MFG - Expedition nach St. Pölten
Expedition nach St. Pölten


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St. Pöltens gute Seite

Expedition nach St. Pölten

Ausgabe 06/2024

Man mag zur „Tangente“ stehen wie man will, sie bescherte der Stadt rund um die Eröffnung jedenfalls Aufmerksamkeit und bewog manch Wiener Redaktion, ihre Journalisten in die vermeintliche Provinz zum Lokalaugenschein zu schicken. Auch ehemalige St. Pöltner besuchten neugierig die Heimat. Wir baten fünf dieser Reisenden, ihre Eindrücke von der Stadt und dem Festival wiederzugeben. Eine externe Bestandsaufnahme, oder, wie es Jonas Vogt von „DIE ZEIT“ formulierte: „Ein Blick von außen auf St. Pölten zum Point in time.“


Matthias Dusini, FALTER
Meinen St. Pölten-Moment hatte ich auf dem Weg vom Zentrum in den Sonnenpark. Eigentlich hatte ich meine Recherchen zu dem Festival Tangente bereits abgeschlossen, fuhr dann aber doch noch einmal von Wien in die niederösterreichische Hauptstadt. Vorzeitig verließ ich die Eröffnung der frisch renovierten Synagoge und spazierte in den Süden, wo es, wie es hieß, ein alternatives Kulturzentrum gibt. Dabei fiel mir die lockere Bebauung auf, die selbst in der Nähe des Zentrums vorherrscht. Die Überraschung kam dann im Sonnenpark, der mir wie das Ideal eines zeitgenössischen Parks erschien: ein Biotop für Vögel, Amphibien und Insekten, von den Anrainern zum Garteln genutzt. An einem solchen Ort lässt es sich doch gut leben.
Ich bin in einer Südtiroler Stadt, Meran, aufgewachsen, die etwas kleiner ist als St. Pölten, aber kulturell ähnliche Vorzüge hat. Es gibt einmal alles: ein Theater, ein Programmkino, ein Jugendzentrum und einen Konzertsaal. Als Jugendlicher habe ich mich für Film und Literatur interessiert und saß manchmal mit ein paar Freunden allein in einem Pasolini-Film oder einer Dichterlesung. Dass bei der Kulturförderung der Underground zu kurz kam, versteht sich von selbst. Der Hass auf den Kleinstadtmief ging einher mit der Sehnsucht nach dem wahren Leben in Berlin oder London. St. Pölten deckt heute das ganze Spektrum ab – vom Festspielhaus mit internationalen Tanzproduktionen bis zur Subkultur im Sonnenpark.
Auch die Themen, die in der Stadt diskutiert werden, erinnern mich an früher. Scheinbar nebensächliche Anlässe führen zu jahrelangen Diskussionen. So wird in St. Pölten über den Domplatz gestritten. Geschäftsleute sind dagegen, dass er autofrei wird. Wo parken dann die Kunden? Ökologisch interessierte Bürgerinnen und Bürger bemängeln bei der Neugestaltung das Fehlen von Bäumen. Und dann noch Fragen der Archäologie. Soll man die Reste der Vergangenheit zugänglich machen oder zudecken? Auch wenn solche Auseinandersetzungen provinziell wirken. Die Emotionen zeigen doch, dass hier Menschen über grundsätzliche Themen ihrer Stadt streiten – über Natur, Mobilität und Geschichte.
Was ich in meinen Gesprächen mit Einwohnerinnen und Einwohnern  immer wieder hörte, sind Adjektive wie „undefiniert“ oder „profillos“. Gewöhnlich verwendet man solche Ausdrücke, um Shopping Malls, Parkplätze oder Autobahnen zu beschreiben. In dem von Touristen überrannten Meran hätte ich mir etwas mehr Nicht-Ort, wie der französische Autor Marc Augé solche Plätze dazwischen nennt, gewünscht. Wir trafen uns als Teenager gern im Espresso einer Indoor-Kegelbahn, um dem Übermaß idyllischer Motive, den Blicken auf Berge und Palmen zu entkommen. Und lasen bei Peter Handke, welche Poesie Hinterhöfe und Eisenbahnunterführungen besitzen. St. Pölten wirkt wie eine Stadt, die nicht zu Ende erzählt ist – die offen für neue Interpretationen bleibt. Zu nebensächlich für eine Landeshauptstadt, politisch eine rote Insel in einem schwarzen Meer, muss St. Pölten immer neue Behauptungen über sich aufstellen.

