Die schweigende Mehrheit?
Text
Sascha Harold
Ausgabe
Um ihren Ruf wird die tschetschenische Bevölkerung St. Pöltens kaum jemand beneiden. Neben Problemen am Bahnhof, die sich mittlerweile weitgehend gelegt haben, sind Menschen tschetschenischer Herkunft kürzlich erst wieder im Rahmen eines Dschihadismus-Prozesses am Landesgericht in die mediale Aufmerksamkeit geraten. Wie viel Substanz steckt hinter den Vorurteilen und wie nehmen Betroffene die Situation wahr?
Ende Februar wird das Jugendzentrum Steppenwolf zum Ort des Austausches zwischen Jugendlichen aus Tschetschenien und lokalen Medienvertretern. Im Sesselkreis wird über das Thema des heutigen Abends gesprochen: Die Berichterstattung über Tschetschenen in St. Pölten. Nicht erst seit einem Zwischenfall am Hauptbahnhof Ende des vergangenen Jahres steht die tschetschenische Community im negativen Scheinwerferlicht. Die Berichterstattung, ist hier der Tenor, sei dabei Teil des Problems und erschwere die Integration für all jene, die sich nichts zuschulden kommen lassen. Einer der Jugendlichen führt aus: „Arbeitgeber, die hören, woher ich komme, sind sofort negativ eingestellt wegen des schlechten Rufs, den wir nicht verdienen.“ Einige würden bei Bewerbungen ihre Nationalität nicht nennen, andere führen Russland als Herkunftsland an – das sei nicht so negativ besetzt. Im Verlauf der Debatte geht es schließlich um die Frage, wann die Nennung einer Nationalität im Zuge der Berichterstattung wirklich notwendig ist. Einheitliche Regelungen fehlen hier. Barbara Obernigg, Leiterin des Steppenwolf, findet, dass gezielt Stimmung gemacht würde. „Die Nationalität wird nur in negativen Zusammenhängen erwähnt. Gibt es Probleme, waren es die Tschetschenen, bei positiven Beispielen, etwa im Sport, wird ein Tschetschene dann plötzlich zum Österreicher.“ Ein Jugendlicher ergänzt: „Es sind vielleicht zehn Prozent die Probleme machen, der Rest will einfach hier leben und sich integrieren.“ Es geht um Vorurteile, erschwerte Jobsuche, verzerrte Berichterstattung – die Grundlagen der Klischees bleiben zunächst außen vor.
Radikalisierte Generation
Freitag, der 28. April, im Landesgericht St. Pölten. Bereits zum zweiten Mal steht ein 15-jähriger türkischer Staatsbürger vor Gericht, ihm wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Als Zeugen sind tschetschenische Jugendliche geladen, die mit dem Angeklagten in regem Austausch über den sogenannten Islamischen Staat gestanden haben sollen. Schon einige Zeit zuvor warnt im Sommer 2014 die damalige Innenministerin vor österreichischen Dschihadisten, viele davon aus der tschetschenischen Bevölkerung. Gemessen an der tschetschenischen Gesamtbevölkerung (siehe Infobox) ist der Anteil radikalisierter Jugendlicher zwar sehr klein, in der dschihadistischen Szene nehmen sie aber einen prominenten Platz ein. Generell sind im syrischen Krieg auch einige kaukasische Gruppen auf teils verschiedenen Seiten aktiv. Das Deutsche Institut für Sicherheit und Internationale Politik stellt für 2014 zumindest vier militärische Gruppen fest, die von Tschetschenen angeführt werden und allesamt dem dschihadistischen Umfeld zuzurechnen sind. Das ist mit ein Grund, warum die Rekrutierung potenzieller Terroristen gerade in der tschetschenischen Community auf vergleichsweise fruchtbaren Boden fällt. Für den Politologen Thomas Schmidinger ist das allerdings nur einer von mehreren Aspekten. „Starke Stigmatisierung, Kriegstraumatisierung und dysfunktionale Familienstrukturen sind die Gründe für Anfälligkeit gegenüber Radikalisierung.“
Die tschetschenische Diaspora in europäischen Ländern bildete sich erst in den letzten 25 Jahren als Folge des ersten Tschetschenien-Kriegs nach Zusammenbruch der Sowjetunion. Zugrunde, so Schmidinger, liegt der Situation allerdings eine militärische Auseinandersetzung mit Russland, die im Großen und Ganzen bereits seit dem 18. Jahrhundert andauert. „Es geht hier um einen klassischen Kolonialkonflikt, der so lange bleiben wird, bis Russland sich aus der Region zurückzieht.“ Ein Befund, der wenig Anlass zur Hoffnung gibt.
