Eignungstest
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
Ich war damals grad ein kleiner Stöpsel im 86’er Jahr, welches das bislang geschichtsträchtigste der Zweiten Republik werden sollte: Tschernobyl, Waldheim-Affäre, Haider FPÖ-Chef und - Hauptstadt St. Pölten. Dass letztere unter dem „Supergau“ der anderen Themen unterzugehen drohte, war nur für Paranoiker Indiz „dass St. Pölten keiner ernst nimmt“. Mir als Kind hat sich das Ereignis trotzdem eingebrannt, nicht das Gulasch ohne Saft, sondern das erste Hauptstadtfest. Die nächsten 20 Jahre waren Erfolgstory, Kampf und Krampf in einem. Ersteres ist faktisch nicht wegzudiskutieren, letzteres aus politischer Großwetterlage (Stadt & Land tun sich leider bis heute schwer miteinander) und – viel schlimmer – hausgemachter Kleinkariertheit ebenso wenig. Fatalerweise haben die zwei Großparteien durch ihre gegenseitigen Verbalschlachten das ihre dazu beigetragen, weniger im Hinblick auf die Hauptstadtentwicklung an sich, als vielmehr im Hinblick auf das Versäumnis, ein WIR Gefühl, eine „nur gemeinsam sind wir stark und können Visionen umsetzen“ Stimmung zu entwickeln. Ebenfalls großer Hemmschuh war/ist ein stets latenter Minderwertigkeitskomplex (Folge des ehemals stinkenden Industriestadtimages und des selbstzerfleischenden Größenwahns, sich mit der Metropole Wien messen zu wollen), der mangelndes Selbstbewusstsein zur Folge hatte („Woher kommst du?“ „Aus Wien!“) und sich in kontraproduktiven Überkompensationen manifestierte. Gerade dort, wo man mit Muss metropolitan und weltoffen wirken wollte, war man am provinziellsten. Und doch, in jüngster Zeit ist etwas in Bewegung geraten. Die Hauptstadt greift, und zwar weil man sich von zuvor beschriebener Perversion allmählich löst. Von wegen, wir müssen 70.000 Einwohner haben, wie es das ÖIR ehemals prognostizierte. St. Pölten wird urbaner. Noch nicht in dem Tempo, wie wir uns das wünschen würden, aber die Richtung stimmt. Aus der in der Öffentlichkeit mit Penetranz titulierten „Landeshauptstadt“ darf endlich wieder die einfache Stadt St. Pölten werden. Die City-Plattform, der Neubau der Fachhochschule (wenn auch an falschem Ort - schade), die Triathlon Challenge (letztes überregionales Sportevent von Format nach dem ATP-Turnier-Aus), Gastspiele der Wiener Philharmoniker und des Burgtheaters, ein „teilfixes“ Symphonieorchester, Bootspicknick am Viehofner See, volle Schanigärten oder The Who im VAZ - das ist schon etwas! St. Pölten ist eine nette kleine Stadt. Provinz, im Maßstab zu Wien – ja! Aber es wird allmählich begriffen, dass das nichts Schlechtes ist! Die teils geistige Provinz im Kopf freilich - die Kleinkariertheit, die Suderei, die Neidgesellschaft, die mangelnde Kritikfähigkeit, die uns teilweise noch immer durchdringen – die muss weiter bekämpft werden. Manch Grundstrukturen liegen noch im Argen, Mut und damit Selbstbewusstsein müssen noch stärker Bürger wie v. a. öffentliche Stellen durchdringen (Oft sind wir viel zu „brav“, zu bieder.) Gute Ansätze müssen bis zum Schluss durchexerziert werden. So wird sich erst erweisen, ob die von der Stadt initiierten Arbeitskreise, die derzeit wie die Schwammerln aus dem Boden schießen, nicht zu Quatsch-Clubs verkommen, sondern von der Politik wirklich ernst genommen, also ihre Anregungen umgesetzt werden. Der Ansatz der Bürgerbeteiligung ist an sich richtig! „St. Pölten ist die meist unterschätzte Stadt Österreichs“, konnte ich unlängst lesen. Das ist gut, weil es heißt, dass noch vieles offen ist, sich noch in die richtigen Bahnen lenken lässt. Die Chancen sind also da, WIR - Stadt, Land, Politiker und Bürger gemeinsam (!) - müssen sie nur ergreifen! Ob wir so klug waren, werden wir in 20 Jahren wissen!