Stefan Weiss, Der Standard
Als gebürtiger Kremser ist man selbst in den Neunzigerjahren noch mit dem bösen Klischee aufgewachsen, dass St. Pölten eine Stadt ist, um die man besser einen weiten Bogen macht. Nicht nur, weil diese angebliche Landeshauptstadt einem schon beim Vorbeifahren wegen der damals dort befindlichen Glanzstoff-Fabrik ungut in die Nase stieg, verrufen war „Saunkt Bötn“ auch wegen unsinniger Eigenheiten wie dem mehrspurigen Kreisverkehr und anderer Kfz-Schikanen. Daran konnte auch nichts ändern, dass man mich zur Bundesheer-Führerscheinausbildung ausgerechnet dorthin abkommandierte. Auch kulturell war St. Pölten für Leute aus dem Kremser Einzugsgebiet ein Nicht-Ort. Blasmusikaufmärsche im neu entstehenden Regierungsviertel waren das höchste der Gefühle. Die unbequeme Wahrheit aber: Jugendkultur gab es drüben in Pölten immer schon mehr als in Krems. Ja, die Szene galt zwar als prollig, ein bisserl „tiaf“, viel Hip-Hop und Gangsterstyle, im Rückblick betrachtet war das sich snobistisch bürgerlich und „besser“ gebende Krems aber vergleichsweise uninspiriert, lebte vor allem vom Vorteil, eine große Schulstadt zu sein. Zeitgleich mit den kulturpolitischen Anstrengungen des Landes Nieder­österreich, nicht nur Krems, sondern vor allem auch St. Pölten planmäßig aufzuwerten, zog mit dem Frequency-Festival auch Österreichs größtes Popfestival dorthin. Seither geht es, wie mir scheint, mit dem kulturellen Ruf der Stadt bergauf. VAZ, Bühne im Hof, Festspielhaus, Landesmuseum, Parque-del-Sol-Festival im Sonnenpark – all das hat sich gut etabliert und spricht ein vielfältiges Publikum an, von Boomer bis Gen-Z, von Hoch- über Mainstream- bis Subkultur. Die immer kürzer werdende Zugverbindung nach Wien motiviert mittlerweile sogar mir bekannte g’standene Kremser, laut über einen Umzug nachzudenken. „Why not!?, heißt es plötzlich aus Mündern, die früher „bist deppert?!“ gesagt hätten. Um die unbelohnte Kulturhauptstadt-Bewerbung, die die Entwicklung der letzten Jahre gekrönt hätte, tut es mir ehrlich leid, gerade St. Pöltens spannende Stadtgeschichte hätte eigentlich mehr Bühne verdient. Die Tangente ist als Ersatzprogramm gut gemeint, krankt aber aus meiner Sicht am selben Problem, an dem die Hauptstadt-Bewerbung scheiterte: Zu viel wird „von oben“ mit importiertem Kulturmanagement-Knowhow und generalplanerisch eingesetzten Landeshauptfrau-Millionen übergestülpt, zu wenig kommt „von unten“ aus der Bevölkerung und den sich entwickelnden Szenen selbst heraus. Am sinnvollen Zusammenspiel zwischen Land, Stadt und lokalen Initiativen müssen aber auch Städte wie Linz und Graz arbeiten, Krems sowieso. St. Pölten ist zu seinem Imagewandel zu gratulieren, die Stadt möge erblühen und viele (junge) Menschen anziehen, die dort eine lebenswerte und leistbare Zukunft sehen. Mich kriegt ihr (vorerst) zwar nicht. Ich mache aber auch lange schon keinen Bogen mehr um die Stadt, nicht einmal um den Kreisverkehr.

