MFG - Einer, der gegen das Vergessen und Verdrängen schrieb - NACHRUF Manfred Wieninger
Einer, der gegen das Vergessen und Verdrängen schrieb - NACHRUF Manfred Wieninger


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Einer, der gegen das Vergessen und Verdrängen schrieb - NACHRUF Manfred Wieninger

Text Andreas Reichebner
Ausgabe 09/2021

„Beim Schneeglöckerl brocken in der Viehofner Au“, wie mir Manfred Wieninger einmal in einem Gespräch erzählte, stieß er auf Betonpfeiler und Reste eines Stacheldrahtzaunes. Andere wären ob der unerwarteten Behinderung wütend gewesen, nicht so der historisch affine St. Pöltner Autor, der mittels darauffolgender Recherchearbeit, aus einem Freizeitvergnügen heraus, die Existenz zweier Zwangsarbeitslager sichtbar machte und dokumentierte. Dieses seinem Wesen immanente Stöbern, Fragen und nachdenkliche Recherchieren war Zeit seines Lebens, das am 13. Juli dieses Jahres leider abrupt ein Ende fand, gegenwärtig.

Im Laufe meiner journalistischen Tätigkeit durfte ich Manfred Wieninger öfters begegnen und mit ihm über laufende und abgeschlossene Projekte sprechen, dabei lernte ich den Autor sehr zu schätzen – einerseits seine Ernsthaftigkeit und seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und andererseits seinen trockenen und spitzfindigen Humor. Deswegen sei hier erlaubt, diesen Nachruf etwas persönlicher zu gestalten.
„Albträume hab ich gehabt, das Geschehen immer wieder in Gedanken miterlebt“, erzählte Wieninger mir damals, als er auf einen Gedenkstein für 223 Ermordete in Hofamt Priel stieß. Er stellte sich die Frage „Wer sind die?“ und begann nachzuforschen. Die Begegnung mit dem Stein zwang ihn, den zeitgeschichtlichen Roman „223 oder Das Faustpfand“ über das Massaker von Hofamt Priel, wo im Mai 1945 die Waffen-SS ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter ermordete, zu verfassen. „Ich kann nicht anders, ich muss darüber schreiben“, war seine Begründung, „obwohl es mir lieber wäre, diese Bücher wären schon geschrieben.“ Die „intentio autoris“ spielte dabei für ihn nicht die große Rolle. Wieninger stellte sich nicht in den Vordergrund, auch nicht beim Enthüllen historischer Gräueltaten, die von österreichischer Verdrängungspolitik jahrzehntelang zugedeckt wurden. Und doch blieben seine Entdeckungen und Aufbereitungen nicht ohne Wirkung.
Seine Recherchen und literarische Arbeit über die beiden Zwangsarbeitslager in Viehofen und am Glanzstoff-Gelände waren Initiation zu einer Aufarbeitung dieses finsteren Kapitels der St. Pöltner Stadtgeschichte und einer künstlerischen Auseinandersetzung – zum Beispiel durch die Orientierungstafeln von Catrin Bolt am Viehofner See.
Manfred Wieninger legte seine Finger auf nässende, eiternde Wunden, die eine Nachkriegszeit, fern einer Auseinandersetzung mit der Nazizeit, zudeckte. Der studierte Germanist und Pädagoge, der am Magistrat St. Pölten für die Blaulichtorganisationen zuständig war, stieß als fragender und sensibler Mensch immer wieder auf „Sachen, die bis dato weniger bekannt waren“. So auch, als er in einer Gewerkschaftszeitung einen dreizeiligen Artikel mit Foto über den Feldwebel Anton Schmid, der jüdische Mitmenschen vor dem gewaltsamen Tode zu retten versuchte, selbst später hingerichtet wurde und als einer der wenigen Wehrmachtssoldaten von der israelischen Holocaust-Erinnerungs- und Forschungsstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde, entdeckte. Nach akribischen Recherchen, die ihn mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Nazijäger Simon Wiesenthal, der Enkelin des Feldwebels und einem Zeitzeugen zusammenarbeiten ließen, brachte er den Dokumentarroman mit erzählerischen Passagen – „alles andere wäre Hirnwichserei“, wie er damals anmerkte – „Die Banalität des Guten. Feldwebel Anton Schmid“ zu Papier. „Es ist ein Buch über die Freiheit des menschlichen Willens“, sprach er, und nahm etliche Jahre des Stöberns in Archiven und eine beschwerliche Reise nach Wilna dafür auf sich. Auch in seinem Buch „Aasplatz – Eine Unschuldsvermutung“ machte er eindringlich auf verdrängte Abscheulichkeiten während des Tausendjährigen Reiches aufmerksam. Er schrieb gegen das kollektive Vergessen an.
Manfred Wieninger war ein unter Anlehnung an Feldwebel Schmid ein „Gerechter unter den Schreibern“, aber auch ein vortrefflicher Kriminalautor. Seine literarische Figur des sympathisch-cholerischen „Diskont-Detektives” Marek Miert, der als Schnüffler in der Provinzhauptstadt Harland sein deprimierendes, prekäres Leben sarkastisch geprägten, erhobenen Hauptes, mit tiefgründigem Rotwein und der einen oder anderen Grillerei im tristen Innenhof seines Domizils erträgt, ist legendär. Scharfzüngig und mit dem ironischen Blick auf die gesellschaftlichen Zustände in Österreich, zeigte Wieninger in mehreren Bänden, dass Krimis nicht nur oberflächliche Unterhaltung sein können. „Die Tragikomödie, so ziemlich das Schwierigste der verschiedenen Genres, taugt mir”, erzählte er. Er, der von sich behauptete, „ohne groß nachzudenken, ich bin ein Bauchschreiber”, ans Werk ging. „Lieber Andreas, ich habe leider noch nicht die geringste Ahnung, worum es im neuen Marek Miert gehen wird, außer vermutlich auch um ihn selbst. Also wenn Du eine Idee hättest ... Ich werde vermutlich erst am 1. 1. 2017 um 0 Uhr nachzudenken beginnen, worum es im neuen MM gehen wird. LG Manfred“ war eines Tages in meinem Mailaccount zu lesen – dem ist kaum etwas hinzuzufügen.
Als Zwölfjähriger durchkämmte er per Fahrrad die Gassen und Straßen seiner Heimatstadt. Fazit: Jahre später durfte sich St. Pölten über ein Lexikon mit dem Titel „St. Pöltner Straßennamen erzählen“ freuen.
2013 erhielt er den Theodor-Kramer-Preis für sein Werk, aber er hätte sich eigentlich viel mehr an Preisen und Ehrungen verdient. Aber wie gesagt, in den Vordergrund stellte sich der stille, nachforschende, präzise Literat und Humanist par excellence, nie. In seinem letzten Buch „Sportmärchen“ (Literatur­edition NÖ), einer kecken satirischen Aufarbeitung seiner Beziehung zum Sport, schreibt er aus seiner Jugendzeit: „Mitten in einem Spurt im gegnerischen Angriffsdrittel hakte sich die Kelle eines Schlägers von hinten in meine linke Kufe. Zuerst krachte mein Kinn auf das pickelharte Eis, gefühlte eineinhalb Sekunden später der Rest meines schon damals massigen Körpers. … und mehrere meiner Mitspieler fragten mich, wie es mir gehe (eine nette Form von unterlassener Hilfeleistung), aber da war ich schon fast bewusstlos. Eishockey in der Provinz. Wunderschön.“
Manfred Wieninger und weitere Texte werden uns sehr fehlen.