Ein Ort zum Vergessen
Text
Markus Feigl
Ausgabe
Müllhalde, NS-Zwangsarbeiterlager, Armenunterkunft – „Korea“ ist seit mehr als hundert Jahren ein Schandfleck für St. Pölten. Die düstere Geschichte dieses Areals geriet in Vergessenheit, bis ein Schriftsteller 2005 erstmals darüber schrieb. Wie kann eine Stadtbevölkerung kollektiv vergessen? Und was wurde eigentlich aus den Menschen, die dort leben mussten?
Da drüben in der Au habe ich als Kind eine Frau liegen gesehen. Die hatte wer mit einem Strumpf stranguliert. Den Mörder haben sie dann eh erwischt, war aber keiner von uns“, sagt Ricardo Hnilicka und zeigt zwischen einige Bäume. Auf der Lichtung, auf der er nun steht, lebte er vier Jahre lang – und kam auch lange danach noch fast täglich her, um Zeit mit seinen Freunden zu verbringen. Heute ist das Areal überwuchert, nichts erinnert mehr an seine leidvolle Geschichte, außer einigen umgefallenen und im hohen Gras liegen gelassenen Betonpfeilern, die einst einen Stacheldrahtzaun trugen. Bis auf Hnilicka wollte kein Interviewpartner namentlich genannt werden, so schwer ist das Stigma, das diesen Ort belastet. Die Namen der anderen Zeitzeugen sind der Redaktion bekannt, in diesem Artikel werden zur Anonymisierung aber falsche Namen verwendet.
Wir befinden uns in der Au südlich der Viehofener Seen. Bis zum Jahr 1906 blieb dieses kleine Wäldchen nahezu unberührt, dann fing die neu gebaute Glanzstoff-Fabrik an, ihre Chemieabfälle dort zu entsorgen. Außerdem grub und betonierte man damals das sogenannte „Säurebachl“ direkt durch die Au; einen Abfluss der Glanzstoff, durch den knallgelbe Chemikalien mehr oder weniger ungefiltert in die Traisen geleitet wurden. Auf dieser Müllhalde errichteten die Nazis im zweiten Weltkrieg zwei Zwangsarbeiterlager: eines für ungarische Juden, ein anderes für zumeist ukrainische Zivilisten. In Chroniken wurden diese beiden Lager bis zum Jahr 2005 nie erwähnt. Bis der Autor Manfred Wieninger über sie schrieb; und die Überraschung in der Stadt groß war: Ein Judenlager in St. Pölten – das war den Meisten neu. 2017 wurde das Gelände, auf dem Hnilicka nach dem Krieg wohnte, dann ganz unzeremoniell planiert und die letzten Reste „Koreas“, wie man es nannte, entfernt. Das Judenlager im Norden hatte man in einem monumentalen Akt österreichischer Vergangenheitsbewältigung bereits im Jahre 1985 unter 655.000 Kubikmetern Wasser versenkt; der dadurch entstandene Viehofnersee ist heute ein Naherholungsgebiet. Beste Voraussetzungen also dafür, dass ein solch geschichtsträchtiger Ort in Vergessenheit geraten konnte.
