MFG - Tot ist nur, wer vergessen wird
Tot ist nur, wer vergessen wird


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Tot ist nur, wer vergessen wird

Text Michael Müllner
Ausgabe 11/2013

Wer sich seiner Realität stellen will, der wird dabei nicht um die Vergangenheit herumkommen. Wie wir in St. Pölten mit unseren jüdischen Erben umgehen, sagt viel darüber aus, wer wir sind. Zum Thema „Erinnerungskultur“.

Als die Juden St. Pölten (unfreiwillig) verließen, haben sie uns etwas dagelassen. Etwa den alten jüdischen Friedhof am Pernerstorferplatz, an den sich aber kaum jemand erinnert. 1859 wurde er eröffnet, 1906 wieder geschlossen, weil damals am (heutigen) Hauptfriedhof eine jüdische Abteilung eröffnet wurde. 1938 wurde der alte Friedhof dann von der städtischen Bestattung arisiert, sämtliche Grabsteine sind verschwunden, gut möglich, dass sie verkauft, abgeschliffen und neuerlich verwendet wurden. In Folge geriet die Wiese in Vergessenheit. Bis vor einigen Jahren, als der St. Pöltner Wissenschaftler Christoph Lind den alten Friedhof zu erforschen begann. Mit der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik wurden Geo­radar- und Magnetfeldmessungen durchgeführt. Heute weiß man, wo unter der Erde die Gräber liegen, wo die Gehwege angelegt waren. Diese unterirdische „Oberfläche“ soll in Form eines Kunstprojektes wieder sichtbar gemacht werden. Auch die Namen der dort bestatteten St. Pöltner sind bekannt, man könnte sie etwa am Standort der alten Zeremonienhalle wieder sichtbar machen. Die vergessene Wiese gehört heute der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG). Jüdische Friedhöfe sind, anders als christliche, nicht auflösbar. Der Grabstein, das Grab gehört den Toten – auf ewig. Nun verschwand von einem Augenblick auf den nächsten fast die gesamte jüdische Kultur in Folge der Massenvernichtung durch die Nazis. Die heutige IKG trat die Rechtsnachfolge der früheren jüdischen Gemeinden an, alleine im größten österreichischen Bundesland Niederösterreich sind so 30 Friedhöfe in das Eigentum und damit in die Verantwortung der IKG übergegangen. Kein Wunder, dass die Kultusgemeinde damit überfordert ist.
Keine Lösung.
Doch eigentlich gäbe es seit Jahren einen Lösungsansatz. Im „Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich“ stehen seit 2011 Budgetmittel bereit. Die IKG kann diese jedoch nur abrufen, wenn mit der Standortgemeinde für zumindest 20 Jahre eine Instandhaltungsvereinbarung geschlossen wurde. Es fließt also erst dann Geld in die Sanierung der Friedhöfe, wenn diese auch auf absehbare Zeit gepflegt und erhalten werden. Im Oktober einigte sich die IKG nun mit der Stadt Wien über die Instandhaltung der Jüdischen Friedhöfe in Wien. In St. Pölten steht diese noch aus, der jüdische Friedhof im hinteren Eck des städtischen Hauptfriedhofes verfällt langsam vor sich hin. Grabsteine drohen umzufallen, die Zeremonienhalle ist baufällig, die Friedhofsverwaltung nimmt die nötigsten Grasmäharbeiten unentgeltlich vor. Lösung ist das freilich keine.
Bürgermeister Matthias Stadler verweist darauf, dass es „keinen Vertragsentwurf“ der IKG für die beiden Friedhöfe gebe. Aus der IKG hört man, dass es zwar mehrere Gespräche gegeben habe, aber dass es nun seit rund einem Jahr still geworden sei. Einen Vertragsentwurf hat dagegen der österreichische Städtebund im April 2012 bereits an alle Mitgliedsgemeinden ausgeschickt. Bei entsprechendem Engagement scheint eine Einigung also rasch möglich, zumal auch die juristischen Fragen der Haftung in dem Vertragsentwurf bereits ausverhandelt scheinen.
Woran es nun in St. Pölten genau spießt, ist unklar. Vielleicht liegt der Schlüssel ja auch in einer größeren Lösung? Klar scheint, dass die IKG nicht jeder Gemeinde um eine Lösung nachlaufen kann. In St. Pölten bietet sich ein Doppelpack an: Einerseits eine Lösung für den bestehenden, derzeit vor sich hin verfallenden jüdischen Teil des Hauptfriedhofes, andererseits das engagierte Gedenkprojekt am Pernerstorferplatz.
Apropos Gedenken.