Die aktuelle Situation in Tschetschenien ist zwar nicht mehr so prekär wie früher, funktionierende staatliche Strukturen fehlen allerdings und Korruption ist weiterhin ein Problem. Auch Präsident Ramsan Kadyrow, ein Vertrauter Putins, genießt in der Bevölkerung kein hohes Ansehen. Schmidinger weiter: „Der Konflikt hat sich teilweise auf Nachbarregionen verlagert, die verbliebenen Gegner des Regimes sind, nachdem säkulare Nationalisten weitgehend vertrieben wurden, islamistische Gruppen.“ Die Gesellschaft selbst sei durch dschihadistische und islamische Einflüsse konservativer als noch vor 20 Jahren, so der Wissenschaftler. Heimat braucht Perspektive
Das Fehlen effizienter staatlicher Strukturen in Tschetschenien wird auch von in Österreich lebenden Tschetschenen bestätigt. Zurück will fast niemand. Auch Magomed nicht. Der heute 21-Jährige ist mit acht Jahren aus Tschetschenien mit seinem Onkel und seiner Oma geflüchtet und hat in Österreich Asyl erhalten. Sieben Jahre danach sind Vater und Mutter nachgezogen. Nach drei Jahren sprach er gut Deutsch und besuchte Haupt- und Handelsschule, letztere brach er allerdings nach zwei Jahren wieder ab. Als Jugendlicher boxte er im Verein, heute arbeitet er für die Voest in Traisen und ist seit zwei Jahren mit einer Tschetschenin verheiratet. Seine Zukunft sieht er in Österreich, Tschetschenien biete ihm keine Perspektiven. Mit Vorurteilen hat auch er zu kämpfen. „Sobald jemand Tschetschene hört, heißts sofort, die sind alle radikal und religiös, aber wir sind nicht alle schuld, wenn ein paar nach Syrien fahren.“ Es seien auch in St. Pölten immer wieder dieselben, die Probleme machen würden. Dass der Bahnhof so in den Fokus gerückt ist, hat für Magomed aber pragmatische Gründe: „Das ist für viele einfach der Treffpunkt. Die haben nichts zu tun, treffen sich dann halt am Bahnhof und gehen dort spazieren.“ Er beschreibt sich selbst als religiös, besuchte auch den Islamunterricht, grenzt sich aber deutlich von radikaleren Strömungen ab. Respekt vor anderen sei das Wichtigste, wer das nicht einhalte, lebe für ihn nicht nach dem Islam. Dass seine Frau ein Kopftuch trägt, war sein Wunsch, sie hätten aber einvernehmlich entschieden. Der Umgang mit anderen Glaubensrichtungen ist für ihn kein Problem: „Ich beurteile andere nicht nach Religion. Wenn jemand gut zu mir ist, bin ich auch gut zu ihm.“
Mehmet Isik, Obmann des Islamischen Kulturvereins in der Herzogenburgerstraße, kennt die Probleme der Radikalisierung zumindest in seinem Verein nicht. „Radikalisierte findet man eher nicht in der Moschee. Von 264 Personen, die laut Innenministerium nach Syrien oder in den Irak gefahren sind, haben nur fünf Prozent eine Moschee besucht“, erklärt Isik. Fielen im Verein oder der Moschee radikalisierte Jugendliche auf, suche man das Gespräch, als letzter Schritt stünde theoretisch der Gang zum Verfassungsschutz. Angesprochen auf die tschetschenische Community führt er aus: „Tschetschenen besuchen die Moschee und verrichten ihre Gebete, bleiben aber eher zusammen. Kontakt zu anderen Gläubigen gibt es weniger.“ Zehn bis 15 Prozent macht ihr Anteil an den Besuchern aus. Kriminalität
