MFG - Literarische Schlammschalcht
Literarische Schlammschalcht


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St. Pöltens gute Seite

Literarische Schlammschalcht

Text Thomas Fröhlich
Ausgabe 06/2008

St. Pölten, 16. Mai, gegen Mitternacht: Im bis auf den letzten (Fußboden-)Sitzplatz vollen Beislkino des Cinema Paradiso sprechen, rappen, flüstern, schreien, schimpfen und deklamieren seit etwa zwei Stunden elf Kandidaten von der Bühne aus in Richtung Publikum. Die Stimmung im Saal entspricht der eines guten (und lauten) Konzerts. Doch es ist keins. Was das jetzt soll, fragen Sie…?

Sie tragen Namen wie Skinfaxi, Djihad, Chill-Ill oder schlichtweg Eliza. Sie alle haben fünf Minuten Zeit, Selbstverfasstes an den Mann bzw. an die Frau zu bringen und – was noch wichtiger ist – eine vor Ort vom Moderatoren-Team Jessica Lind und Thomas Havlik ausgewählte Publikumsjury davon zu überzeugen, dass ihr Text der beste und ihre Performance die coolste von allen ist. Überziehen sie ihre fünf Minuten, ertönen Mark und Bein erschütternde Peitschenschläge, die der dreckig grinsende DJ durch die Lautsprecher jagt. Unter Applaus und Zurufen seitens des Publikums beurteilt die Jury per Hochheben von Zahlentafeln von 1 bis 10 das Dargebotene, dessen Qualität sich zwischen herausragend und unfreiwillig komisch einstufen lässt. Das Siegerduo erhält die von der Literarischen Gesellschaft (kurz: Litges) St. Pölten gestiftete Prämie von 100 Euro, Platz 2 und 3 ergattern vom Paradiso zur Verfügung gestellte Goodies.

Poetry Slam nennt sich das Ganze
Vor ein paar Jahren noch ein reines Underground/Subkultur-Phänomen, stellt Slam-Poesie in der Zwischenzeit ein vielleicht noch nicht offiziell anerkanntes, aber zumindest akzeptiertes literarisches Genre dar. Zum etablierten Literaturbetrieb verhalten sich Poetry Slams allerdings immer noch wie Anarcho-Punk zum anämischen Designer-Pop diverser Format-Radiostationen.
Chikago, irgendwann 1987, ziemlich spät (oder früh) in der Nacht: In einem kleinen Club macht sich der Arbeiter und Literaturfreak Marc Kelly Smith so seine Gedanken. „Mich interessierte vor allem der Umgang mit Sprache und die damit verbundenen Gefühle [...]. Was ich jedoch niemals verstehen konnte, waren die Art der Textvorträge und die Orte, an denen diese abgehalten wurden, [...] in der sterilen Atmosphäre eines nüchternen weißen Raumes [...] ohne Flair. Hier hinkte die Dichtkunst den von mir geliebten [...] Clubkonzerten um Meilen hinterher. Die Zeit machte neue Schritte einfach notwendig.”
Und Smith setzte diese Schritte: In Musikclubs organisierte er die ersten Poetry Slams überhaupt  – und zum ersten Mal ging man nicht mehr „zu einer Lesung”, sondern „auf eine Lesung”, so wie „auf ein Konzert”. Das von Smith entwickelte System war denkbar einfach: Eine Anzahl von acht bis zehn Poetinnen und Poeten versucht in per Losentscheid gezogener Reihenfolge das Publikum in seinen Bann zu ziehen, wofür jedem genau fünf Minuten Zeit zur Verfügung stehen. Die Möglichkeiten der Darbietung sind vielfältig: wütende Sozialkritik, verspieltes Wortverdrehen, nachdenkliches Flüstern, aggressives Schreien, traditionelles Reimeschmieden, Comedy, Satire und Rap: Erlaubt ist, was gefällt! Text UND Performance werden bewertet – verboten sind lediglich Kostümierungen, Accessoires und musikalische Darbietungen.
„Also, einerseits“, meint Moderator und Schriftsteller Havlik, „ist Poetry Slam ein Genre, wofür mitunter ganz spezielle Texte geschrieben werden, die in erster Linie dann im Slam-Umfeld funktionieren. Man kann Slam aber auch als Experimentierfeld nutzen, eigene Texte, die nicht extra dafür produziert wurden, vor einem Publikum auszuprobieren – das ist z. B. meine Herangehensweise. Und das Sammeln von Bühnenerfahrung ist auch wichtig für alle anderen Lesungen und Performances, die man so macht.“ Und Jungliteratin und Neo-Moderatorin Lind pflichtet ihm bei und erzählt: „Ich hab’ eigentlich immer schon geschrieben. Und beim Slam im E.G.O.N. vor zwei Jahren hab’ ich’s dann einmal ausprobiert vor Publikum. Man schreibt ja nicht nur für sich im stillen Kämmerlein.“
Vor allem im deutschsprachigen Raum veranstaltet inzwischen beinahe schon jede zweite mittelgroße bis große Stadt regelmäßig Slams, bei denen ein paar Hundert Zuschauer keine Seltenheit mehr sind.
In Österreich zählt neben Wien, Linz und Innsbruck definitiv St. Pölten zu den Slam-Hauptstädten. Begonnen hat dies im Jahr 2003 – mit Thomas Havlik und dem Schreiber dieser Zeilen (Vorsicht: unvermeidbares Eigenlob!), Thomas Fröhlich. Havlik, Redakteur der von der LitGes St. Pölten herausgegebenen Literaturzeitschrift „Etcetera“, hatte zu jenem Zeitpunkt den „LitArena-Literaturwettbewerb für AutorInnen bis 27” ins Leben gerufen, der im November 2003 in die feierliche Preisverleihung  in der NÖ Landesbibliothek mündete. Der damalige „Etcetera”-Redakteur Fröhlich richtete im Anschluss daran einen zwanglosen und reichlich improvisierten Ausklang ein, eine Open Mic-Nacht im E.G.O.N., die alle Interessierten dazu einlud, das Publikum über ein bereitgestelltes Mikro mit eigenen Texten zu unterhalten. Das Ganze fand überraschend regen Anklang und ermunterte die beiden, die St. Pöltner Ausgabe eines Poetry Slams zweimal pro Jahr in Serie gehen zu lassen. „Am Anfang war’s in St. Pölten gleichzeitig leicht und schwer, einen Slam zu machen“, erinnert sich Havlik. „Leicht, weil das Publikum hier, wenn’s einmal da ist, sehr locker ist, schwer, weil halt zu Beginn keiner wusste, was das soll. Wien ist da größer, da gibt’s für jede Subkultur eine Szene, die aber halt sehr unter sich ist.“ Lind ergänzt: „Dafür sieht man in St. Pölten bei jedem Slam neue Gesichter, die Szene ist offener, das ist ein Riesenanreiz, auch für einen selber.“
Und Slam-Gründungen schienen damals in der Luft zu liegen. Nach den ersten von Markus Köhle in Innsbruck organisierten Initial-Slams, den St. Pöltner Slams und dem „textstrom”-Kick Off Anfang 2004 von Diana Köhle und Mieze Medusa in Wien sprossen Slams bald allerorten. Und auch St. Pölten erfuhr mit dem von Köhle und Medusa gestalteten „Blätterwirbel”-Slam im Landestheater NÖ 2006 und den stimmungsvollen „Dosenslams“ in der Seedose 2007 gleich zwei Bereicherungen. 2007 wanderten auch Havlik und Fröhlich mit ihrem LitGes-Slam vom E.G.O.N. ins Cinema Paradiso, wo seitdem ein neues und breiteres Publikum gewonnen werden konnte. Und ebenfalls seit dem Vorjahr gibt’s den einmal im Jahr in Wien stattfindenden österreichweiten „Ö-Slam“, bei dem die jeweils Besten aus den Bundesländern antreten.