Unfreiwillig hilfswillig
Das Deutsche Reich unter Hitler verschleppte Menschen aus allen Gebieten, die es besetzen konnte und setzte sie als Arbeitssklaven ein. In der Viehofener Au waren es 300 sogenannte „Hilfswillige“, zwei Drittel davon Frauen, die ihren Dienst in der Glanzstoff leisten mussten. Sie stellten Fallschirmseide oder Reifencord her, genau lässt sich das heute nicht mehr sagen. Was man aber weiß ist, dass die Glanzstoff aufgrund dieser Arbeitssklaven ihre Produktion zwischen 1939 und 1944 von 2.100 auf 9.500 Tonnen pro Jahr steigern konnte. Im für sie errichteten Barackenlager schliefen 30 Leute in einem Zimmer. Sechs Tage pro Woche verrichteten sie Zwölf-Stunden-Dienste in der Fabrik. Waren es anfangs Kriegsgefangene, die in den sechs Baracken hausen mussten, kamen spätestens 1942 verschleppte Zivilisten aus der Ukraine und Russland, aber auch anderen Staaten wie Frankreich, Italien, der Tschechei oder Griechenland zum Einsatz. Von den Fußwegen rund um das Gebiet sah man Korea nicht, weil die Au es verdeckte. Die Anrainer wussten aber natürlich sehr wohl, dass es das Lager gab. „Zum Zaun haben wir Kinder uns schon getraut“, erzählt Zeitzeuge Pichler, „da haben wir Hasenfutter geholt. Aber stehen bleiben und gaffen, das ging nicht. Soldaten mit Stahlhelmen, Gewehren und – das weiß ich noch genau – Gasmasken am Gürtel haben das Lager bewacht.“ Die Wärter waren Männer, die wohl zu alt für den Wehrdienst waren und laut Zeugenberichten nicht allzu motiviert bei der Arbeit. Sie halfen den Insassen zwar nur selten, waren aber auch nicht so grausam, wie man das von SS-Wärtern gewohnt war. Drei Namen sind mündlich überliefert, die Schreibweisen deshalb unklar: Kubitschek war der Lagerleiter, Seif und Losleben gehörten zum Wachpersonal. Kubitschek war im zivilen Leben Fleischer, Franz Seif wohnte in Waldletzberg, südlich von Traismauer, und war Hilfspolizist. Für die Erwachsenen in der Nachbarschaft galt die Au aufgrund der schweren Bewachung als tabu. Sie betraten sie entweder heimlich oder bei Fliegeralarmen. Dann trafen die Anrainer auch manchmal auf die Insassen, denn im Lager gab es zwar zwei Splitterschutzkeller, die waren aber nur für die Wachen bestimmt. Die Gefangenen mussten im Freien warten und flüchteten während Bombardierungen teilweise in die Au. In derselben Hoffnung wie die Anrainer: dass die Amerikaner ihre kostbaren Bomben nicht über Wäldern abwerfen würden. Einige nutzten die Gelegenheit aber auch, um im Kommandogebäude Essen zu stehlen. Denn im Lager gab es ausschließlich Brot und „Bolanda“, eine dünne Suppe. In die Au zu flüchten war möglich, weil der Zaun nicht völlig undurchlässig war. Er hatte eher eine abschreckende Wirkung und den Insassen des Lagers war klar, dass sie erschossen werden würden, sollte man sie irgendwo außerhalb erwischen. Einige flüchteten dennoch. Ob das jemand überlebte, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen.
Chaotische Regulierung
Weiter im Norden, dort wo heute Badegäste vom großen Steg in den Viehofnersee springen, befand sich das Lager für ungarische Juden. Es bestand aus zwei Baracken, einem Kommandogebäude und zwei Schuppen, in denen ebenfalls Menschen hausen mussten. „In Gruppen von etwa 15 Leuten haben sie in der Au die Weiden abgeschnitten, Holzpflöcke in die Erde geschlagen, einen Draht gespannt, mit den Weiden ein Geflecht gemacht und Erde drüber geschüttet und so die Böschungen angelegt“, erzählt Pichler. Er und die anderen Kinder fürchteten sich vor den Menschen in den grauen Arbeitsanzügen. „Wenn sie da waren, haben wir uns nicht hingetraut. Wir wussten ja nicht, wer das ist und was mit denen los ist. Aber wenn sie nicht da waren, sind wir mit ihren Grubenhunden (Rollwägen, Anm. d. Red.) gefahren.“ Kubitschek erschien jeden Morgen um sechs Uhr und brüllte Befehle vom Rücken seines Pferdes; man erkannte ihn an der Feder im Hut. Das erste Todesopfer dieser Strapazen war Malvine Hegyi, die 81-Jährige überlebte die schwere Arbeit an der Traisen nur wenige Wochen. Und das obwohl die Zwangsarbeiter besser versorgt wurden als anderswo, denn aufgrund der Hochwasserkatastrophen der Jahre 1940, 1941 und 1944 wollte man die Regulierung der Traisen rasch abschließen.
