Siegfried Nasko - Auf der Suche nach Babaji
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
Wenn Siegfried Nasko sich anschickt, seine Memoiren zu Papier zu bringen, dann ist erhöhter Pulsschlag bei manch Zeitgenossen vorprogrammiert. Zwar nicht in dem Maße, wie Trump versuchte, Publikationen über seine Person zu unterbinden, aber recht wohl fühlte sich nicht jeder bei dem Gedanken, dass der ehemalige St. Pöltner Stadtrat möglicherweise aus dem Nähkästchen plaudert – dem Vernehmen nach soll der Autor auch manches gegenüber dem Erstentwurf gestrichen haben.
Nachvollziehbar ist das allemal, denn wie es halt so ist mit der „Wahrheit“ und der Wahrnehmung – auf ein und dieselbe Sache kann man bekanntlich unterschiedlich blicken, kann sie unterschiedlich erfahren haben und sich demnach auch unterschiedlich daran erinnern. Was dann letztlich als – idealtypisch – „Wahrheit“ herausdestilliert wird oder eher als Lüge empfunden wird, lässt sich nie vollends klären und so sind Lebenserinnerungen immer, wie es schon weiland der gute alte Goethe wusste, zwischen Dichtung und Wahrheit anzusiedeln. Vielleicht hat der Autor auch deshalb ein Nachwort unter dem Titel „Die Sonne, der Mond und die Wahrheit gehen nicht unter“ nachgereicht.
Für das große Ganze des Buches spielt das aber in Wahrheit ohnedies keine allzu große Rolle, denn über die teils längst versunkenen Polit-„Affären“ und darin verstrickten Protagonisten wissen die meisten Leser von heute gar nicht mehr Bescheid. Das Interesse daran ist daher – mit Ausnahme für die Betroffenen selbst und einige Insider – mehr als endenwollend, und um die Kirche im Dorf zu lassen: Wir reden hier ja nicht vom US-Präsidenten oder dem Weißen Haus, sondern von den Niederungen der St. Pöltner Lokalpolitik im Jahre Schnee.
Die wahre Stärke und Tiefe entfaltet Naskos Buch sowieso eher dort, wo der Autor über den lokalen Tellerrand hinausblickt und auf allgemein gültige Lebensthemen zu sprechen kommt. Das betrifft allen voran einmal das Ausrollen seines eigenen Werdegangs vom aus ärmsten und – nennen wir es euphemistisch – alles andere den herzerwärmenden, eher trostlosen Verhältnissen kommenden Nachkriegsbuben hin zum gestandenen Beamten, Politiker und Historiker. Eine klassische Aufsteigergeschichte, wie sie die SPÖ unter Kreisky gerne als role model einer neuen Gesellschaft propagierte, allein dass Naskos Geschichte bereits in den 60ern beginnt, als man sich noch nicht auf eine solidarische Gesellschaft verlassen konnte, die auch den Underdogs eine Chance gibt. Nasko ist in diesem Sinne mehr Selfmademan à la amerikanischer Traum, sein Werdegang Ausfluss eines eisernen Willens, der ihn unter persönlichen Entbehrungen die Erfolgsleiter step by step emporsteigen ließ – vom Bäckerlehrling über die nachgeholte Arbeitermittelschule, die Matura am Aufbaugymnasium in Horn bis hin zum Studium in Wien, wo er als Doktor der Philosophie promoviert, um danach eine honorige Beamtenkarriere einzuschlagen. All das ist ihm nicht zugeflogen, sondern hat er sich bzw. dem Leben beharrlich abgerungen – er jobbte am Bau, überstellte Autos, war Schaffner oder wirkte als Komparse im „Braven Soldat Schwejk“ mit, um das Studium, von dem die Eltern nicht einmal wussten, irgendwie zu finanzieren. Es sind wohl genau diese Herausforderungen und Nöte gewesen, die ihn für die Unterprivilegierten, für die Armen und deren eingeschränkte Aufstiegsmöglichkeiten sensibilisierten, so dass die SPÖ ab den 70ern seine logische politische Heimat wird, für die er jahrelang im St. Pöltner Gemeinderat und am Ende der Politkarriere im NÖ Landtag sitzen wird. Der Partei ist er bis heute treu, eine zunehmende Entfremdung wird im Buch aber offensichtlich. Nicht nur aufgrund der als persönliche Kränkung empfundenen Demontage auf lokalpolitischer Ebene, sondern – und da schimmert wieder der größere Kontext durch – weil sich die Partei in seinen Augen spätestens seit sie einen Banker zu ihrem Parteichef machte immer mehr von ihrer Grund-DNA entfremdete und stattdessen vom Neoliberalismus wie ein aufgescheuchter Stier durch die Arena treiben ließ (solange man selbst an den Futtertrögen saß mitunter wohl auch gar nicht ungern). Naskos Kapitalismuskritik ist dabei keine revolutionäre im Sinne einer Zerstörung der Verhältnisse, sondern eine integrierend-evolutionäre, wenn er wieder „mehr Sozialismus im Kapitalismus“ fordert. Kurzum – die gesetzlichen Rahmenbedingungen des Marktes müssten im Sinne gesamtgesellschaftlichen Ausgleichs wieder enger gezogen werden, private Konzerne – insbesondere auch jene aus dem Digitalbereich – ihren steuerlichen Beitrag zum Gemeinwohl leisten wie es analoge tun. Angesichts des sich abzeichnenden Zukunftsszenarios, dass Digitalisierung und Robotisierung viele Menschen aus dem bisher bekannten Arbeitsprozess drängen werden, plädiert Nasko zudem ganz im Sinne Richard David Prechts oder Thomas Pikettys für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, das u. a. über Kapital- und Finanztransaktionssteuern gegenfinanziert werden soll.
