MFG - Grünrückschnitt
Grünrückschnitt


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St. Pöltens gute Seite

Grünrückschnitt

Text Michael Müllner
Ausgabe 12/2023

Eine weitläufige Ackerfläche im Süden St. Pöltens soll als Industriegebiet bebaut werden und dem Handelskonzern REWE als Zentrallager dienen. Doch das Projekt stößt auf Widerstand, es droht eine Rückwidmung auf Grünland. Nun muss das Land Niederösterreich entscheiden, ob die Flächenwidmung korrekt ist.

Im St. Pöltner Süden, genauer in den Katastralgemeinden Hart und Wörth, liegt ein Schatz begraben. Riesige Grundstücke, unbebaut und nur landwirtschaftlich genutzt – jedoch mit der Flächenwidmung „Bauland-Industriegebiet“. Das städtische Entwicklungskonzept aus dem Jahr 1992 definierte das Gebiet als Gewerbe- und Industriepark – ein gewaltiges Potential für Stadtentwicklung und Betriebsansiedelung. Jedoch hat die Sache einen Haken. Wenn die nahegelegene Traisen Hochwasser führt und über die Ufer tritt, werden wesentliche Flächen des Areals zum Überflutungsgebiet. Somit entstand die 335.000 Quadratmeter große „Aufschließungszone BI-A41“. Der Flächenwidmungsplan sieht vor, dass auf dieser nur unter Einhaltung von drei Aufschließungsbedingungen gebaut werden darf. Erstens muss die nötige technische Infrastruktur (etwa Kanal und Wasser) vorhanden sein. Zweitens wird der Anschluss des Areals an die S 34 oder eine überregionale Ersatzstraße vorausgesetzt. Und drittens muss Hochwassersicherheit gegeben sein.  
Im Sommer 2022 freute sich das St. Pöltner Rathaus über die Entscheidung des Einzelhandelskonzerns REWE, der einen Großteil der Flächen kaufen würde, um dort ein modernes, zentrales Frischelager für seine Supermärkte zu errichten: Innovative Logistik, die gerade auch für regionale Bauern Vorteile bringen soll. Welche Vorteile ein neuerrichtetes Logistikzentrum konkret bringt, wollte REWE auf mehrfache Anfragen hin nicht erklären. Auch zur möglichen Nachnutzung der leerwerdenden, heute noch genutzten Betriebsstätten, beantwortet der Handelsriese keine Fragen. Die Planungen seien noch nicht ausreichend weit fortgeschritten, heißt es dazu auf Anfragen. Bürgermeister Matthias Stadler sieht die zentrale Lage des seit Jahrzehnten als Betriebsgebiet gewidmeten Standortes als großen Vorteil und merkt an: „Wird das Projekt nicht in St. Pölten umgesetzt, dann vielleicht in Loosdorf, Böheimkirchen oder vielleicht in der Slowakei, in Ungarn. Was wäre diesbezüglich aber aus Sicht des Umweltschutzes gewonnen?“
Jedenfalls traten bald erste Kritiker des Projektes auf den Plan. Immerhin geht es um die Neuerrichtung einer Betriebsansiedelung, die aufgrund ihrer Dimension zwangsläufig massiven Bodenverbrauch bedeutet. Zudem kam im Dezember 2022 eine 34-seitige „verkehrstechnische Ersteinschätzung“ eines Ziviltechnikerbüros im Auftrag von REWE zum Schluss, dass täglich mit rund 1.000 LKW- und 600 PKW-Fahrten zum und vom Standort zu rechnen ist.
Romana Drexler ist in St. Pölten als Aktivistin gegen die S 34 stadtbekannt. Gemeinsam mit zahlreichen anderen Organisationen und mit Unterstützung der St. Pöltner Grünen organisierte sie Informationsstände und sammelte von Gemeindebürger­innen und Gemeindebürgern 2.948 gültige Unterschriften für einen Initiativantrag an den Gemeinderat. Dieser solle beschließen, die betroffenen Grundstücke auf Grünland rückzuwidmen. Doch die SPÖ-Mehrheit im Gemeinderat entschied in seiner Sitzung im Juni 2023 anders und beschloss einen Änderungsantrag, der vorsah die bestehende Widmung (vorerst) beizubehalten und ein externes Rechtsgutachten einzuholen, ob die Rückwidmung aus rechtlichen Gründen nötig sei.
Drexler und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter hatten sich bei ihrem Initiativantrag nämlich nicht nur auf ökologische Argumente gestützt. Sie haben sich vielmehr Niederösterreichs Bau- und Raumordnungsgesetze durchgelesen und kamen zum Schluss: Diese riesige, unbebaute Aufschließungsfläche hätte man aufgrund der Hochwassergefahr schon längst wieder auf Grünland rückwidmen müssen. Weil genau das aber nicht geschehen war, brachten die St. Pöltner Grünen zudem im Mai 2023 beim Amt der NÖ Landesregierung eine Aufsichtsbeschwerde ein und wollten auf verwaltungsrechtlicher Ebene klären, ob diese Flächen überhaupt noch als Bauland-Industriegebiet gewidmet sein dürfen. Im Kern geht es dabei um die Fragen, was der Gesetzgeber mit diesem Satz meint: 
„Ein örtliches Raumordnungsprogramm ist abzuändern, wenn sich herausstellt, dass eine als Bauland gewidmete und noch nicht bebaute Fläche von Gefährdungen gemäß § 15 […] tatsächlich betroffen ist und die Beseitigung dieser Gefährdungen nicht innerhalb einer Frist von 5 Jahren sichergestellt werden kann.“
