Nationalnarbe
Text
Thomas Winkelmüller
Ausgabe
Letzten Monat war ich für zwei Tage auf Recherche im ukrainischen Lemberg, der größten Stadt im Westen des Landes. Dort habe ich versucht nachzuzeichnen, wie man dort sich bemüht, zehntausenden Kriegsversehrten ein neues Leben zu ermöglichen – traumatisiert, verbrannt und oft ohne Gliedmaßen.
Vor der großangelegten Invasion Russlands gab es in der Ukraine kaum Reha-Zentren. Deswegen stampft das Land nun genau solche nacheinander aus dem Boden, vor allem in Lemberg. Das ist nötig, denn bis zu 50.000 Ukrainer brauchen jetzt schon Prothesen. Im Vergleich: Während des Ersten Weltkriegs verloren etwa 41.000 Briten Gliedmaßen. Auch ein Jahrhundert später hat sich an der Grausamkeit des Kriegs nichts geändert.
Das wurde mir schmerzlich schnell klar, als ich in die Gesichter hinter diesen Zahlen blickte. Junge Männer und Frauen, deren Körper von Russland ruiniert wurden. Ich bin Menschen begegnet, deren Köpfe zu einer Masse aus Narben und Fleisch zusammengebrannt wurden – ohne Nase, Ohren oder Lippen. Noch vielen mehr haben Landminen die Beine weggerissen. Sie müssen aber nicht bloß neu gehen lernen, sondern ebenso, wie man Äpfel schneidet oder Kinder aus dem Gitterbett hebt.
Woran ich nach meiner Reise allerdings keinen Zweifel hege, ist, dass die meisten von ihnen all das wieder lernen werden. Auch wenn ihr Weg ein langer sein mag – unterstützt von Prothesen, Krücken und Rollstühlen.