Dass es auch in der tschetschenischen Community Probleme gibt, denen man sich stellen muss, damit hat Strafverteidiger Rudolf Mayer Erfahrungen gesammelt. Im Büro des Anwalts, der auch in einem Favoritner Boxclub aktiv ist, steht ein Foto des „Stiers von Serbien“, Edip Sekowitsch, ehemaliger Box-Weltmeister, der in Wien vor acht Jahren von einem Tschetschenen getötet wurde. Mayer war der Verteidiger im St. Pöltner Dschihadismus-Prozess Ende April und sieht Elemente des Islam durchaus kritisch. „Im Koran gibt es viele Suren, die zu Gewalt aufrufen. Die, die man dann radikal nennt, berufen sich ja genau auf das, was dort steht“, meint er. Auch der christliche Glaube, so der Anwalt weiter, hätte sich im Zuge der Aufklärung ja nur deshalb so entwickelt, weil davor eine Entmachtung der Kirchen stand – freiwillig hätte die sich nicht reformiert, schmunzelt er. In der tschetschenischen Community, in die er sowohl durch seine Arbeit als Anwalt, als auch durch den Boxverein Einblick hat, sieht er in punkto Religion gemischte Tendenzen. „Aber natürlich gibt es auch Radikale“, ist der Strafverteidiger überzeugt. Problematisch werde es, wenn der Glaube missionarischen Charakter annehme. Mayer wird oft generalisierend, wenn es um kulturelle Unterschiede geht, als Beispiel wieder der Boxclub: „Wenn ich zu einem Österreicher sag, streng dich an, sagt er ‚wozu?‘ Wenn ich das zu einem Tschetschenen sag, macht er statt zehn 50 Liegestütz bis ihm die Arme abbrechen“, meint er und spricht auch die Notwendigkeiten aufseiten der Aufnahmegesellschaft an. „Man erwartet immer, dass die Leute, wenn sie über die Grenze treten, ihre Religion, ihre Kultur und Lebensweise ablegen würden. Das ist naiv!“ Unterschiedliche Weltbilder seien ein Faktum, das es zu adressieren gelte, vom Gleichheitsanspruch hält er wenig. „Zu sagen: ‚Alle sind gleich‘, das ist absurd. Wenn ich unterschiedslos behandle, bekomme ich negative Resultate.“ Um Probleme zu bekämpfen, müsse ohne ideologische Scheuklappen unter großem finanziellen und personellen Aufwand an die Sache herangegangen werden.
Was den Vorwurf der überbordenden Kriminalität betrifft, so kann dieser übrigens nicht besätigt werden. „Im Jahr 2015 wurden in St. Pölten gesamt 2000 Tatverdächtige ausgeforscht, davon etwas mehr als 70 russische Staatsbürger, was einem Anteil von etwa 3,5% aller Tatverdächtigen entspricht. Nachdem ‚Tschetschene‘ keine Staatsbürgerschaft ist, werden sie unter Russische Föderation zusammengefasst“, erläutert diesbezüglich Oberst Markus Haindl von der Landespolizeitdirektion. Die Sache mit der Kultur
Auf kulturelle Unterschiede, vor allem auf das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, geht eine Sozialarbeiterin näher ein, die anonym bleiben möchte. „Wir haben in der tschetschenischen Bevölkerung, die wir betreuen, verschiedene Probleme. Zum einen gibt es die, die kein Vertrauen in den Staat haben und von daher Schwierigkeiten, sich der staatlichen Struktur anzupassen.“ Bei den gebildeteren Tschetschenen, so die Sozialarbeiterin weiter, gebe es dagegen andere Herausforderungen: „Wir haben beispielsweise einen Akademiker, der seine Ausbildung in Österreich nicht anerkannt bekommt und sich mit Hilfsarbeiterjobs über Wasser halten muss. Sowas frustriert natürlich.“
Viel beschäftigt ist sie naturgemäß auch mit sozialen Härtefällen, meist Männern ohne Ausbildung, die wenig Interesse an Integration zeigen und ihr gegenüber oft keinen Respekt haben. Das Geschlechterverhältnis ist generell ein großes Thema, in einigen Fällen werden Sozialtransfers mittlerweile den Frauen überwiesen, weil die Männer das Geld zuvor regelmäßig in Wettlokalen verspielt hätten. Oft, so schildert sie, würden Frauen von sich aus die Initiative ergreifen wollen und beispielsweise Deutschkurse besuchen. Ein Problem ist dabei, dass diese nur dann vom AMS genehmigt werden, wenn jemand dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung steht – bekommt eine Frau also Kinder, fällt sie für einige Zeit aus dem System und ist auch von Deutschkursen ausgeschlossen. Gerade in der tschetschenischen Community, in der vielfach das Rollenbild der Frau als Hausfrau und Mutter verbreitet ist, kann das zum Problem werden. Der Zwang ist dabei in einigen Fällen so groß, dass auch die Entscheidung Kinder zu bekommen nicht mehr von den Frauen getroffen wird, schildert die Sozialarbeiterin weiter. Einige der Betroffenen würden dann an helfende Stellen verwiesen, Scheidungen werden vereinzelt als letzter Ausweg wahrgenommen. Schon in der Kindererziehung ortet sie hier das Problem: „Die Burschen werden oft behandelt wie Könige, während Frauen für den Haushalt da sind.“
Der schwierige Zugang zu tschetschenischen Mädchen ist auch Obernigg bewusst. Im Steppenwolf wurde deshalb vor zwei Jahren ein spezieller Mädchentag eingeführt. Dass Jugendzentren generell aber eher von Burschen frequentiert werden, sei ein allgemeines Phänomen über alle Bevölkerungsgruppen hinweg. Die Zukunftsperspektiven schätzt Obernigg so ein: „Es wird eine Generation brauchen bis sich traditionelle Rollenbilder, die ja auch bei uns noch nicht so lange her sind, ändern. Bildungsangebote werden von den Mädchen bei uns aber sehr gut angenommen.“ Eine geschlossene Gemeinschaft?
Kommt man mit St. Pöltnern tschetschenischer Herkunft ins Gespräch, stellt sich bald eine große Offenheit und Gastfreundlichkeit ein, so ist es beispielsweise üblich, Gästen beim ersten Besuch in der Wohnung ein Geschenk zu überreichen. Die Auskunftsbereitschaft ist grundsätzlich ebenfalls da, Ansprechpartner der Familien sind zumeist die Männer. Was noch fehlt ist die institutionelle Verankerung der tschetschenischen Bevölkerung. Während es in St. Pölten islamische, türkische und alevitische Vereine gibt, die für Stadt und Öffentlichkeit als Ansprechpartner dienen, fehlen solche Strukturen in der tschetschenischen Community noch. Dietmar Fenz berichtet ebenfalls von Schwierigkeiten in der Anbahnung. „Wir versuchen jetzt die Treffen in den Jugendzentren zu forcieren und da regelmäßigen Kontakt aufzubauen.“ Vor zwei Jahren habe es auch Treffen mit Älteren gegeben, derzeit gibt es aber von Seiten der Stadt keinen Kontakt mehr. Oft müsse zu den Gruppenführern erst eine vertrauensvolle Beziehung hergestellt werden.
Am Beispiel des Bahnhofs erklärt Fenz die grundsätzlichen Aufgaben der Integrationspolitik: „Man muss ihnen da einfach sagen, wie das rüberkommt, wenn man in Gruppen vor den Eingängen der Geschäfte steht – das löst bei vielen halt ein ungutes Gefühl aus.“ Im Gedächtnis der Bewohner bleiben dann einzelne Vorfälle, die den Eindruck eines unsicheren Ortes schaffen. Da, wo der Kontakt besteht, funktioniert die Zusammenarbeit aber jedenfalls gut. Ohnehin meint Fenz, könne nur regelmäßiger Kontakt zu einer Verbesserung der Situation für alle beitragen. Hier wäre auch auf österreichischer Seite mehr Offenheit notwendig. An Sozialarbeiter wird vielfach herangetragen, dass es schwer sei Freundschaften mit Österreichern zu schließen, auch von den Jugendlichen im Steppenwolf wird das so bekräftigt. Magomed beschreibt es so: „Bei einer tschetschenischen Hochzeit ist es üblich, dass jeder einfach vorbeikommen kann, auch wenn er die Leute nicht kennt – alle dürfen kommen. Auf einer österreichischen Hochzeit war ich noch nie eingeladen.“
STATISTIK
Statistische Daten über die Tschetschenische Bevölkerung Österreichs sind schwer zu finden, weil meist nur nach Staatsbürgerschaft unterschieden wird. Der Politologe Thomas Schmidinger geht jedenfalls von einer Zahl von etwa 20.000-30.000 Personen aus, verglichen mit anderen europäischen Staaten ist das eine große Community, im Verhältnis zu anderen Bevölkerungsgruppen in Österreich aber sehr wenig.
Beim AMS St. Pölten sind laut Sprecher Thomas Pop mit Stichtag Ende April 173 Tschetschenen als arbeitslos vorgemerkt, davon 69 Frauen und 104 Männer. Die größten Herausforderungen sind laut AMS Sprachbarrieren und die Anerkennung vorhandener Ausbildungen. Für anerkannte Flüchtlinge hat das AMS deshalb sogenannte „Kompetenzchecks“ gestartet, die vorhandene Qualifikationen evaluieren und mögliche Weiterbildungsmaßnahmen aufzeigen sollen.
Freitag, der 28. April, im Landesgericht St. Pölten. Bereits zum zweiten Mal steht ein 15-jähriger türkischer Staatsbürger vor Gericht, ihm wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Als Zeugen sind tschetschenische Jugendliche geladen, die mit dem Angeklagten in regem Austausch über den sogenannten Islamischen Staat gestanden haben sollen. Schon einige Zeit zuvor warnt im Sommer 2014 die damalige Innenministerin vor österreichischen Dschihadisten, viele davon aus der tschetschenischen Bevölkerung. Gemessen an der tschetschenischen Gesamtbevölkerung (siehe Infobox) ist der Anteil radikalisierter Jugendlicher zwar sehr klein, in der dschihadistischen Szene nehmen sie aber einen prominenten Platz ein. Generell sind im syrischen Krieg auch einige kaukasische Gruppen auf teils verschiedenen Seiten aktiv. Das Deutsche Institut für Sicherheit und Internationale Politik stellt für 2014 zumindest vier militärische Gruppen fest, die von Tschetschenen angeführt werden und allesamt dem dschihadistischen Umfeld zuzurechnen sind. Das ist mit ein Grund, warum die Rekrutierung potenzieller Terroristen gerade in der tschetschenischen Community auf vergleichsweise fruchtbaren Boden fällt. Für den Politologen Thomas Schmidinger ist das allerdings nur einer von mehreren Aspekten. „Starke Stigmatisierung, Kriegstraumatisierung und dysfunktionale Familienstrukturen sind die Gründe für Anfälligkeit gegenüber Radikalisierung.“
Die tschetschenische Diaspora in europäischen Ländern bildete sich erst in den letzten 25 Jahren als Folge des ersten Tschetschenien-Kriegs nach Zusammenbruch der Sowjetunion. Zugrunde, so Schmidinger, liegt der Situation allerdings eine militärische Auseinandersetzung mit Russland, die im Großen und Ganzen bereits seit dem 18. Jahrhundert andauert. „Es geht hier um einen klassischen Kolonialkonflikt, der so lange bleiben wird, bis Russland sich aus der Region zurückzieht.“ Ein Befund, der wenig Anlass zur Hoffnung gibt.
Die aktuelle Situation in Tschetschenien ist zwar nicht mehr so prekär wie früher, funktionierende staatliche Strukturen fehlen allerdings und Korruption ist weiterhin ein Problem. Auch Präsident Ramsan Kadyrow, ein Vertrauter Putins, genießt in der Bevölkerung kein hohes Ansehen. Schmidinger weiter: „Der Konflikt hat sich teilweise auf Nachbarregionen verlagert, die verbliebenen Gegner des Regimes sind, nachdem säkulare Nationalisten weitgehend vertrieben wurden, islamistische Gruppen.“ Die Gesellschaft selbst sei durch dschihadistische und islamische Einflüsse konservativer als noch vor 20 Jahren, so der Wissenschaftler. Heimat braucht Perspektive
Das Fehlen effizienter staatlicher Strukturen in Tschetschenien wird auch von in Österreich lebenden Tschetschenen bestätigt. Zurück will fast niemand. Auch Magomed nicht. Der heute 21-Jährige ist mit acht Jahren aus Tschetschenien mit seinem Onkel und seiner Oma geflüchtet und hat in Österreich Asyl erhalten. Sieben Jahre danach sind Vater und Mutter nachgezogen. Nach drei Jahren sprach er gut Deutsch und besuchte Haupt- und Handelsschule, letztere brach er allerdings nach zwei Jahren wieder ab. Als Jugendlicher boxte er im Verein, heute arbeitet er für die Voest in Traisen und ist seit zwei Jahren mit einer Tschetschenin verheiratet. Seine Zukunft sieht er in Österreich, Tschetschenien biete ihm keine Perspektiven. Mit Vorurteilen hat auch er zu kämpfen. „Sobald jemand Tschetschene hört, heißts sofort, die sind alle radikal und religiös, aber wir sind nicht alle schuld, wenn ein paar nach Syrien fahren.“ Es seien auch in St. Pölten immer wieder dieselben, die Probleme machen würden. Dass der Bahnhof so in den Fokus gerückt ist, hat für Magomed aber pragmatische Gründe: „Das ist für viele einfach der Treffpunkt. Die haben nichts zu tun, treffen sich dann halt am Bahnhof und gehen dort spazieren.“ Er beschreibt sich selbst als religiös, besuchte auch den Islamunterricht, grenzt sich aber deutlich von radikaleren Strömungen ab. Respekt vor anderen sei das Wichtigste, wer das nicht einhalte, lebe für ihn nicht nach dem Islam. Dass seine Frau ein Kopftuch trägt, war sein Wunsch, sie hätten aber einvernehmlich entschieden. Der Umgang mit anderen Glaubensrichtungen ist für ihn kein Problem: „Ich beurteile andere nicht nach Religion. Wenn jemand gut zu mir ist, bin ich auch gut zu ihm.“
Mehmet Isik, Obmann des Islamischen Kulturvereins in der Herzogenburgerstraße, kennt die Probleme der Radikalisierung zumindest in seinem Verein nicht. „Radikalisierte findet man eher nicht in der Moschee. Von 264 Personen, die laut Innenministerium nach Syrien oder in den Irak gefahren sind, haben nur fünf Prozent eine Moschee besucht“, erklärt Isik. Fielen im Verein oder der Moschee radikalisierte Jugendliche auf, suche man das Gespräch, als letzter Schritt stünde theoretisch der Gang zum Verfassungsschutz. Angesprochen auf die tschetschenische Community führt er aus: „Tschetschenen besuchen die Moschee und verrichten ihre Gebete, bleiben aber eher zusammen. Kontakt zu anderen Gläubigen gibt es weniger.“ Zehn bis 15 Prozent macht ihr Anteil an den Besuchern aus. Kriminalität
Dass es auch in der tschetschenischen Community Probleme gibt, denen man sich stellen muss, damit hat Strafverteidiger Rudolf Mayer Erfahrungen gesammelt. Im Büro des Anwalts, der auch in einem Favoritner Boxclub aktiv ist, steht ein Foto des „Stiers von Serbien“, Edip Sekowitsch, ehemaliger Box-Weltmeister, der in Wien vor acht Jahren von einem Tschetschenen getötet wurde. Mayer war der Verteidiger im St. Pöltner Dschihadismus-Prozess Ende April und sieht Elemente des Islam durchaus kritisch. „Im Koran gibt es viele Suren, die zu Gewalt aufrufen. Die, die man dann radikal nennt, berufen sich ja genau auf das, was dort steht“, meint er. Auch der christliche Glaube, so der Anwalt weiter, hätte sich im Zuge der Aufklärung ja nur deshalb so entwickelt, weil davor eine Entmachtung der Kirchen stand – freiwillig hätte die sich nicht reformiert, schmunzelt er. In der tschetschenischen Community, in die er sowohl durch seine Arbeit als Anwalt, als auch durch den Boxverein Einblick hat, sieht er in punkto Religion gemischte Tendenzen. „Aber natürlich gibt es auch Radikale“, ist der Strafverteidiger überzeugt. Problematisch werde es, wenn der Glaube missionarischen Charakter annehme. Mayer wird oft generalisierend, wenn es um kulturelle Unterschiede geht, als Beispiel wieder der Boxclub: „Wenn ich zu einem Österreicher sag, streng dich an, sagt er ‚wozu?