Als Grundkontext hinter all diesen Überlegungen schimmert auch hier die Vision von Solidarität durch, deren Erfüllung Nasko auf europäischer Ebene noch nicht erfüllt sieht. Wohlwissend um die aktuellen Schwächen der EU, streicht er dennoch gerade ihre friedensstiftende Kraft als essentiell hervor, weshalb die Zukunft des Kontinents nicht in weniger, als vielmehr in mehr Europa liegen müsse! Freilich die EU nicht als reiner, privilegierter Wirtschaftsklub, sondern als solidarische Wertegemeinschaft an deren Endpunkt die Verwirklichung der Vereinigten Staaten von Europa stehe „föderal, vielfältig, rechtsstaatlich, demokratisch, tolerant, solidarisch und gebildet sowie vor allem die Würde der Person achtend und die Menschenrechte verwirklichend.“
Von Europa zur Welt ist es dann nur mehr ein kleiner Schritt, ja in Wahrheit ist es derselbe, weil Nasko als das sich durchziehende Grunddilemma ein auf Ungerechtigkeit basierendes globales Wirtschaftssystem ausmacht, das viele Teilnehmer systematisch benachteiligt – allen voran Afrika. Dieses Unrecht müsse überwunden werden, angesichts logischer Flüchtlingsströme allein schon aus Eigennutz: „Hugo Portischs Aufforderung, etwas für Afrika zu tun, richtete sich an alle Europäer. Ich nehme sie sehr persönlich, bin ich mir doch bewusst, dass wir selbst es sind, die bluten, wenn wir weiterhin Schwarze verletzen und durch Ausbeutung, Hunger, Krankheit oder Ertrinken sterben lassen.“
Nasko macht sich in seinem Buch noch so manche Gedanken über aktuell brisante Themen – so fordert er etwa einen Elternführerschein, weil Erziehung gelernt sein möge, stellt den in seinen Augen überbordenden österreichischen Föderalismus in Frage oder outet sich als Fürsprecher eines allgemeinen Ethikunterrichts, ganz im Sinne Luza Nimmervolls: „Der demokratische liberale Staat ist existentiell angewiesen auf mündige, aufgeklärte Bürger, die gegen blinden Gehorsam gegenüber Religionen, dubiosen Weltsimplifizierern und sonstigen Obrigkeiten gewappnet sind. In diesem Sinne wäre Ethikunterricht für alle ein Akt demokratiepolitischer Wahrhaftigkeit.“
Mit der Begrifflichkeit der „Wahrhaftigkeit“ kommt man schließlich zur dritten großen, sich durchziehenden Grundströmung des Buches. So lässt Nasko die Leser an seiner höchstpersönlichen Suche nach dem Sinn im Leben teilhaben, vielleicht auch nach innerem Frieden, den ihm die eigene Historie, die allgemeinen Umstände und auch die eigene intellektuell-komplexe Persönlichkeitsstruktur (möglicherweise schon wieder als Folge des Vorhergenannten) nicht immer so einfach zu gewähren scheinen. Der Autor war nie einer für den Streichelzoo, eher kratzbürstig, aufbrausend, angriffslustig, mitunter verletzend und einschüchternd – so wie er selbst manch Verletzung und Kränkung einstecken musste. Zugleich ein Macher, der sich mit Verve in Themen und Menschen hineinwarf, ein Weltverbesserer, der sich nicht im Theoretisieren als Gutmensch brüstete, sondern persönlich Armen unter Einsatz persönlicher finanzieller Mittel ganz konkret unterstützte. Jedenfalls immer ein Kämpfer, ein Emotionsbündel. Seine Versuche einer „Selbstdomestizierung“ der negativen Seiten führten ihn in den 80ern zunächst zum Yoga „um meine starken Emotionen zu zügeln“, und mündeten schließlich in einer lebenslangen Vertiefung fernöstlicher Religionen und Praktiken, die zum selbstgewählten (auch spirituellen) Lebenspfad wurden. Bis heute meditiert er täglich, auf zahlreichen Reisen nach Indien, Tibet, Nepal, Afrika etc. kam er in Kontakt mit berühmten Lehrmeistern, erfuhr manch persönliches Wunder, und selbst schwere Krankheiten und Nahtoderfahrungen brachten ihn vom Weg nicht ab, sondern begriff er als weitere Vertiefung. Nicht von ungefähr hieß Naskos Buch in der Rohfassung „Auf der Suche nach Babaji. Ein einsamer Wolf erinnert sich und beobachtet“. Das Cover zieren zwei Naskos, zwei Seiten exemplarisch für eine mehrdimensionale Person, die in ihrem Leben vielleicht bisweilen zerrissen wirkte, die aber – und vielleicht ist das Buch ein Schlüssel dazu – versucht anzukommen, eins zu werden mit sich und der Welt, ausgesöhnt, erkennend, um irgendwann – von allen Begierden und Anhaftungen des Lebens gelöst – im Licht „ausgelöscht“ zu werden, wie es Nasko im Gefolge des Christus-Yogi Babaji anstrebt. Der Pfad ist (noch) nicht zu Ende.