. Dadurch aber, dass sie nichts unternahmen, konnte letztlich passieren, was passiert ist – der Holocaust! Das ist unsere Geschichte, der wir uns stellen müssen – so oder so.
Österreich galt ja bis zur Waldheim-Affäre 1986 als Weltmeister im Verdrängen. Ist der Umgang Ihrer Meinung nach mittlerweile ein ehrlicherer geworden?
Es hat sich schon sehr viel zum Positiven gewandelt, denken wir nur in St. Pölten an verschiedene Aktionen, aktuell etwa die Ausstellung anlässlich 100 Jahre Synagoge oder die Initiative für Stolpersteine. Da hat sich schon eine Sensibilisierung, ein echtes Interesse bei der Bevölkerung in den letzten 20 Jahren herausgebildet. Provokant könnte man von einer „Normalisierung“ sprechen insofern, dass das Wissen über die jüdische Gemeinde wieder zurückkommt. Die Nazis haben ja an deren Auslöschung, im Verwischen der Spuren sehr erfolgreich gearbeitet. Als ich Mitte der 90’er Jahre meine Forschung der St. Pöltner Gemeinde begann, wurde mir erst im Zuge der Recherche offensichtlich, dass es 14 weitere jüdische Gemeinden in Niederösterreich gegeben hatte – die waren vergessen! Sich an diese wieder zu erinnern, auch an jeden einzelnen Menschen, diesem wieder einen Namen, eine Geschichte zu geben – das empfinde ich schon als Sieg über die Nazis!
Haben wir in dem Sinne aus der Geschichte gelernt?
Das kann ich nicht beantworten. Ich denke, die Herausforderungen an die Menschheit und den Menschen als Individuum stellen sich zu jeder Zeit neu und in anderen Konstellationen. Das zivilisierte Leben müssen wir uns sozusagen jeden Tag aufs Neue erkämpfen.
Und wenn man sieht, wie viele Menschen die FPÖ wählen, obwohl diese Partei nach wie vor in regelmäßigen Abständen ihr Nazigeschwätz von sich lässt, hegt man so seine Zweifel. Da kann einer wie Martin Graf mit den Stimmen von SPÖ und ÖVP 2. Nationalratspräsident werden, obwohl er Mitglied der rechtsradikalen Studentenverbindung Olympia ist und Veranstaltungen beiwohnt, wo etwa ein Sänger auftritt, der „Bei 6 Millionen Juden fängt der Spaß erst an“ singt – und nichts passiert!
Sie setzen sich seit 20 Jahren mit dem Holocaust auseinander. Hat das in gewisser Weise ihr Bild vom Menschen, was diese einander anzutun imstande sind, negativ geprägt?
Ich denke, dass ich immer eine professionelle Distanz zum Forschungsgegenstand wahren konnte, wenngleich er natürlich ein besonderer ist. Aber um die menschlichen Abgründe zu analysieren, bedarf es nicht des Holocausts. Letztlich geht es immer um die Grundfrage, wie verhält man sich zu einander, und – auch wenn ich kein gläubiger Mensch bin – das steht schon in Werken wie der Bibel: „Liebe deinen nächsten wie dich selbst.“
Was schockiert sie nach wie vor am Holocaust?
Was ich nach wir vor ganz arg finde ist der Gedanke, dass man alte Menschen weggeholt und in einen Zug gesteckt hat, wo sie stundenlang sitzen mussten, nur um sie dann irgendwo fernab der Heimat herauszuholen und in ein Erdloch hineinzuschießen ... Das ist der Holocaust! Daher bin ich fassungslos, wenn so etwas wie im Fall Graf passiert ...