Chicken
Text
Althea Müller
Ausgabe
Ich heule ganz fürchterlich. Gottseidank kommt Silvia vorbei, um mich zu trösten. „Was ist?“ fragt sie, während sie auf meinem Couchtisch alles ausbreitet, was sie für den Nachmittag braucht: Nagellack. Sil ist eine praktische Person. „Ach“, schniefe ich, „es ist nur – wusstest du, dass Johnny Depp und seine Vanessa ‚One’ von U2 gecovert haben? Auf dem Klavier?“ – „Nein. Aber ich muss mich gleich übergeben“, sagt Sil, ohne die Miene zu verziehen. „Und dann dieser Film. ‚Kaffee, Milch & Zucker’. Drei Frauen helfen sich gegenseitig aus der Bredouille und am Ende stirbt-stirbt-stirbt“, ebbt meine Erzählung in lautem Schluchzen ab. „Hast du Besuch von der Naweißtehtante?“, fragt Sil, während sie sich auf den perfekten Anstrich konzentriert, „oder ist das nur wieder eine deiner nervtötend rührigen Phasen?“ – „Phase“, weine ich, jetzt leiser, „und diesmal kann ich sogar ein Tori Amos-Lied auswendig, willst du es hören?“ Treuherzig schaue ich meine Freundin an. „Auf gar keinen Fall“, antwortet sie panisch, „nimmst du denn deine Notfalltropfen nicht mehr?“ – „Die helfen mir auch nicht“, sage ich todtraurig und blicke weltvergessen an die Wand, die mindestens so frustriert zurückschaut, „ich bin kein Notfall. Eher ein beständiger Missstand.“ – „Frau“, sagt Sil aufmunternd, „du musst dich einfach verstärkt aufs Positive im Leben konzentrieren.“ – „Mag sein“, erhebe ich mich mühsam vom Lager des Selbstmitleids, „und auf was?“ – „Zum Beispiel darauf“, sagt Sil und wachelt mit bunten Fingern in der Luft herum, „dass ich letzte Woche eine Gehaltserhöhung gekriegt hab.“ Sicher. Deine Endorphine sind meine Endorphine. Großes Beste-Freundin-Ehrenwort.