Das ist nicht nichts
Text
Andreas Reichebner
Ausgabe
Schon vor 7.000 Jahren fanden Menschen St. Pölten als interessanten und perfekten Ort zum Leben, der er ja auch heute noch immer ist. Das zeigen die wissenschaftlichen Ausgrabungen – nicht nur am Domplatz. Auch wenn viele Einheimische dieses Faktum weitgehend negieren, weiß es Stadtarchäologe Ronald Risy aufgrund seines intensiven Blickes in die Vergangenheit ein bisserl besser.
In der Ausstellung „Von Steinen und Beinen“ im Stadtmuseum, die uns die Stadthistorie, speziell am Domplatz, auf eine lebendige und spannende Art und Weise näherbringt, sind viele bemerkenswerte Fundobjekte zu sehen und die Erkenntnisse aus den wissenschaftlichen Arbeiten rund um die zehnjährigen Ausgrabungsarbeiten fundiert dokumentiert.
Seit 5.000 vor Christus ist das Gebiet von St. Pölten besiedelt. „Die Menschen hätten sich nicht niedergelassen, wenn es hier nicht so schön wäre“, erzählt Ronald Risy enthusiastisch, „es sind immer gerne Leute hergekommen, das ist nicht nichts.“ Dieses freudvolle Engagement braucht es auch, wenn Risy seiner Aufgabe als Stadtarchäologe, der sich im Spannungsfeld zwischen Denkmalamt, Grabungsfirma und Bauherrn befindet, nachkommt. „Es gibt keine Schnittmenge zwischen diesen Positionen. Die Grabungsfirma möchte Geld verdienen, die Bauherren möglichst wenig Geld und Zeit verlieren“, so Risy. Und dem Denkmalamt liegt eine minutiös wissenschaftlich dokumentierte Historienaufarbeitung am Herzen. „Für mich war und ist es eine Art Traumberuf, obwohl es immer belastender wird“, reüssiert der in die Vergangenheit Blickende. Deshalb ist er besonders angetan von der derzeit im St. Pöltner Stadtmuseum laufenden Ausstellung „Von Steinen und Beinen. Die wechselvolle Geschichte eines Platzes, der keiner war“. Sie dokumentiert und präsentiert die Ergebnisse und Erkenntnisse aus einer zehnährigen Grabungstätigkeit am Domplatz.
Im 3D-Modell ersteht die römische Stadt
„Aufgrund des Kulturjahres und der Tangente haben wir mehr Geld zur Verfügung und zusätzlich auch die Möglichkeit, 3D-Modelle, etwa von der römischen Siedlung zu erstellen. Wir zeigen da sehr anschaulich, wie eine römische Stadt, deren Teile wir am Domplatz bei den Grabungen entdeckten, ausgesehen haben könnte“, freut sich Risy über die gelungene Ausstellung, „wir haben schon sehr gutes Feedback bekommen.“ Schon vor Beginn der Ausgrabungen hatte Risy das Gefühl, am Domplatz einiges zu finden. „Ich habe gespürt, dass da etwas drinsteckt.“ Deshalb ließ er sich auch 2010 von der Universität karenzieren und steckte seine ganze Kraft in die St. Pöltner Stadtarchäologie. „Einer meiner Höhepunkte während der Ausgrabungsarbeiten war dann die Entdeckung des römischen Verwaltungspalastes.“ Der Statthalterpalast aus der Spätantike weist auf die besondere Bedeutung von Aelium Cetium als Provinzhauptstadt hin. Damit muss die Geschichte St. Pöltens in der Römerzeit neu geschrieben werden. „Auch die Entdeckung des mittelalterlichen Friedhofes, der zurzeit mit 22.424 Skeletten als größtes anthropologisches Bioarchiv gilt, war sensationell. So etwas hat niemand anderes.“