Selbst Kinder mussten dafür schuften. Der kleine Peter Kraus etwa sprach im Alter von 16 Monaten schon fließend, im Lager hörte er aber wieder auf zu sprechen und lutschte den ganzen Tag an seinem Daumen. Pichler könnte die beiden einmal in der Nähe des Fußballplatzes des SC St. Pölten an der Traisen gesehen haben, als eine Gruppe von Zwangsarbeitern vorbeigetrieben wurde: „Ich bin die Traisenböschung runtergesprungen und habe mich versteckt. In der Gruppe waren Kinder und darum dachte ich, die nehmen mich auch mit. Das war das einzige Mal, dass ich mich vor den eigenen Soldaten gefürchtet habe.“ In den Baracken war die Stimmung schlecht, die Insassen stritten ständig miteinander. Wenn die Kinder schrien, wurden die Mütter verantwortlich gemacht. Frauen tauschten sexuelle Gefälligkeiten gegen Lebensmittel. Sowohl Kubitschek wie auch Losleben hatten Affären mit Insassinnen, wobei Kubitschek sogar eine Frau schwängerte. Der Lagerarzt, selbst ungarischer Jude, musste sich um die Abtreibung kümmern. Die Nachbarschaft bekam von diesen Dingen offenbar nur wenig mit. Es gibt einzelne Geschichten von Anrainern, die den Insassen manchmal heimlich Essen vorbeibrachten, doch das Gebiet rund um das Judenlager wurde normalerweise nicht einmal von den Kindern der Gegend betreten. „Da hörte man, es seien SS-Leute dort“, erzählt Pichler, „und vor der SS hat ja jeder Angst gehabt.“ In der Nacht des 8. April 1945 desertierte die Wachmannschaft. Kubitschek riet den Lagerinsassen, nach Osten zu flüchten. Einige taten das auch, viele von ihnen wurden auf den Straßen St. Pöltens erschossen. Die meisten fühlten sich aber zu schwach oder hatten zu große Angst und blieben im Lager. Am 9. April kamen SS-Leute, erschossen die Alten, Kranken und Schwachen und zwangen den Rest zum Todesmarsch ins KZ Mauthausen. Sechs Tage später, am 15. April 1945, erreichte die Rote Armee um sieben Uhr früh Viehofen, die Stadt fiel nur wenige Stunden später. Stalin freute sich über den Fall des strategisch wichtigen St. Pöltens so sehr, dass er diesen Sieg in Moskau mit einem Salut von zwölf Artilleriesalven aus 124 Kanonen feiern ließ. Etwa zwei Monate danach traute sich Pichler zum ersten Mal zum nun ehemaligen Judenlager. Der damals Siebenjährige schildert: „Außerhalb des Lagers war eine Sutte, da lagen die erschossenen Juden drinnen. Die SS-Leute hatten nur notdürftig Erde drüber geschüttet. Ich kann mich erinnern, dass man die Haare noch gesehen hat.“
Brutale Einigkeit
Während das Judenlager nach Kriegsende leer stand und die Baracken abgetragen wurden, blieb das Glanzstoff-Lager stehen. Die Sowjets benutzten es noch bis etwa Mai 1946 als Internierungslager für Nationalsozialisten, dann baute die Glanzstoff zwischen den Häusern Gemüse für ihre Fabriksküche an. In dieser Zeit verschwanden zwei der ehemals sechs Baracken. Ob sie von den Russen abgerissen worden waren, oder ob sich die frierende Bevölkerung Brennholz organisiert hatte, weiß heute niemand mehr. Ab 1947 zogen jedenfalls bedürftige Familien in das Lager, die sich sonst nichts leisten konnten. Darunter auch Ricardo Hnilicka und seine an Kinderlähmung leidende Mutter. Einige Bewohner arbeiteten in der Glanzstoff. „Aber die meisten sind pracken gegangen“, erzählt Hnilicka, der von 1956 bis 1961 in der Barackensiedlung wohnte und meint damit, dass sie stempeln gingen, also Arbeitslosengeld bezogen. Viele gingen im Gefängnis ein und aus, wöchentlich gab es Polizeieinsätze. „Wir hatten ein paar wirklich schöne Damen“, sagt Hnilicka, „die haben fast jeden Tag untereinander gerauft, weil sie alle was mit den Männern der anderen hatten.“ War ein Mann im Gefängnis, kam es vor, dass seine Frau von einem anderen Barackenbewohner schwanger wurde. Es entstanden dort sehr kinderreiche Familien, deren Sprösslinge unterschiedliche Familiennamen trugen. Frau D. etwa hatte elf Kinder. Auch Prostitution war in Korea, der Name entstand zu dieser Zeit, Gang und Gäbe. Hnilicka: „Es war eine wilde Gegend, aber das haben wir selbst nicht so empfunden.“ Der Alltag in den vier Baracken war entsprechend trist: Die meisten Männer schliefen morgens lange, weil sie nirgendwo hin mussten. Irgendwann gingen sie dann fort, kamen spät abends nach Hause und fingen an, sich betrunken zu prügeln. Zeitzeuge Mayer, der nicht in Korea wohnte, aber fast täglich dort war, erinnert sich: „Besonders wenn einer aus dem Häfn zurückgekommen ist, war es schlimm. Dann ist der Köch losgegangen. ‚Du hast mei Alte g‘schnackselt!‘ und so. Wenn die Polizei gekommen ist, waren es immer sechs oder sieben Beamte. Und die haben dann gewartet, bis die Streithanseln wieder Ruhe gegeben haben. Weil sonst hätten alle Barackinger plötzlich zusammengeholfen und wären auf die Polizisten losgegangen.“ Es gab also dennoch ein Zusammengehörigkeitsgefühl in Korea. Ein Wir-gegen-die-Anderen. „Die meisten Leute haben sich nicht getraut, zu uns nach Korea zu kommen. Aber solange einer normal war, hat ihm fast keiner was getan“, erinnert sich Hnilicka.