Dietmar „Hasi“ Haslinger, Weltenklang
Als ehemaliger Mit-Erfinder, Produzent und Co-Programmchef des St.Pöltner Höfefests  (1993-2003) und als Durchführender von über 4.000 Konzerten in Europa als Musik-Agent wage ich behaupten zu können, ein gewisses Know-how in Sachen Kulturveranstaltungen zu besitzen. Dieser Erfahrungsschatz hätte in Verbindung mit einigen anderen Schatztruhen heimischer Kulturpioniere wunderherrlich für die Ausrichtung eines stilvollen Mehrspartenfestivals im alten Stile Genüge getan, garantiert Tausendschaften an glücklichen Besuchern erfreut und mit der Hälfte des nun in den Wind geföhnten Budgets der „Tangente” umgesetzt werden können. Aus einer Trotzreaktion nach dem Kulturhauptstadt-Waterloo wurde aber mit Muss die „Tangente”, ein „Festival für Gegenwartskultur” aus dem Boden gestampft (welches St.Pölten ja mit dem Donaufestival quasi in Riechweite ohnehin vor der Türe hat), das gerade mal eine handverlesene Kultur-Elite an Besucherinnen und Besuchern nach Aelium Cetium lockt. 
Dass man ein mit knapp 30 Millionen Euro subventioniertes Festival und Kulturjahr künstlich aufbläst, weil man nicht das Rückgrat hatte zu sagen: „Ok, Bewerbung für Europäische Kulturhauptstadt nicht gewonnen, somit Gratulation an Bad Ischl, und schauen wir doch jetzt mal, was unsere eigenen Kultur-Schaffenden vor Ort vielleicht brauchen könnten”, ist eine Sache, dass man dann aber diese vielen Millionen schändlich verheizt und eben genau diese lokalen Kulturarbeiter überhaupt nicht zum Zuge kommen lässt, sondern wiederum aus der weiten Ferne völlig ortsfremde „Kulturerfinder” holt, abgetackelte Produktionen der Wiener Festwochen zur Aufführung bringt und auch sonst sehr viel Rauch um Nichts erzeugt, ist beklagenswert und sehr weit weg entfernt von volksnah. 
Aus der Distanz meiner neuen Heimat im Bezirk Baden betrachte ich nach wie vor die Entwicklungen in St. Pölten, wo ich 58 Jahre gelebt habe, kritisch liebevoll und komme auch regelmäßig an die Traisen. 
So auch am 16. Mai. Mit völligem Unverständnis nahm ich an diesem Tag einmal mehr die neuen, „von Autos befreiten” (und somit auch von Innenstadt-Kunden/-Frequenzbringern befreiten) Flächen rund um die Promenade und Linzerstraße wahr. Wie schon bei meinen vorigen Besuchen bewegte sich dort genau niemand, und das, obwohl in Mitte der Linzerstraße im Löwenhof ja das Herzstück der aktuell stattfindenden „Tangente“ liegt, wo eigentlich das Leben pulsieren müsste. Liegt vielleicht aber an der skurrilen Idee den historischen Löwenhof in einen Löwinnenhof umzutaufen.
Beim langen Rundgang durch die Innenstadt konnte ich auch fast keine Frequenz wahrnehmen, dafür neue Leerstände und bevorstehende Geschäftsschließungen. Und in auch noch so kleine Grundstücke werden Wohnzwinger um Wohnzwinger betoniert (Tragödie Karmeliterhof! Tragödie Jahnstraße!). Nur beim Bauen scheint es ein sichtbares Wachstum zu geben – doch wohin will man wachsen. Und warum und für wen? St. Pölten verkommt zu einer hässlichen, völlig verbauten und versiegelten Schlafstadt. Selbst Kleinststädte wie Ried im Innkreis (13.000 EW) oder Eisenstadt (15.000 EW) haben mittlerweile einen interessanteren Branchenmix!
Wie man sich dabei mantramäßig immer noch selbst beweihräuchern kann, ist mir völlig rätselhaft. Wer weckt diese Geister endlich auf?