Das zeigt auch das große Interesse der internationalen Forschung an den St. Pöltner Domplatz-Ausgrabungen. An das berühmte Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig wurden 75 Proben, speziell Zähne und Teile von am Ohr liegenden Felsenbeinen aus den Sammelgräbern geschickt. „Dort arbeitet mit Prof. Dr. Johannes Krause ein absoluter Experte für evolutionäre Anthropologie. Der Archäo- und Paläogenetiker hat mit seinem Team in 25 unserer Proben den schwarzen Tod, den Pesterreger festgestellt. Krause war auch bei den Untersuchungen des Ötzi und der Lucy dabei. So ein großes Sample gab es noch nie“, weiß Risy um die Wichtigkeit der St. Pöltner Funde und deren wissenschaftliche Bearbeitung. Umso mehr freut es Risy, dass der Archäogenetiker weitere 500 Proben angefordert hat, deren naturwissenschaftliche Untersuchungen keine Kosten heraufbeschwören. Das spiegelt die enorme Bedeutung des Materials aus St. Pölten wider, anhand dessen die Forschergruppe aus Leipzig die Entwicklung der Pesterreger nachvollziehen können. So ergeben sich wertvolle Erkenntnisse über die Mutation von seuchenauslösenden Krankheitserregern, die ebenso für die aktuelle Forschung, wie beispielsweise beim Kampf gegen Covid, wesentlich sind. Zudem fand man auch den Beweis an den Knochen, dass die Geschlechtskrankheit Syphilis nicht aus der Neuen Welt kam, sondern bereits vor Columbus in Europa existierte. Tja, nicht alles aus der Geschichte hat einen positiven Hintergrund. Risy weiß natürlich, dass jede neue Erkenntnis aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit auch neue Fragen aufwirft. „Unsere Schau im Stadtmuseum zeigt den jetzigen Wissensstand. Wir müssen weiterhin die Funde aufarbeiten. Dabei verändert sich das Bild ständig, es ist allein mit den Ausgrabungen nicht vorbei.“ Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist für ihn unabdingbar: „Wir könnten so viel aus der Geschichte lernen, etwaige Fehler nicht mehr machen.“
Es fehlt das Verständnis
Darum konnte er auch nicht viel Verständnis aufbringen, als zu Beginn der Grabungen am Domplatz Leute am Zaum standen und schimpften, Wörter wie „Grabschänder“ und „pietätlos“ noch die weniger unfreundlichen waren. „Das ist ein generelles Phänomen unserer Zeit. Ich habe etwa zu klassischer Musik keinen Bezug, aber ich würde nie darüber schimpfen“, wundert sich Risy über so manche Wissenschaftsfeindlichkeit. Bauchweh und schlaflose Nächte hat er ohnedies, wenn es wieder ans Ausgraben geht, weil er irgendwie versteht, „dass viele Bauherren keine Freude damit haben.“ Aber Risy hat sich trotzdem einen guten Ruf in der Stadt geschaffen, weil er alle gleich behandelt und keine Unterschiede zwischen den einzelnen Bauträgern macht.
Betrachtet man die Ausstellung im Stadtmuseum wird einem sehr bald klar, wie fruchtbar eine historische Auseinandersetzung ist. Bei „Von Steinen und Beinen“ reist man durch Zeitportale, blickt auf die Idealrekonstruktion der römischen Stadt mit einem erstmals zu besichtigenden Geländemodell und erlebt das mittelalterliche Kirchenensemble am Domplatz mit Andreaskapelle und Leutkirche. Viele Mitmachstationen für Jung und Alt bereichern die spannende Schau. Im Labor bekommt man Einblicke in naturwissenschaftliche Ergebnisse, die viel von den Lebensbedingungen der St. Pöltner Bevölkerung erzählen, und nicht zuletzt sind auch bedeutende Funde wie die sogenannte „Hexe“ zu sehen. „Die Hexe, wie wir sie genannt haben, ist ein tragbares Beleuchtungsgerät aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, zu der es keine Parallelen in der Literatur gibt. Sie wurde in der Latrine gefunden, hat einen dämonischen Charakter, da ein Auge rotgefärbt ist, hat weibliche wie sowohl tierische Züge – ein ganz besonderes Stück. Das gibt es derzeit nur in St. Pölten zu sehen“, ist der Stadtarchäologe stolz auf die Ausgrabungsarbeiten und die Konzeption und das Bemühen des Ausstellungsteams.
Ein Teil der Schau widmet sich auch der früheren Wiederverwendung von Baumaterial. Der letzte Raum des ersten Abschnittes über „die Steine“ zeigt das umfangreiche Fundmaterial aus einem freigelegten Klostertrakt, das ein Blitzlicht auf das Leben im mittelalterlichen Kloster wirft.