We are Slamily
Zudem wissen die diversen Gewinner der St. Pöltner Slams auch sonst zu reüssieren: Shooting Star Cornelia Travnicek z. B. oder Milena M. Flasar, deren Erstling kommenden Herbst erscheinen wird, Chill-Ill, HipHop-Hoffnung der Stadt abseits ausgelutschter Gangsta-Attitüden, oder eben Literatin Lind, die seit 2008 gemeinsam mit Havlik, dessen Roman in Bälde erscheinen wird, den Slam im Cinema Paradiso moderiert. Und dass es mittlerweile auch einen florierenden Slam-Tourismus der liebevoll als „Slamily” bezeichneten Gemeinschaft gibt, erhöht zwar den Konkurrenzdruck vor Ort, was aber – in gegenseitigem Respekt – durchaus befruchtend wirkt. „Man kennt einander“, so Lind, „lernt von einander, kriegt so einen Kick, sich vielleicht einmal auch was anderes zu trauen.“
Poetry Slams sind also (beinahe) im Mainstream angekommen – und Havlik gibt auch zu bedenken: „Es geht derzeit ein bissl in Richtung Fun-Kultur. Es besteht die Gefahr, dass Slammer einfach als Unterhalter oder Animateure vereinnahmt werden. Da muss man sich schon was überlegen, man selbst zu bleiben.“ „Sicher, Underground hat immer was Charmantes“, kontert Lind, „aber es ist so ähnlich wie mit manchen Indie-Bands: nur weil sie plötzlich erfolgreich sind, sind sie jetzt deswegen nicht zwangsläufig mies. Bekannt sein an sich ist ja nichts Verwerfliches. Muss ja nicht gleich in Richtung Starmania gehen.“
Beide sind sich allerdings einig: „Der österreichische Literaturbetrieb ist immer noch dermaßen trocken, da sind Slams einfach befreiend!“
Und die St. Pöltner Slammer haben nicht zuletzt eins unter Beweis gestellt: dass es auch in dieser Stadt möglich ist, spannenden künstlerischen Entwicklungen nicht hinterher zu laufen, sondern diese lustvoll mitzugestalten.
Literatur ist fad. Sagt wer?