Obwohl die Traisensiedlung im Süden keine 150 Meter von Korea entfernt lag, spielten die Kinder in den 60er- und 70er-Jahren kaum miteinander. Trafen die Buben in der Au aufeinander, verteidigten die Burschen aus Korea ihr Revier und verscheuchten die Eindringlinge. „Wenn dich die Koreaner erwischen, fesseln sie dich mit Stacheldraht und schmieren dich mit Scheiße ein“, erzählten sich die Kinder der Traisensiedlung. Da blieb man doch lieber auf Abstand. Mayer, der mit den Kindern aus den Baracken in die Schule ging, meint: „Ich war immer gern in Korea. Eigentlich waren das nette Leute und es war halt immer etwas los.“ Und auch Pichler, der als Bauhofmitarbeiter öfter für Renovierungsarbeiten in Korea eingesetzt war, erzählt anerkennend: „Mir ist dort nie ein Werkzeug weggekommen. Sogar in Harland in der Schule haben sie mir einen Fäustel gestohlen – in Korea nie. Es gab eine Handvoll Alkoholiker und faule Hunde, aber die meisten waren normale Leute, nur halt arm.“ Neben Schlägern, Dieben und Räubern sind auch zwei Mörder eng mit der Barackensiedlung verbunden. Der erste ist Adi Karas, der ein Bordell in der Stadt betrieb und später dafür bekannt wurde, mit einem Schuss durch eine Tür seinen Schwager erschossen zu haben. „Der kannte einfach keine Grenzen“, erzählt Mayer, der ein Freund von Karas war, „Der Adi hat in einer Bar an einem ganz normalen Tag einfach mit der Pistole in den Plafond geschossen, weil ihm danach war. Aber wennst ihn gekannt hast, hast alles von ihm haben können.“ Auch Hnilicka war mit Karas unterwegs. Damals fand regelmäßig der 5-Uhr-Tee in den Stadtsälen statt; eine Tanzveranstaltung für junge Leute. Im Zuge einer Schlägerei mischte „Arl“, wie ihn seine Freunde nannten, dort fünf Polizisten auf. „Der war ja ein mordstrum Knecht“, sagt Hnilicka, „bei dem wusste man nie, was er als nächstes macht.“ Der zweite Name ist österreichweit bekannt: Max Gufler wohnte zwar am Kupferbrunnberg, kam aber immer zum Kartenspielen vorbei. „Ein feiner Herr mit Koffer“, erinnert sich Hnilicka, „sehr gute Umgangsformen und immer viel Geld.“ Geld, das der Heiratsschwindler Frauen abgenommen hatte, die er üblicherweise mit Somnifen – einem Schlafmittel – bewusstlos machte und dann ertränkte. „Wie sie den erwischt haben, ist die Polizei gekommen und hat jede einzelne Wohnung in Korea durchsucht“, erzählt Hnilicka. Sonst gab es in den Baracken nur kleinere Ganoven, wie Mayer sagt: „Zwei Buben von dort haben zwei Jahre unbedingt bekommen, weil sie einen Glanzstoffarbeiter in der Au überfallen und sein Rad in die Traisen geworfen haben. Für 20 Schilling haben sich die das Leben zerstört.“
Verlotterte Beschaulichkeit
Viele Familien hatten sich kleine Vorgärten angelegt, in denen sich tagsüber das Leben abspielte. Angebaut wurde dort nichts, denn gleich am anderen Ufer der Traisen, in Wagram, gab es viele Felder, von denen sich die Koreaner Gemüse besorgten. Ein paar Familien hatten Hühner und Gänse, eine Familie züchtete auch Hasen; das meiste Fleisch wurde gewildert. Von der Caritas bekamen sie oft gelbe Dosen voll Käse, Kondensmilch und Gretschnewaja Kascha, einem russischen Buchweizenbrei. „Ratten hat es halt viele gegeben“, sagt Mayer, „weil die Leute haben ja ihren Müll einfach in die Au geschmissen.“ Auf dem Gelände gab es zwar vier Toiletten neben der Waschküche, aber: „Die hat keiner benützt, weil die sind immer geschwommen. Alles war komplett dreckig“, erinnert sich Hnilicka. Die meisten Bewohner benutzten einfache Kübel und leerten ihre Exkremente in Bunker Nr. 1, den sie für eine Senkgrube hielten, weil er fast zugeschüttet war. Nur Bunker Nr. 2 war damals bekannt. Dort richteten sich die Koreaner eine Bar mit Tresen und Hockern ein. Viele verrichteten ihre Notdurft gleich in der Au. Manchmal kamen Arbeiter der Gemeinde, unter denen auch Pichler war, um die Toiletten wieder zu reinigen und instand zu setzen. „Aber nach ein paar Wochen ist wieder alles geschwommen“, sagt Hnilicka. Pichler: „Die Gemeinde musste den Bunker dann ausräumen, weil das gesundheitlich bedenklich war. Die Toiletten wurden hergerichtet, die Waschküche renoviert und die Müllabfuhr kam. Ab dem Zeitpunkt waren es eigentlich normale Wohnungen.“
Zu den wohl kuriosesten Persönlichkeiten der Barackensiedlung zählte Regina, die „Hundsmutter“. Die geistig beeinträchtigte Frau hielt in einem Verschlag neben ihrer Baracke bis zu 35 Hunde, die Tag und Nacht angekettet waren und immer bellten. „Die hat beim Fleischhacker die gute Wurst gekauft und die haben die Hunde bekommen“, sagt Mayer, „dabei hatte sie eh nicht viel Geld.“ Die Behörde nahm ihr die Tiere irgendwann ab; einen Hund ließ man ihr. Ein anderer Name, der in Erzählungen immer wieder auftaucht, ist das „Mariel“, das gemeinsam mit ihrem Gatten Müll sammelte. „Ihr Mann war im Krieg verschüttet, der hatte Ausfälle“, erzählt Hnilicka. In Mariels Wohnung stapelte sich der Abfall bis zur Decke. Hnilicka: „Wenn die Müllabfuhr wo stehen geblieben ist, hat sie hinten geschaut, was sie findet. Ich habe öfter gesehen, wie sie hineingegriffen und sich ein Brot herausgenommen und direkt hineingebissen hat. Die war aber nie krank!“ Pichler bestätigt diese Zustände: „Wenn ich von Korea heimgekommen bin, musste ich mich immer draußen schon ausziehen, damit ich keine Flöhe heimbringe. Ich habe unserem Chef dann gesagt, dass ich da nicht mehr arbeite. Und er hat gesagt: ‚Ja was sollen wir denn machen? Die Arbeit muss ja erledigt werden‘. Und recht hat er gehabt.“
Was wird aus Kindern, die in solchen Verhältnissen aufwachsen? „Die meisten haben eine Lehre gemacht“, sagt Mayer. Natürlich sind sie heute alle in Pension, aber Zeit ihres Lebens waren sie Maurer, Schlosser, Schweißer, auch ein Polier und ein Autoverkäufer waren unter ihnen; Hnilicka war Pflegeassistent im St. Pöltner Krankenhaus. „Die haben sich fast alle Häuser gebaut und sich etwas geschaffen“, sagt Mayer. Heute schämen sich viele für ihre Vergangenheit, wie er beschreibt: „Die meisten kommen auch zu keinen Klassentreffen, weil sie sagen, da sehen sie alle als die Koreaner.“ Etwa 20 Familien wohnten in den Baracken. „So sechs bis acht Familien sind Korea größtenteils entkommen“, resümiert Hnilicka. „Bei den anderen waren die Kinder auch wieder ständig im Gefängnis. Die, die es geschafft haben, leben heute noch. Die Säufer sind schon alle tot.“
Einige wollen auch zeigen, dass sie es geschafft haben, glaubt Hnilicka und scherzt: „Zwei von uns tragen heute immer so viele Goldketten, dass sie gar nimmer gscheit gehen können.“
Denkwürdiges Vergessen
Korea wurde noch bis in die Siebzigerjahre hinein bewohnt, bis die Baracken abgerissen wurden. Die meisten Koreaner zogen in die Herzogenburger Straße. Pichler war auch hier wieder von der Gemeinde für die Arbeiten eingeteilt worden. Ein großes Waschbecken, an dem sich bereits die Zwangsarbeiter im Weltkrieg gewaschen hatten, nahm er mit nach Hause und verwendete es als Blumentrog in seinem Garten. Gleichzeitig, von 1967 bis 1985, baute die Firma „Transporte Karl Paderta“ Schotter im ehemaligen Judenlager ab.
Der so entstandene Padertasee – heute Viehofnersee – hat eine Fläche von 19,8 Hektar und eine mittlere Tiefe von 3,31 Metern. „Der Bunker des Judenlagers muss noch irgendwo da unten liegen“, glaubt Pichler, „gesprengt haben sie den sicher nicht.“ Danach passierte lange gar nichts, bis der Autor Manfred Wieninger Texte über die Lager veröffentlichte und sie wieder ins Gedächtnis der Stadtbevölkerung rief. Die Stadt stellte Tafeln mit historischen Luftaufnahmen an Radwegen und dem See auf, die auf die geschichtliche Bedeutung des Areals hinweisen. Leider werden diese immer wieder mit Gang-Symbolen überschmiert. 2017 untersuchten Archäologen Korea, fanden aber nichts Besonderes mehr. Dann wurden die Fundamente und Bunker entfernt, um einem Wohnbauprojekt Platz zu machen, dessen Baustart seitdem immer wieder verschoben wird. Gibt es Pläne für ein Mahnmal, das an das Lager erinnert? „Wir haben das immer wieder angeregt“, nimmt die Stadtregierung hier nur eine passive Rolle ein. Psychologe John Haas sieht die Verantwortlichkeit für ein Denkmal sehr wohl bei der Stadt selbst und empfiehlt einen Ansatz, der die Bevölkerung in die Entscheidungsfindung integriert (siehe S. 13). Derzeit hindert die St. Pöltner jedenfalls kaum etwas daran, Korea bald wieder zu vergessen. Pragmatisch gesehen war es ja auch nur eines von mindestens 25 Lagern für Zwangsarbeiter in St. Pölten während der NS-Zeit. Vom Krankenhaus und der Voith bis zur Papierfabrik beschäftigten alle größeren Firmen damals „Hilfswillige“ und sperrten sie in Baracken und Fabrikshallen. Wieviele Gedenktafeln verträgt eine Stadt mit Holocaust-Vergangenheit?
Grausige Schönheit
Der letzte Bewohner Koreas verschwand erst um das Jahr 2006 von dem Areal. Der Obdachlose hatte sich im Bunker einen Schlafplatz eingerichtet. Dosen seiner bevorzugten Biermarke – Gösser Gold – verstreute er überall auf dem Gelände und die umliegenden Bäume behängte er mit allem, was er finden konnte: Weihnachtsschmuck, Damenunterwäsche und sogar Babypuppen. Dieses Verhalten sorgte dafür, dass sich viele – wie schon so oft in der Vergangenheit – nicht mehr in die Au trauten. Manfred Wieninger, der die vergangenen Gräuel des Geländes wohl besser kannte als jeder andere, wusste die bunte Dekoration des Au-Sandlers jedoch in Relation zu setzen. Nach einem Lokalaugenschein vermerkte er in seinem Bericht: „Noch nie in seiner ganzen Geschichte war Korea so schön.“
HISTORISCHER BESTAND
1 Korea
2 Judenlager
3 Ausländerlager
4 Glanzstoff
5 Barackensiedlung
6 Traisensiedlung
7 Säurebachl
8 Zehn Häuser´
AKTUELLER BESTAND
A Traisenpark
B Traisencenter
C Fachhochschule
D Viehofnersee
E Sportzentrum
DAS GLASSCHERBENVIERTEL. Am 1. April 1945, Ostersonntag, flogen etwa hundert schwere Bomber vom Typ B-24 „Liberator“ der 15th Air Force der USA einen Luftangriff auf St. Pölten. Dabei entstand dieses Luftbild vom Norden der Stadt. Korea und das Judenlager sind in der Au gut zu erkennen. Die Baracken in der Herzogenburgerstraße und Matthias Corvinus-Straße gehörten im Ersten Weltkrieg zu einem Militärspital, in der Zwischenkriegszeit zogen arme Leute ein und brachten ähnliche Sitten wie in Korea. So entstand die Bezeichnung „Glasscherbenviertel“ für das Gebiet, das sich vom Mühlweg bis nach Korea erstreckte. Die „zehn Häuser“ gehörten ebenfalls dazu. Damit ist der Wohnblock am Mühlweg, begrenzt von der Peppertstraße und der Doktor Bilcik-Gasse, gemeint, den es heute noch gibt. Das Mühlwegkino gleich daneben hieß im Volksmund „Blutoper“. Zwischen Traisencenter und Glanzstoff befanden sich Schrebergärten und ein weiteres Barackenlager für 400 Zwangsarbeiter.