Mixed Reality lässt Gotteshäuser wiederauferstehen
Als zusätzliches Highlight kann ein virtuelles Erlebnis im Rahmen einer Zeitreise am Domplatz gebucht werden. Ausgestattet mit Mixed-Reality-Brille betritt man am Domplatz die virtuell wiederaufgebaute Andreaskapelle, die Leutkirche und hat die spätromanische Fassade der Klosterkirche vor Augen. „Wenn man da so auf die Balustrade, die Empore raufgeht, glaubt man, dass man auch runterfallen kann“, erzählt Ronald Risy über seine Erfahrung mit der virtuellen Realität am Domplatz. Dabei war zu Anfang noch nicht sicher, wie das umzusetzen war: „Als Kulturamtsleiter Alfred Kellner die Idee, etwas zu machen, was es noch nicht gibt, hatte, waren die VR-Brillen sehr teuer und die genaue Umsetzung technisch noch nicht machbar, aber die Zeit hat es gerichtet und 7_reasons haben mit Hilfe von uns und von Bauforschern das wunderbar digital in die 3. Dimension umgesetzt. Wenn man sich bewegt, tritt die reale Welt in den Vordergrund, steht man, nimmt die virtuelle Welt den Raum ein.“ So taucht man in die spätmittelalterliche Welt am Domplatz ein, erlebt längst verfallene Bauwerke in ihrem Inneren.
Auch ein Film wurde über die sensationellen Funde, die unter dem Domplatz hervorkamen, gedreht. „Nekropolis. Das Geheimnis der größten Knochensammlung der Welt“ von Alexander Millecker widmet sich den erstaunlichen Ergebnissen aus den Ausgrabungen, aber auch den vielen Fragen, die sich dadurch der Wissenschaft stellen: Wurden Rituale hier vollzogen, die auf Okkultismus und Aberglauben fundieren? Haben die Archäologen am Domplatz eine Priesterin ausgegraben?
Wie formuliert es der Regisseur treffend: „Es heißt ja, wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen. Unser Film erzählt die Geschichte von Menschen, die ihr Leben dem Ziel gewidmet haben: die Vergangenheit besser kennenzulernen und zu verstehen. Mein Respekt vor diesen WissenschaftlerInnen könnte nicht größer sein. Denn in Zeiten zunehmender Faktenresistenz und in einem Land, in dem die Wissenschaftsfeindlichkeit vergleichsweise hoch ist, ist ihre Arbeit wichtiger denn je.“
Ja, am Domplatz war über die Jahrhunderte einiges los, aber eine Art Platz war er erst im 19. Jahrhundert. „Der Friedhof wurde 1779 aufgehoben, 1784 dann die Andreaskapelle abgetragen. 1830 bis 1860 wurde er erstmals eingeebnet – es gab eine oberflächliche Bewässerung – in den 20er-, 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde er betoniert, ab den 70ern fungierte er als Parkplatz. Seit 2023 ist er autofrei“, gibt Risy einen kurzen Überblick über das Werden des Domplatzes. Denn davor war er dicht verbaut.
Aber der Stadtarchäologe, der lieber in der Römerzeit als im Mittelalter gelebt hätte, schaut auch gerne in die Zukunft, wo ihm zwei Visionen vorschweben. Die Idee, mithilfe moderner Architektur das römische Badehaus am Domplatz und damit einen Teil der Ausgrabungen sichtbar zu machen, wird sich nicht mehr ausgehen, aber vielleicht die Vision eines modernen Beinhauses in Form eines Buches am Stadtfriedhof. Dort könnte man der vielen Domplatz-Toten mit einem Andachtsraum, Laborraum und einem Vermittlungsraum gedenken.
ARCHÄOLOGISCHE UNTERSUCHUNG
Dauer: August 2010 – November 2019
Untersuchungsfläche: 5.638,50 m²
• 900 Jahre Friedhof
• 975 Bananenkartons Fundmaterial (ohne menschliche Knochen)
• 2.985 Münzen
• 6.759 t händisch bewegtes Erdmaterial
• > 11.888 Kleinfunde
• 22.424 Skelette
• 33.849 Befunde
• ca. 300.000 Einzelfunde
• > 400.000 Fotos
• 1.060.000 Messpunkte
• 4.490.000 Megabyte Datenmenge (ohne RAW-Daten)
INFO
„Von Steinen und Beinen. Die wechselvolle Geschichte eines Platzes, der keiner war“
Stadtmuseum St. Pölten.
Bis 2. November 2025.
Mittwoch bis Sonntag 10–17 Uhr.
Workshops und Vermittlungsangebote:
Zeitreise am Domplatz – Virtual Reality-Erlebnis: