MFG - Der verhängte Diktator
Der verhängte Diktator


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St. Pöltens gute Seite

Der verhängte Diktator

Ausgabe 05/2012
Die Prandtauerkirche im Herzen St. Pöltens direkt neben dem Rathaus in der Prandtauerstraße gelegen ist an diesem Montagmorgen so leer wie eine Spendenbüchse für Muammar al-Gaddafi und seine Familie. Gelegentlich verirren sich ein paar verschwitzte, Abkühlung suchende Touristen sowie der eine oder andere Kirchendieb in den frühbarocken Kirchenraum, dessen jetziges Inventar erst nach 1945 nach und nach zusammengetragen worden ist. An Feiertagen werden dort lateinische Hochämter nach dem Ritus von 1965 gehalten, werktags ebenfalls lateinische Stillmessen im Ritus von 1962. Auf der Homepage der Prandtauerkirche gibt es ellenlange Predigten über die Erbsünde, den Ablass und gegen die Freimaurer, aber auch „Anweisungen“ zur „Haltung beim Gottesdienst“. Gelegentlich werden in der Kirche auch Vorträge mit Titeln wie etwa „Der Selige Kaiser Karl und die Verehrung des heiligsten Herzen Jesu“ gehalten.
Die Prandtauerkirche hat mit dem berühmten St. Pöltner beziehungsweise niederösterreichischen Barockbaumeister Jakob Prandtauer nichts zu tun. Bestenfalls war er in den Jahren ihrer Errichtung als Hauskirche des angrenzenden, von der Fürstin Maria Antonia Josepha Montecuccoli gestifteten Karmeliterinnenklosters, also von 1708 bis 1712, als lokaler Bauleiter tätig und hat möglicherweise ein paar Details des wahrscheinlich von den karmelitischen Ordensarchitekten Martin Wittwer und Mathias Steinl gezeichneten Bauplanes weiterentwickelt, aber auch das ist nur durch kunsthistorische Vergleiche sprich durch gelehrte Spekulationen belegt. 1782 wurde das Karmeliterinnenkloster, das sich im Gegensatz etwa zum St. Pöltner Schulorden der „Englischen Fräulein“ von Mary Ward nur auf das Gebet, auf die innere, spirituelle Einkehr seiner Bewohnerinnen und auf sich selbst konzentriert hatte, von Joseph II. aufgehoben. Die Gebäude wurden säkularisert. Die Prandtauerkirche wurde in eine Kaserne umgewandelt und vor allem als Magazin für Ausrüstung und Waffen verwendet. Ab 1876 hieß die Obere Rathausgasse, in der die Kirche gelegen ist, Kaserngasse. In der Zeit des Ständestaates wurde der Sakralbau vom österreichischen Bundesheer der Diözese St. Pölten rückerstattet und von Bischof Michael Memelauer am 25. November 1934 neu geweiht. Einige Jahre zuvor war die Kaserngasse schon in Prandtauerstraße umbenannt worden, wohl aus Anlass des zweihundertsten Todestages des berühmten Barockbaumeisters. Der neuen Kirche mangelte es nicht nur an Pfarrkindern, sondern auch an kirchlich-religiösem Inventar. Sie wurde daher kirchenrechtlich nur als Filialkirche eingestuft und der alteingesessenen St. Pöltner Stadtpfarre der Franziskaner unterstellt, deren Zentrum beziehungsweise Pfarrkirche sich nur ein paar Steinwürfe entfernt am nördlichen Ende des Rathausplatzes befindet. Ein Kirchenrektor, der sich vor allem um die zu vervollständigende Ausstattung der Prandtauerkirche zu kümmern hatte, wurde bestellt. Nach den Plänen des St. Pöltner Architekten Rudolf Wondracek wurden eine neue Orgelempore eingezogen, die nordseitigen Fenster zugemauert und ein Kunststeinfußboden gelegt. 1940 wurden Deckenfresken in Auftrag gegeben und in der Folge auch großformatige Apostelbilder für die Wände beschafft. 1947 wurden Kirchenbänke angeschafft und 1949 eine neue Kanzel errichtet. 1961 kam es zu Aufstellung eines barocken, auf einem Entwurf von Johann Lucas von Hildebrandt basierenden Säulenaltares, der aus Schloss Harrach in Aschach an der Donau stammte, bis heute wohl das kunsthistorisch bedeutendste Objekt dieses Kirchenraumes. 1962 wurde ein Tabernakel angekauft, 1973 die Orgel ausgebaut. In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre wurde der aus Vorarlberg stammende, theologische Berater des umstrittenen Bischofs Kurt Krenn zum Kirchenrektor der Prandtauerkirche bestellt. 1999 ließ dieser zur Freude der St. Pöltner ein elektronisches Läutwerk mit Glockenspiel installieren. 2006 gab er „zur Ausschmückung des Altarraumes“ ein fast schon monumentales Altarbild in Auftrag. Die deutschen Künstler Manfred Stader und Edgar Müller, die auch als Straßenmaler tätig waren beziehungsweise sind, malten die Allegorien der drei göttlichen Tugenden und eine bildnerische Darstellung der Geschichte der Kirche auf riesige Leinwände im Format zehn mal sechs Meter, die neben und über den barocken Hildebrandtschen Altar angebracht wurden. Dabei wurden nicht nur die ursprüngliche Kirchenstifterin Fürstin Montecuccoli, sondern auch Kanzler Engelbert Dollfuß und Bischof Michael Memelauer quasi als sekundäre Kirchenstifter des Jahres 1934 verewigt. Motiv für die späte Ehrung von Österreichs bis heute umstrittensten Kanzler - für die einen ein Märtyrer, für die anderen ein Mörder, für die einen ein Opfer, für die anderen ein Täter, für die einen ein Widerstandskämpfer, für die anderen ein Diktator, für die einen eine hehre Lichtgestalt, für die anderen nichts als ein Klerikalfaschist mit Blut an den Händen - laut dem aus Vorarlberg stammenden Kirchenrektor: „aus Dankbarkeit“. In St. Pölten wurde das Fresko sofort als „Verherrlichung des Austrofaschismus“ interpretiert und sorgte für heftige Kritik nicht nur in den Lokalblättern. Vor der Prandtauerkirche begannen zur Zeit des sonntäglichen Gottesdienst kleine Gruppen von jugendlichen Demonstranten aufzumarschieren. Am Nachmittag des 12. Februar 1934 wurden alle wesentlichen sozialdemokratischen Führungspersönlichkeiten St. Pöltens bis auf den Vizebürgermeister Ferdinand Strasser und einen weiteren Funktionär verhaftet. Starke Gendarmerie- und Heimwehrkräfte besetzten am Morgen des 13. Februar das Arbeiter- sowie das Kinderfreundeheim, das Verbandssekretariat der Metallarbeiter und den Vorwärts-Verlag. Bundesheereinheiten gingen an neuralgischen Punkten des Stadtgebietes in Stellung. Ein Aufruf Strassers zum lokalen Generalstreik blieb unbeachtet, nur in drei St. Pöltner Großbetrieben wurde die Arbeit niedergelegt. Gemeinsam mit dem Stattersdorfer Bürgermeister und Schutzbundkommandanten Johann Wohlfahrter und der St. Pöltner Gemeinderätin Maria Emhart, die am 13. Februar aus Wien zurückgekehrt war, versuchte der St. Pöltner Vizebürgermeister, der auch SDAP-Parteisekretär war, den militärischen Widerstand des schlecht bewaffneten und wohl auch schlecht organisierten Schutzbundes zu entfachen. „Maria Emhart beauftragte Leopold Mühlmann nach Mitternacht in der Au nach vergrabenen Waffen zu suchen. Diese waren allerdings bereits stark verrostet und daher unbrauchbar. Weiters mobilisierte Emhart über die Jugend die Schutzbundführer. Im Einquartierungshaus wurden Eierhandgranaten abgefüllt und in Kinderwägen erfolgte der Transport in die Au. Emhart veranlasste auch die Ausgabe von Waffen, mobilisierte einen Schutzbündler, der das Maschinengewehr bedienen konnte, und erlebte schließlich auch die ersten Verwundeten“, ist beim St. Pöltner Historiker Siegfried Nasko nachzulesen. Dabei blieb es aber nicht, schnell hatte der Schutzbund die ersten Gefallenen zu beklagen, während es auf Seiten von Heimwehr, Bundesheer und Polizei/Gendarmerie ‚nur‘ zu Verwundungen kam. Bis 16. Februar 1934 dauerten die Gefechte an verschiedenen Punkten des Stadtgebietes an. Letzten Endes erwies sich aber der St. Pöltner Schutzbund als eklatant zu schwach, um auch nur den geringsten militärischen Erfolg für sich verbuchen zu können. Bald waren hunderte sozialdemokratische Kämpfer, darunter auch Maria Emhart, gefangen genommen, der Rest flüchtet sich wohl in die heimatlichen vier Wände, um dort einer eventuellen Verhaftung entgegen zu zittern. Ferdinand Strasser gelang die Flucht nach Krems und dann weiter in die Tschechoslowakei. Am Abend des 16. Februar wurde die beiden Gölsentaler Schutzbündler Viktor Rauchenberger und Johann Hoys, die ein St. Pöltner Standgericht an diesem Tag zum Tode verurteilt hatte, im Hof des St. Pöltner Kreisgerichtes am Schießstattring mittels Würgegalgen exekutiert. „Schutzbündler legten am frischen Grab rote Blumen nieder, worauf Hoys und Rauchenberger im Auftrag der Polizei exhumiert und verlegt wurden“, weiß Siegfried Nasko zu berichten. Josef Wohlfahrter nahm in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1934 an Gefechten beim St. Pöltner Alpenbahnhof teil und dürfte sich auch am Angriff des Schutzbundes gegen das Elektrizitätswerk in der Jahnstraße beteiligt haben. Auf jeden Fall wurde seine Leiche in den Mittagsstunden des 14. Februar in der Traisenau östlich der Meuserfabrik mit einem Kopfschuss durch das rechte Auge aufgefunden. Obwohl im Zuge der Obduktion im St. Pöltner Krankenhaus eindeutig festgestellt wurde, dass es sich um einen Fernschuss aus einem Mannlicher-Gewehr handelte, musste der Obduktionsbefund auf Druck der Behörden auf Selbstmord durch Schuss in den Mund abgeändert werden. An Wohlfahrters Begräbnis am 17. Februar durften nur seine Witwe und seine zwei Kinder teilnehmen, ganz Stattersdorf war von der Gendarmerie zerniert. 1992 machte der St. Pöltner Historiker Karl Gutkas den St. Pöltner Mühlenbesitzer, Bauernbundpräsidenten und Politiker der Zwischenkriegszeit Josef Zwetzbacher als mutmaßlichen leiblichen Vater von Engelbert Dollfuß aus, der ja bekanntlich 1892 als sogenanntes ‚lediges Kind‘ von der Bauerntochter Josepha Dollfuß geboren worden und bei seinem Ziehvater Leopold Schmutz im niederösterreichischen Kirnberg aufgewachsen ist: „Tatsächlich würde manches auf die Stichhaltigkeit des Gerüchtes hindeuten, auch die Ähnlichkeit im Aussehen. Die Mutter von Dollfuß war zur fraglichen Zeit Dienstmagd, [...]