GEDÄCHTNISSCHWUND ODER PURE VERDRÄNGUNG?
John Haas ist Psychologe, Hochschuldozent und Autor aus Melk und beschäftigt sich mit sozialpsychologischen Phänomenen. MFG hat ihn zum Thema befragt.
Herr Haas, Korea wurde jahrzehntelang in keinen Medien oder Chroniken erwähnt. Vor allem junge Leute wussten bis 2005 nicht, dass es das Lager gab. Wie kann eine Stadtbevölkerung kollektiv vergessen?
Kollektives Vergessen heißt: Wir einigen uns als Stadtbevölkerung implizit darauf, dass wir uns an etwas nicht mehr erinnern. Das kann mit Scham oder Schuld verbunden sein, oder aber auch damit, dass die Diskussion des Themas zu Konflikten führt. Deshalb erachten wir es für die Gestaltung der Zukunft als sinnvoll, nicht mehr darüber zu sprechen.
Wir verdrängen also einen Fakt – wie die Existenz eines Zwangsarbeiterlagers – ganz bewusst?
Das aktive Vergessen, oder besser gesagt Verdrängen, ist ein Vorgang, der kaum verbalisiert wird. Es gibt in der Gruppe einfach den unausgesprochenen Konsens, dass man über dieses Thema nicht mehr spricht. Die menschliche Kultur ist durch eine solche Impulskontrolle erfolgreich geworden. Wir schlagen uns nicht mehr gegenseitig die Köpfe ein, wie in der Steinzeit. Schweigen als eine Form der Impulskontrolle ist in einer komplexen Welt oft das sozial Ökonomischste.
In der Nachkriegszeit waren die Menschen mit dem Wiederaufbau beschäftigt und blickten in die Zukunft. Kann das auch ein Grund sein, warum man sich nicht mehr mit der Vergangenheit auseinandergesetzt hat?
Man geht von einer fast flächendeckenden Traumatisierung der Nachkriegsgesellschaft aus. Jede Diktatur wird von einem Dogma geleitet. Das Pragma, also eine Denkweise, die auf praktische, realistische Problemlösungen abzielt, leidet darunter. Nach dem Ende der Nazi-Diktatur blieb vom Dogma wenig übrig und die Menschen mussten pragmatisch werden: Ziegel schleppen. Holz sammeln. Da spielten Vergangenheitsthemen für die meisten Menschen keine große Rolle, weil sie andere Probleme hatten. Erst als sich ein gewisser Wohlstand etablierte, fand ein Großteil der Gesellschaft die Kraft, Vergangenheitsthemen wieder zuzulassen.
Wie sollte eine Stadt wie St. Pölten Ihrer Meinung nach mit der Wiederentdeckung der beiden Lager umgehen?
Eine verantwortungsvolle Stadt hat die Aufgabe, nicht nur die Zukunft zu gestalten, sondern auch der Vergangenheit Raum zu geben und Formen der Erinnerung zu schaffen. Die Politik sollte hier eine moderierende Rolle spielen und die Bevölkerung mitentscheiden lassen, wie eine Gedenkstätte beschaffen sein kann. Einfach ein Mahnmal hinstellen und sagen „Da dürft ihr traurig sein“ ist ein wenig wirksamer Weg.