Unschuldsvermutung
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
Morgenstund hat Gold im Mund – und so flatterte an einem schönen (!) Maimorgen um 08:02 eine Aussendung der Stadt St. Pölten in die Redaktion, demnach der Bürgermeister Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet hat, weil „Unregelmäßigkeiten bei Behebungen der Stadtkasse festgestellt“ worden seien, kurzum Geld fehlt. Recht viel mehr war dem schlanken Fünfzeiler nicht zu entnehmen, dafür die Bitte um Verständnis angeschlossen, „dass bis auf weiteres keine zusätzlichen Stellungnahmen zu dieser Sachlage abgegeben werden.“
Was passiert aber, wenn man frei nach Enrico aus der legendären ORF-Kindersendung „Am dam des“ zu verstehen gibt, dass man zwar mehr weiß, aber – „ich sag niiiiiicht!“ – nicht mehr verraten will (kann)? Richtig, man stachelt erst recht die Fantasie an und öffnet Frau Fama, wie die alten Römer das Gerücht nannten, Tür und Tor. Über die wusste schon der griechische Astronom Achilleus Tatios: „Das Gerücht rinnt schneller als Wasser dahin, läuft schneller als der Wind, und fliegt schneller als irgendein Vogel.“ Haben wir doch alles in der Schule gelernt (okay, oder plump gegoogelt, ich gebs zu). Jedenfalls trudelten alsbald die nächsten Presseaussendungen ein, diesmal von den Oppositionsparteien. Die ÖVP etwa ließ wissen, dass sie eigentlich nichts weiß, weil sie erst gar nicht informiert worden war (Beleg für die traditionell transparente Politik der Mehrheitsfraktion SPÖ). Ihr Nichtwissen bestätigten auch die Grünen, was sie aber nicht davon abhielt, auf dieser fundierten Basis fußend dennoch so ganz nebenbei das Wort „Kontrollversagen“ einzustreuen. Und im Magistrat brodelte sowieso die Gerüchteküche, wer denn nun der oder die Täterin sein könnte. Zwar wurden keine eindeutigen Beschuldigungen erhoben, aber doch manch perfid-suggestive Andeutung gemacht. MFG wurden einige davon exklusiv zugespielt:
„Aha, do schau her. A neiche Rolex homa – und die Seinige rennt neuerdings mit ana echten Louis Vuitton umadum - da is wohl der große Reichtum ausgebrochen bei den Hubers...“
„Heast, die Maier fohrt schon wieder in Urlaub – des dritte Moi in dem Johr – des gibts jo ned. Des is scho a bissl eigenortig, findst ned?
„Host den Bichler mitn neichn Porsche gseng? Wie sie des bei dem sein Gehalt ausgehen soll, frog I mi a?“
„I hob mi scho immer gwundert, warum da Horowitz so a schorfe Kotz hot – I man, wegen seim schen Gsicht konns jo wohl ned sei …“
„Scho komisch. Die Frau Hilde, eigentlich a adrette Person, lauft immer im oidvaderischsten Gwand umadum, und in der Fruah kommts mit an Waffenradl in die Orbeit – I glaub, die hot was zum Verbergen und mocht nur so auf bescheiden, die Madame …“
„Host des gheat? Die Frau Bichler hat ihr Gasrechnung bezahlt – gleich fürs ganze Jahr! I man – wie geht‘n des?“
„Österreich, wie es singt und lacht“, oder „Wie der Schelm denkt, so ist er?“ Wie auch immer, mittlerweile soll bereits bekannt sein, wer die Gelder abgezweigt hat. Reue, vielleicht jemanden zu Unrecht verunglimpft zu haben, empfinden die Klatschtanten und -onkeln aber keine. „Na, ma wird jo bitte nu laut Nochdenkn dirfn – is jo ned persönlich! Außerdem komisch is des trotzdem, dass der Herr Peter …!“ Naja, lassen wir das.
Für alle Verdächtigten gilt selbstverständlich die Unschuldsvermutung.
Für alle „Verdächtiger“ … eher weniger!
Und bevor Sie sich jetzt den Kopf über meinen Tesla zerbrechen – Firmenauto!