MFG - Ein Theater gibt sich öffentlich
Ein Theater gibt sich öffentlich


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Ein Theater gibt sich öffentlich

Text Andreas Reichebner
Ausgabe 03/2020

Mit den Menschen in der Stadt ins Gespräch kommen, Fragen stellen und den Blick auf die Vergangenheit werfen, um die Gegenwart zu erkennen. Das Landestheater Niederösterreich sucht den permanenten Austausch mit dem Kontext Mensch und Raum in St. Pölten. Dabei setzt man auf neue Formate, die an besonderen Orten mit besonderen Atmosphären ganz besondere Geschichten erzählen.

Als inhaltlicher und intellektueller Überbau fungiert das Erinnerungsbüro, von Marie Rötzer  und Julia Engelmayer in gemeinsamer Arbeit geführt. Der Wunsch, diese lokale Verortung in Bezug zur Vergangenheitsschau zu gestalten, wurde anlässlich des Paulus Hochgatterer Stückes „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“ immanent. „Beim Publikumsgespräch kam es zu einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit der Problematik der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges in Niederösterreich hier am Theater und es entstand ein großes Bedürfnis, sich mit diesem Thema zu beschäftigen“, erzählt Julia Engelmayer. Der Gedanke des Erinnerungsbüros, einem Kunstprojekt, das sowohl innerhalb, aber auch vorwiegend außerhalb des Theaters nach atmosphärischen Orten sucht, um Geschichten aus der Vergangenheit der Landeshauptstadt zu erzählen, wurde geboren. Die Programmschiene ist in vier Teile aufgespalten: „Nathan 575“, „Die lange Tafel“, „Die lebendige Bibliothek“ und „Ein Stadtspaziergang“.
Nathan 575
„Als theatrale Installation wird sich Nathan 575 präsentieren“, so Engelmayer, „Textstellen und Szenen aus Lessings Nathan treten in Dialog mit Zeitzeugenberichten aus St. Pölten.“ Wie war das jüdische Leben in St. Pölten am Anfang des 20. Jahrhunderts? Wie stellte sich der frühe Antisemitismus in der Stadt dar, welche Erschütterungen das Novemberpogrom bedeutete, wie gelang, im günstigsten Fall, die Flucht vor den Nazischergen? Dafür fand das Landestheater starke Kooperationspartner, wie das Institut für jüdische Geschichte Österreichs. Ludwig Wüst und Maja Savic werden Regie führen und die Musik kommt vom Akkordeonspieler Helmut Stippich. Tobias Artner, Emilia Rupperti und Helmut Wiesinger treten an, um den Geist der Ringparabel im Wiederschein zu originalen, biografischen Texten von Menschen, die sich unmittelbar mit den Repressalien und Unmenschlichkeiten der NS-Herrschaft konfrontiert sahen, auferstehen zu lassen. „In Kooperation mit dem Verein MERKwürdig wird es auch ein Gastspiel am 21. April in einer Originalbaracke des KZ-Außenlagers von Mauthausen, in Melk, geben. Danach wird die Inszenierung in der ehemaligen Synagoge in St. Pölten zu sehen sein“, so Engelmayer, die in diesen Zusammenhang auf die eigene Atmosphäre an diesen besonderen Orten, die für die Produktion ausgewählt wurden, hinweist. Bei der Findung der historischen Texte konnte man sich etwa auf Publikationen von Christoph Lind, der einen großartigen Beitrag zur Erforschung und zur Erinnerungskultur der jüdischen Gemeinde in St. Pölten sowie jenen Niederösterreichs leistete, stützen.
Die lange Tafel
Ein Gesprächsformat, das in Verbindung mit der aktuellen Ausstellung im Landesmuseum Niederösterreich „Der junge Hitler – Prägende Jahre eines Diktators 1889-1914“ steht, wird zentrales Motiv des Projektes „Die lange Tafel“ sein. „Nach Führungen mit Expertinnen und Experten, vornehmlich Historikerinnen und Historikern, durch die Ausstellung wird bei Brot, Wein und Wasser in einem moderierten Gespräch über den kulturellen Humus des frühen Antisemitismus diskutiert werden“, erzählt Engelmayer, „dabei ist an Gruppen von zirka 30 Personen gedacht.“ Angefragt als Moderatoren sind Kulturwissenschaftler Christian Rapp und die Historikerin Martha Keil. „Dabei wäre es sehr toll, wenn Menschen auch persönliche Geschichten aus ihren Familien mitbringen“, so Engelmayer.
Lebendige Bibliothek
Den direkten Zugang zur Gegenwart zeigt das Vermittlungskonzept „Lebendige Bibliothek“, das Julia Perschon in die Wege leitet. Junge Menschen mit Migrationshistorie und Flüchtlinge werden hier in einem außergewöhnlichen Format ihre Geschichten erzählen. Zusammen mit dem Theaterclub wird so eine lebendige Bibliothek entstehen, wo sich das Publikum praktisch die Medien – also Menschen mit ihren Wörtern und persönlichen Geschichten – ausleihen kann. „Das Theaterlabor mit Flüchtlingen läuft bei uns im Theater schon einige Zeit“, so Engelmayer. „Es ist uns hier sehr wichtig, dass die Geschichten aus den Jugendlichen selbst herauskommen“, weiß die Theatervermittlerin Julia Perschon aus ihrer reichen Erfahrung. Auftauchen werden dabei eigene Erzählungen, Geschichten von Verwandten und von Widerstandskämpfern aus St. Pölten. Mehrsprachig organisiert, werden die Wörter lebendig, verbinden sich die Geschichten der unmittelbaren Vergangenheit mit denen des Zweiten Weltkrieges. Darüber hinaus wird auch in die Zukunft geblickt. Wie stellen sich Flüchtlinge ihr weiteres Leben in Österreich vor?
Ein Stadtspaziergang
„Sie war das erste Mädchen, das in St. Pölten am Gymnasium maturierte“, erzählt Julia Engelmayer über die Protagonistin des vierten Projektes des Erinnerungsbüros. Rosa Kubin, geborene Lustig, erlangte 1925 ihre Matura und promovierte 1931 in Chemie an der Uni Wien. 1938 gelang ihr mit ihrem Mann Ludwig über Kanada die Flucht in die USA, wo sie als Assistenzprofessorin an der Middlesex University arbeitete. „Bettina Kerl, eine unserer Schauspielerinnen wird in die Rolle der Zeitzeugin Rosa schlüpfen und in einer theatralen Stadtführung das Publikum zu wichtigen Orten des jüdischen Lebens in St. Pölten geleiten“, zeigt Engelmayer das Anliegen dieses Projektes auf. Dort werden Hintergründe dargestellt, Lebensgeschichten jüdischer Stadtbewohner offenbart.
Mit den Menschen in der Stadt ins Gespräch kommen wird weiterhin im Fokus des Landestheaters stehen, denn 1820 wurde das Theater gegründet, also steht ein Jubiläum an. Nicht müde wird man dabei, Fragen zu stellen: „Wie wollen wir als Mensch mit Respekt leben, wie soll sich die Gesellschaft entwickeln, wie funktioniert das mit der Toleranz – das wird ein fortlaufendes Projekt von uns sein, wird uns weiterhin begleiten“, blickt Engelmayer in die unmittelbare Zukunft und verweist auf das Bürgertheater, das sich in der kommenden Produktion „Eine Stadt sucht ihr Theater“ ebenso auf eine Spurensuche nach Orten mit speziellen Geheimnissen begeben wird.
Ein großes Bedürfnis, gemeinsam mit den Menschen vor Ort ein Bewusstsein zu entwickeln, steckt hinter den Interventionen des Landestheaters. Deshalb sucht man auch den Austausch, die Öffentlichkeit, auch abseits der großen Bühne im Hause.