Bei den angesprochenen „Gefährdungen“ geht es eben um Flächen, die bei Hochwasser überflutet werden. Die Flächen sind derzeit als Bauland gewidmet, sie sind noch nicht bebaut. Und die 5-Jahres-Frist scheint offensichtlich auch schon längst abgelaufen. Die Bürgerinitiative sah die Beauftragung eines Gutachters durch den Magistrat skeptisch. Nicht nur wegen der Kosten, auch wegen der Fragestellung. Also entschied die Initiative, selbst ein Rechtsgutachten in Auftrag zu geben. Rechtsanwalt Wolfram Schachinger kam zum Ergebnis, dass die Rückwidmung zwingend vorzunehmen ist, weil es sich um eine Fläche handelt, die unbebaut ist und von einem Hochwasser tatsächlich gefährdet ist. Das Rechtsgutachten von Philipp Pallitsch, der im Auftrag der Stadt tätig wurde, verneint diese Pflicht. Die Aufschließungszone sieht vor, dass vor einer Bebauung die Hochwassersicherheit hergestellt sein muss – beispielsweise durch Dämme. Und diese Auflage verhinderte, dass es eine „tatsächliche Gefährdung“ der Grundstücke gäbe, auf die aber die Rückwidmungspflicht abzielt. 
Traue keiner Studie, die du nicht selber gefälscht hast, fällt einem da ein. Oder: Zwei Juristen, drei Meinungen. Tatsächlich arbeiten sich beide Experten intensiv an der Thematik ab, zitieren einschlägige Gesetzesnormen und passende Fachliteratur – teilweise sogar sich gegenseitig. Das Ergebnis ist freilich diametral entgegengesetzt – und jeder Auftraggeber ist glücklich. 
Dazu muss man verstehen: Ein Rechtsgutachten dient ja nicht der Streitbeilegung – das machen Gerichte oder Oberbehörden. Sondern darum, den eigenen Standpunkt im rechtlichen Rahmenwerk besser einschätzen zu können und bei einer juristischen Auseinandersetzung „Munition“ in Form von Argumenten vortragen zu können. Romana Drexler ärgert sich auch Monate später noch über den Abänderungsantrag und die dadurch ausgelöste Gutachter-Beauftragung: „Warum muss das Rathaus, in dem etliche Juristen sitzen, einen externen Gutachter um Steuergeld beauftragen?“ 18.600 Euro inklusive Umsatzsteuer überwies das Rathaus jedenfalls für das Rechtsgutachten samt weiteren Stellungnahmen an den Gutachter. Drexler schätzt die Rechtskosten für ihre Initiative auf rund 8.000 Euro – die allesamt durch Spenden aufgebracht wurden. 
Wie geht es nun weiter? Bei der Landesregierung ist die Aufsichtsbeschwerde anhängig. Die Landesbeamten forderten die Stadt St. Pölten auf, zur Thematik Stellung zu nehmen. Diese brachte das eigene Rechtsgutachten vor. Zudem gaben sich die beiden Gutachter gegenseitig „Feedback“. Auf die Replik von Wolfram Schachinger folgte eine Duplik von Philipp Pallitsch. Mehrere Stellungnahmen runden das Paket ab, über dem nun die Fachaufsicht im Land brütet. 
Laut Severin Nagelhofer vom zuständigen Amt der Landesregierung liegen mittlerweile alle Stellungnahmen vor und fließen „in die fachliche und rechtliche Bewertung mit ein. Mit einer Entscheidung ist in den nächsten Wochen zu rechnen.“ Dieses aufsichtsbehördliche Verfahren wird aber nur beantworten, ob das städtische Raumordnungsprogramm (und somit die konkrete Flächenwidmung) in der Vergangenheit zu ändern gewesen wäre. „Darüber hinaus sind in diesem Verfahren keine weiteren Feststellungen zu treffen.“ 
Ein Flächenwidmungsplan wird grundsätzlich vom Gemeinderat anhand der Landesgesetze erstellt. Änderungen sind selten, das Verfahren aufwändig. Bürgerinnen und Bürger sollen sich auf den Fortbestand eines Flächenwidmungsplans verlassen können. Aber natürlich ist eine Weiterentwicklung oder Änderung grundsätzlich denkbar.
Was passiert nun konkret mit dem geplanten REWE-Lager? Wenn die Aufsichtsbehörde feststellt, dass die Flächenwidmung falsch ist und eine Rückwidmung zu Grünland fällig ist, wird sich das St. Pöltner Rathaus dem wohl beugen. Realistischerweise wird man aber wohl bei einer Neufassung des Flächenwidmungsplans das Areal wieder als Bauland definieren. Wie weit der Zeitverlust die REWE-Pläne beeinflussen würde und ob das Projekt dadurch womöglich gefährdet wäre, ist nicht bekannt. Setzt sich das Rathaus durch und ist keine Rückwidmung nötig, weil bei rascher Umsetzung des Hochwasserschutzes die Voraussetzungen für eine Bebauung vorliegen, wird der Widerstand gegen das Frischelager wohl dennoch nicht verschwinden. 
Und dann ist da noch das Problem mit der fehlenden Anbindung an die S 34. Diese seit Jahrzehnten in Diskussion stehende Schnellstraße ist weiterhin umstritten und ein Baubeginn nicht absehbar. Es wäre schwer zu argumentieren, wenn sich die allein regierende SPÖ im Gemeinderat entschließen würde, die Flächenwidmung soweit abzuändern, dass diese überregionale Straße plötzlich doch keine Voraussetzung für eine Bebauung des Areals wäre. Immerhin ist St. Pöltens Süden jetzt schon ein stark verkehrsbelastetes Stadtgebiet – und da sind 1.600 zusätzliche Zu- und Abfahrten wohl auch ein eigenes Thema.