‘ Wenn ich das zu einem Tschetschenen sag, macht er statt zehn 50 Liegestütz bis ihm die Arme abbrechen“, meint er und spricht auch die Notwendigkeiten aufseiten der Aufnahmegesellschaft an. „Man erwartet immer, dass die Leute, wenn sie über die Grenze treten, ihre Religion, ihre Kultur und Lebensweise ablegen würden. Das ist naiv!“ Unterschiedliche Weltbilder seien ein Faktum, das es zu adressieren gelte, vom Gleichheitsanspruch hält er wenig. „Zu sagen: ‚Alle sind gleich‘, das ist absurd. Wenn ich unterschiedslos behandle, bekomme ich negative Resultate.“ Um Probleme zu bekämpfen, müsse ohne ideologische Scheuklappen unter großem finanziellen und personellen Aufwand an die Sache herangegangen werden.
Was den Vorwurf der überbordenden Kriminalität betrifft, so kann dieser übrigens nicht besätigt werden. „Im Jahr 2015 wurden in St. Pölten gesamt 2000 Tatverdächtige ausgeforscht, davon etwas mehr als 70 russische Staatsbürger, was einem Anteil von etwa 3,5% aller Tatverdächtigen entspricht. Nachdem ‚Tschetschene‘ keine Staatsbürgerschaft ist, werden sie unter Russische Föderation zusammengefasst“, erläutert diesbezüglich Oberst Markus Haindl von der Landespolizeitdirektion. Die Sache mit der Kultur
Auf kulturelle Unterschiede, vor allem auf das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, geht eine Sozialarbeiterin näher ein, die anonym bleiben möchte. „Wir haben in der tschetschenischen Bevölkerung, die wir betreuen, verschiedene Probleme. Zum einen gibt es die, die kein Vertrauen in den Staat haben und von daher Schwierigkeiten, sich der staatlichen Struktur anzupassen.“ Bei den gebildeteren Tschetschenen, so die Sozialarbeiterin weiter, gebe es dagegen andere Herausforderungen: „Wir haben beispielsweise einen Akademiker, der seine Ausbildung in Österreich nicht anerkannt bekommt und sich mit Hilfsarbeiterjobs über Wasser halten muss. Sowas frustriert natürlich.“
Viel beschäftigt ist sie naturgemäß auch mit sozialen Härtefällen, meist Männern ohne Ausbildung, die wenig Interesse an Integration zeigen und ihr gegenüber oft keinen Respekt haben. Das Geschlechterverhältnis ist generell ein großes Thema, in einigen Fällen werden Sozialtransfers mittlerweile den Frauen überwiesen, weil die Männer das Geld zuvor regelmäßig in Wettlokalen verspielt hätten. Oft, so schildert sie, würden Frauen von sich aus die Initiative ergreifen wollen und beispielsweise Deutschkurse besuchen. Ein Problem ist dabei, dass diese nur dann vom AMS genehmigt werden, wenn jemand dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung steht – bekommt eine Frau also Kinder, fällt sie für einige Zeit aus dem System und ist auch von Deutschkursen ausgeschlossen. Gerade in der tschetschenischen Community, in der vielfach das Rollenbild der Frau als Hausfrau und Mutter verbreitet ist, kann das zum Problem werden. Der Zwang ist dabei in einigen Fällen so groß, dass auch die Entscheidung Kinder zu bekommen nicht mehr von den Frauen getroffen wird, schildert die Sozialarbeiterin weiter. Einige der Betroffenen würden dann an helfende Stellen verwiesen, Scheidungen werden vereinzelt als letzter Ausweg wahrgenommen. Schon in der Kindererziehung ortet sie hier das Problem: „Die Burschen werden oft behandelt wie Könige, während Frauen für den Haushalt da sind.“
Der schwierige Zugang zu tschetschenischen Mädchen ist auch Obernigg bewusst. Im Steppenwolf wurde deshalb vor zwei Jahren ein spezieller Mädchentag eingeführt. Dass Jugendzentren generell aber eher von Burschen frequentiert werden, sei ein allgemeines Phänomen über alle Bevölkerungsgruppen hinweg. Die Zukunftsperspektiven schätzt Obernigg so ein: „Es wird eine Generation brauchen bis sich traditionelle Rollenbilder, die ja auch bei uns noch nicht so lange her sind, ändern. Bildungsangebote werden von den Mädchen bei uns aber sehr gut angenommen.“ Eine geschlossene Gemeinschaft?