. Dann gibt es eine Reihe von Zufällen im weiteren Leben von Engelbert Dollfuß. Das für einen Bauernbuben aufwendige Studium in Hollabrunn (besonders nach dem Misserfolg im ersten Jahr) wurde nicht von den Eltern bezahlt: In der offiziellen Biographie und nach seiner eigenen Aussage fand er dafür Gönner, die spätere Förderung durch den Bauernbund deutet auch in diese Richtung. Die spontane Einstellung als Sekretär [des Niederösterreichischen Bauernbundes; M. W.], wie sie Josef Sturm später schildert, ist ebenso auffällig wie die Aktivitäten des Bauernbundes, einem unbemittelten Studenten das Studium in Berlin zu ermöglichen.“ Dieser Ökonomierat Josef Zwetzbacher war eine schillernde Figur im Niederösterreich der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er wurde 1874 in der damals noch nicht nach St. Pölten eingemeindeten Ortschaft Wagram als Spross einer wohlhabenden Mühlenbesitzerdynastie geboren und sollte es bis zu einem der profiliertesten christlich-sozialen Politiker der Ersten Republik bringen. 1894 übernahm er den elterlichen Mühlbetrieb. Nach seiner Heirat 1901 war er ab 1908 Landtagsabgeordneter und leistete von ab 1914 bis 1918 Kriegsdienst, unter anderem als Oberleutnant einer Gebirgsbrigade in den Julischen Alpen. Von 1918 bis 1919 war er Bürgermeister der St. Pöltner Nachbar-Ortschaften Stattersdorf, Ober- und Unterwagram, die damals noch eine eigene politische Gemeinde bildeten. Ab 1921 war er Landeshauptmann-Stellvertreter von Niederösterreich, ab 1922 auch erster Präsident der NÖ Landes-Landeswirtschaftskammer, ab 1923 Direktor der NÖ Bauernbank und Mitbegründer der 1. NÖ Brandschaden-Versicherung. Nach dem Zusammenbruch der NÖ Bauernbank 1925 ging er abrupt aller seiner Ämter verlustig. Erst 1934 wurde er zum Präsidenten der Wiener Produktenbörse ernannt und erhielt einen Sitz in der Verwaltungskommission der Österreichischen Bundesbahnen. Die These von Gutkas wurde vom St. Pöltner Lokalhistoriker Alois Eder 1997 noch einmal aufgenommen, fand aber sonst kaum Beachtung. Im Jänner 2007 wurde das Dollfuß-Altarbild in der Prandtauerkirche, dem der St. Pöltner Diözesankonservator Johannes Kronbichler zuvor bescheinigt hatte, dass es sich „sicher nicht um ein großes Kunstwerk“ handle, verhängt. Übrigens hatte auch das Denkmalamt nur wenig Freude mit der neben und hinter dem barocken Altar des Lukas von Hildebrandt aufgebrachten Malerei von Manfred Stader und Edgar Müller gezeigt, der Altar werde durch das neue Riesengemälde „stark beeinträchtigt“, hieß es. Wenig später wurden die Leinwände von der Wand rechts und links vom Altar abgenommen, nur die drei göttlichen Tugenden oberhalb des Hildebrandtschen Meisterwerkes blieben hängen. Zuvor hatte sich laut Kathpress Diözesanbischof Klaus Küng wegen der anhaltenden Proteste „aus seelsorglichen Gründen“ „für eine andere Lösung“ ausgesprochen, obwohl das Altarbild „keinerlei politische Botschaft“ enthalte und auch „keine Beurteilung der Vorgangsweise im Ständestaat“ beabsichtigt gewesen sei. St. Pölten locuta, causa finita. Vor der bischöflichen Entscheidung hatte der Kirchenrektor der Prandtauerkirche das umstrittene Werk noch verteidigt. Bevor er das Werk in Auftrag gegeben habe, so der Kleriker, habe er „sein Vorhaben ordnungsgemäß den zuständigen Stellen des Ordinariats vorgelegt.“
Nur auf der Homepage des deutschen Künstlers Manfred Stader ist für Dollfuß-Fans die Welt noch in Ordnung, dort prangen jede Menge Fotos des ehemaligen Altarbildes der Prandtauerkirche mit dem kleinen Diktator in der Kaiserjäger-Uniform.