In St. Pölten gibt es nur ein einziges Denkmal für die jüdische Bevölkerung, jenes bei der Synagoge. Das scheint etwas abseits, weshalb Christoph Lind ein entsprechendes Denkmal an einem zentralen Ort der Stadt anregt: „Da würde St. Pölten kein Zacken aus der Krone fallen.“ Auch im Regierungsviertel würde sich Lind ein eigenes Denkmal für die ermordeten Juden Niederösterreichs wünschen, „immerhin lebten hier circa 8.000 Juden in 15 Gemeinden. Auch dem Land würde somit kein Zacken aus der Krone fallen. Das Groteske: Das einzige Denkmal, eine Stele mit den Namen der Opfer, steht in Jerusalem. Das ist doch ein bisserl weit weg…“
Wenn man schon bei Gedenktafeln ist, so drängt sich auch die Erinnerung an das Massaker in Hofamt-Priel auf. 223 erschossene jüdische Zwangsarbeiter wurden in einem Massengrab am heutigen jüdischen Friedhof beerdigt. Mittlerweile sind ihre Namen großteils erforscht, auf der Gedenktafel am Massengrab sind diese jedoch noch nicht angeführt. Als Beitrag zu einem würdigen Gedenken wäre dies aber ein wichtiger Beitrag. Bürgermeister Stadler verweist in dieser Frage, da es sich nicht um ein spezifisch städtisches Thema handelt, auf die Abteilung „Kunst im öffentlichen Raum“ des Landes NÖ.
Etwas präsenter wäre das Projekt „Stolpersteine“ (www.stolpersteine.eu). Dabei wird ein kleiner Gedenk-Pflasterstein in den Boden eingelassen, und zwar an jener Stelle, an der ein Opfer des Nationalsozialismus gelebt hat. Man könnte also einen derartigen Stolperstein am Eingang zum Wohnhaus eines NS-Opfers platzieren und so dem Menschen gedenken, der hier lebte, bis er verfolgt und vertrieben wurde. Die Grüne Gemeinderätin Nicole Buschenreiter hat das Projekt, das in vielen anderen Städten Europas bereits erfolgreich umgesetzt wurde, nun für St. Pölten angeregt und ist optimistisch: „Bürgermeister Stadler steht der Idee ausgesprochen positiv gegenüber, derzeit prüfen wir die Umsetzung und würden gerne mit dem Stolperstein für die Großmutter von Hans Morgenstern beginnen. Dafür hätten wir auch schon eine Genehmigung.“
Auf Anregung von Gunter Demnig, dem Initiator des Projekts, würde aber derzeit noch eine generelle Erlaubnis geprüft, um auch weitere Steine rasch umsetzen zu können. Bürgermeister Stadler bestätigt, dass die Umsetzung des Projektes derzeit geprüft wird und sieht darin „eine Möglichkeit von vielen, Verfolgungsopfern in eindringlicher Form zu gedenken, so wie wir es – stets in Zusammenarbeit mit dem Institut für jüdische Geschichte Österreichs – etwa in Form von Sonderführungen zum jüdischen St. Pölten oder auch in der derzeitige Ausstellung ‚Gott und Kaiser – 100 Jahre ehemalige Synagoge St. Pölten‘ tun.“
Dass es aber auch beim Gedenken nicht immer einstimmig zugeht, zeigt ein Blick in Online-Diskussionsforen oder auf den Wirtshausstammtisch. Als vor wenigen Wochen über die endlich erzielte Einigung zwischen IKG und Gemeinde Wien zur Instandhaltung der jüdischen Friedhöfe berichtet wurde, kamen auch „kritische“ Stimmen zu tage, wieso denn „wir alle“ für die Erhaltung der jüdischen Friedhöfe zahlen müsste. Das sollen doch die Hinterbliebenen machen. Angesichts der Hintergründe des Holocausts natürlich eine Diskussion, die sich von selbst erübrigt. Dass aber die „Unauflöslichkeit“ eines jüdischen Friedhofs an sich eine Frage ist, die eine Kommune beantworten muss, zeigt der Blick über den Tellerrand. Auch ohne Massenvernichtung und Holocaust gibt es auch in anderen Ländern jüdische Gemeinden, die sich stark verkleinert haben. Es gibt auch anderswo Friedhöfe mit Gräbern, die – nach zwei, drei oder mehr Generationen – eben keinen greifbaren Nachkommen mehr zugeordnet werden können.
In solchen Fällen gibt es eine pragmatische Lösung: Man betrachtet es als kommunale Aufgabe, dass diese Friedhöfe als Teil der gemeinsamen Geschichte und Kultur begriffen – und demnach auch gepflegt werden. Vielleicht schafft das St. Pöltner Rathaus ja in einem politischen Schulterschluss aller Fraktionen eine mutige Ansage und nimmt eine Vorreiterrolle in Sachen Erinnerungskultur ein? Ideen dafür gäbe es ja genug.