Kommt man mit St. Pöltnern tschetschenischer Herkunft ins Gespräch, stellt sich bald eine große Offenheit und Gastfreundlichkeit ein, so ist es beispielsweise üblich, Gästen beim ersten Besuch in der Wohnung ein Geschenk zu überreichen. Die Auskunftsbereitschaft ist grundsätzlich ebenfalls da, Ansprechpartner der Familien sind zumeist die Männer. Was noch fehlt ist die institutionelle Verankerung der tschetschenischen Bevölkerung. Während es in St. Pölten islamische, türkische und alevitische Vereine gibt, die für Stadt und Öffentlichkeit als Ansprechpartner dienen, fehlen solche Strukturen in der tschetschenischen Community noch. Dietmar Fenz berichtet ebenfalls von Schwierigkeiten in der Anbahnung. „Wir versuchen jetzt die Treffen in den Jugendzentren zu forcieren und da regelmäßigen Kontakt aufzubauen.“ Vor zwei Jahren habe es auch Treffen mit Älteren gegeben, derzeit gibt es aber von Seiten der Stadt keinen Kontakt mehr. Oft müsse zu den Gruppenführern erst eine vertrauensvolle Beziehung hergestellt werden.
Am Beispiel des Bahnhofs erklärt Fenz die grundsätzlichen Aufgaben der Integrationspolitik: „Man muss ihnen da einfach sagen, wie das rüberkommt, wenn man in Gruppen vor den Eingängen der Geschäfte steht – das löst bei vielen halt ein ungutes Gefühl aus.“ Im Gedächtnis der Bewohner bleiben dann einzelne Vorfälle, die den Eindruck eines unsicheren Ortes schaffen. Da, wo der Kontakt besteht, funktioniert die Zusammenarbeit aber jedenfalls gut. Ohnehin meint Fenz, könne nur regelmäßiger Kontakt zu einer Verbesserung der Situation für alle beitragen. Hier wäre auch auf österreichischer Seite mehr Offenheit notwendig. An Sozialarbeiter wird vielfach herangetragen, dass es schwer sei Freundschaften mit Österreichern zu schließen, auch von den Jugendlichen im Steppenwolf wird das so bekräftigt. Magomed beschreibt es so: „Bei einer tschetschenischen Hochzeit ist es üblich, dass jeder einfach vorbeikommen kann, auch wenn er die Leute nicht kennt – alle dürfen kommen. Auf einer österreichischen Hochzeit war ich noch nie eingeladen.“
STATISTIK
Statistische Daten über die Tschetschenische Bevölkerung Österreichs sind schwer zu finden, weil meist nur nach Staatsbürgerschaft unterschieden wird. Der Politologe Thomas Schmidinger geht jedenfalls von einer Zahl von etwa 20.000-30.000 Personen aus, verglichen mit anderen europäischen Staaten ist das eine große Community, im Verhältnis zu anderen Bevölkerungsgruppen in Österreich aber sehr wenig.
Beim AMS St. Pölten sind laut Sprecher Thomas Pop mit Stichtag Ende April 173 Tschetschenen als arbeitslos vorgemerkt, davon 69 Frauen und 104 Männer. Die größten Herausforderungen sind laut AMS Sprachbarrieren und die Anerkennung vorhandener Ausbildungen. Für anerkannte Flüchtlinge hat das AMS deshalb sogenannte „Kompetenzchecks“ gestartet, die vorhandene Qualifikationen evaluieren und mögliche Weiterbildungsmaßnahmen aufzeigen sollen.