Thomas Winkelmüller, DATUM
Laut dem Chefredakteur dieses Magazins bin ich in St. Pölten ein „Auswärtiger mit indigener Sozialisierung“. Das ist lustig, weil es gleich doppelt stimmt. Ich habe einen Großteil meiner Jugend hier verbracht, lebe aber schon seit circa sechs Jahren in Wien. Außerdem stamme ich aus Pottenbrunn und obwohl ich mich in der Bundeshauptstadt als St. Pöltner zu erkennen gebe: Daheim bin ich Pottenbrunner.
Meine Identität bietet mir nun den Vorteil, St. Pölten zu kennen, es aber genug vergessen zu haben, um beim Spazieren durch die Innenstadt meine alte Heimat neu zu entdecken.
Spontan schießt mir da der Second-Hand-Shop der Caritas in der Brunngasse in den Kopf. Der liegt eingeklemmt zwischen Mariazeller Straße und Bahnhof. Wahrlich kein schönes Eck der Stadt, ich finde es aber gut. Dort gibt es Burberry Sakkos und Yves Saint Laurent Hemden wie in Wiener Vintage-Boutiquen – aber deutlich billiger, weil nicht gentrifiziert. Ein Geheimtipp  und gute Alternative zu überteuerten Pop-Up-Kilo-Stores in den hippen Bezirken der Bundeshauptstadt.
Auch dem Wiener Angebot überlegen: Der Sonnenpark in Spratzern. Er ist dichter begrünt als die Wiener Gärten und damit eher geeignet, um (theoretisch) heimlich zu kiffen und gleichzeitig besser erreichbar als die verwachsenen Teile der Donauinsel. Man kann dort aber genauso baden, feiern und im Zweifelsfall schlafen. Habe ich gehört.
Während ich so schreibe, fällt mir nichts mehr ein, was konkret an St. Pölten besser sein sollte als an Wien. Vielleicht muss es das auch gar nicht. St. Pölten braucht nicht mit Wien mithalten, sondern nur 20 Minuten mit dem Zug entfernt liegen und das tut es. 
All das mag jetzt sehr oberflächlich klingen und so war es bis vor kurzem auch meine Beziehung zu St. Pölten bestellt. Bis mein Vater diesen März mehr oder weniger überraschend verstarb. Seitdem bin ich wieder öfter in St. Pölten, wodurch mir nun auch ein trauriges Privileg bewusst wird: Vielleicht gehört mir das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, eher früher als später. Meine Mutter und ich gehen seitdem durch die Zimmer und erstellen Listen. Wann müsste ich das Dach neu machen lassen, wo verläuft welche Wasserleitung, wie funktionieren unsere Gartenroboter. Mich schmerzt das aus offensichtlichen Gründen. Und es zwingt mich, mir die Frage zu stellen, ob ich im Zweifelsfall einmal nach St. Pölten zurückkehren möchte oder in Wien bleiben werde.
Als ich unlängst übers Wochenende wieder bei meiner Mutter war, kam ich der Antwort ein Stückchen näher. Meine Freundin und ich machten ein paar Erledigungen in der Stadt. Einkauf beim Dehner, Hallo sagen zur Familie, Besuch beim Caritas-Shop. Wir saßen danach in unserem roten, mit Dellen geschmückten Peugeot und fuhren die Mariazeller Straße entlang. Als wir bei einer Ampel hielten, schaute sie länger aus dem Fenster. Da war ein Autohaus, noch ein Autohaus, eine alte Tankstelle. Alles, was an St. Pölten hässlich und uninteressant sein kann, war es in diesem Moment auch. Und dann sagt sie: „Ich fühl mich echt wohl hier.“ 
Mit der Zeit verstehe ich sie immer besser, auch wenn ich nicht weiß, warum. St. Pölten war für mich immer ein alter Freund, den ich nach ein paar Jahren wiedersehe – inklusive der unangenehmen Stille am Anfang eines durch Zufall erzwungenen Gesprächs. Als ich aber an der Kreuzung in diesem Meer aus Beton stand, wurde St. Pölten zu einem Freund, den ich nach ein paar Jahren wiedersehe und in Zukunft öfter treffen könnte. Es würde mich nicht stören.

Jonas Vogt, DIE ZEIT Österreich / Der Standard 
Vor circa einem Jahr offenbarte mir mein Freund Thomas, dass er nach St. Pölten ziehen würde. Das ergab Sinn – seine Frau ist Niederösterreicherin, die Wohnung in Wien wurde mit Kind zu klein –, hatte für mich aber Symbolkraft. Thomas ist der erste Mensch, den ich kennenlernte, als ich 2007 nach Wien kam. Ein paar Wochen vor seinem Umzug bekam ich dann auch noch eine Anfrage der ZEIT Österreich: Ob ich mir vorstellen könnte, einen Text über St. Pölten zu schreiben – die Stadt habe doch gerade ihren Moment. Der Job, das Leben, manchmal überlappen sie sich eben. 
Anfang Mai erschien der Text, mit positivem Ton und dem Titel „Gerechtigkeit für St. Pölten!“. Es war der Hot Take zur richtigen Zeit. Seit Jahren habe ich nicht mehr so viel Feedback auf meine Arbeit bekommen. Die Wiener waren überrascht, die St. Pöltner stimmten zu. Die Exil-St.-Pöltner ebenso, aber teilweise „ausdrücklich mit Unbehagen“. 
Mein Job ist hier, einen Blick von außen auf die Stadt zu werfen. Und das kann ich leider nur aus der leicht snobistischen Perspektive eines Einwohners von Wien tun, so ehrlich bin ich. Auch ich hatte bis vor einiger Zeit denselben Baukasten an Vorurteilen wie alle: St. Pölten war für mich klein, nett und in Niederösterreich. Das einzig Interessante war das Donaufestival. Heute weiß ich natürlich, dass das nicht in St. Pölten ist. Vor zehn Jahren hätte ich zwei bis drei Sekunden nachdenken müssen.
Was änderte diese Sicht? Zum einen verlagerte sich das Leben von einigen Bekannten – siehe Thomas – schrittweise dorthin. Und irgendwann fiel auf, dass die auf die zynischen Bemerkungen bezüglich der Stadt nicht mehr einstiegen. Und neben dem persönlichen Älterwerden änderte auch Covid etwas Grundlegendes: Die Leute fanden die Idee, 50 Kilometer in eine andere Stadt zu fahren und dort Kulturaktivitäten mit Daydrinking zu verbinden, angenehmer als bis morgens im Club zu hängen. Am Wochenende nach St. Pölten zu fahren galt plötzlich als legitim.
Nun ist es ja weiterhin so, dass die Vorurteile aus dem Baukasten – wie so oft – ja einen Kern von Wahrheit haben. St. Pölten ist klein, nett und in Niederösterreich. Manch eine Kulturinitiative wirkt, als wäre sie aus dem Hubschrauber abgeworfen. Und auch ein Festival wie die Tangente wird von Johanna Mikl-Leitner eröffnet, wie sollte es auch sonst sein. Aber St. Pölten ist eben auch die rote Insel mit der weitgehend autofreien Innenstadt, die an einem Frühsommerabend einfach ein angenehmerer Ort ist. Es passiert viel in der Stadt, und vielleicht das erste Mal seit langem wirkt sie genuin interessant: Wegen dem, was dort vor sich geht, und nicht nur, weil es „mal was anderes“ als Wien ist. 
St. Pölten verlangt Ambiguitätstoleranz, um hier dieses Modewort zu benutzen. Das verwirrt zum einen, weil Städte dieser Größe normalerweise keine Ambiguität auslösen. Es ist aber auch ein ehrliches Kompliment an alle Bewohner, Kulturarbeiter und Politiker, die dafür gesorgt haben, dass die positiven Seiten der Stadt verstärkt zu Menschen wie mir durchdringen, die ihren Bezirk geistig kaum verlassen. Nichts ist so schwer, wie Vorurteile zu ändern. Vor allem in Wien.