Steilwand – ein Theateract am DJ-Pult

Und diese Öffnung, dieses Hinausgehen in die Stadt zeigt sich auch intensiv in einer anderen Produktion, die dieser Tage als österreichische Erstaufführung im schwarzen Raum von Lames im Sonnenpark fulminant anlief. Dabei geht das Landestheater auch beim In-Szene-setzen neue Wege. „Die Produktion ist auf meinem Mist gewachsen“, erzählt Tim Breyvogel, der den Text des britischen Dramatikers Simon Stephens schon am Staatstheater Mainz unter Marie Rötzer gegeben hat, nonchalant. „Simon hat den Text auf Englisch gelesen, ich auf Deutsch.“ Damals nur als Lesung abgehalten, entpuppt sich die aktuelle Produktion nun als Clubformat. Breyvogel agiert an kleinen Synthesizern, wo er fette Beats erzeugt und hämmern lässt, bringt so den Text enorm in Fahrt. „Bei meiner Performance trete ich an, um Musik live zu machen, zu arrangieren, an den Schrauben zu drehen und am Live-Set die Geschichte überhand nehmen zu lassen“, so Breyvogel, „es ist eine irrsinnige Überforderung, hat aber gleichzeitig viel mit der Figur zu tun.“ Der Text von Stephens stellt einen jungen Vater in den Mittelpunkt, der im Laufe des Abends seine traurige Geschichte loswerden will. „Eine furchtbar schreckliche Story, die für die Figur selbst noch ein sehr frisches Ereignis darstellt“, lässt Breyvogel, der diesen intensiven Abend gemeinsam mit seiner Frau Annette Holzmann vorbereitet hat, durchblicken. „Bei den Proben hat mir meine Frau ordentlich auf die Finger geklopft und mich aufgefordert mehr Erzähldruck zu erzeugen.“ Und das ist der Regisseurin Holzmann gut gelungen, denn am Premiere-Abend im schwarzen Raum spielte Breyvogel als wäre er kurz davor, dass ihn der Teufel holt. Er schraubte an den Synthis, quetschte einen Sound hervor, der den Text vor sich hertrieb, sein furioses, drängendes Spiel endete in absoluter Vehemenz. „Danach gibt es Tempo, der Modus, das raus zu tanzen, ist wichtig dabei“, gab Breyvogel den Takt des Abends, der dann von weiteren DJs wie DJ Lichtfels alias Andreas Fränzl, übernommen wurde, vor. „Es war uns wichtig, dass dieser Abend niederschwellig funktioniert. Wir wollen damit eine andere Zielgruppe ansprechen, Leute, die, um ins Theater zu gehen, eine Hürde überwinden müssen“, so Breyvogel, der „gerne in allen möglichen Clubs dieses Ding spielen würde.“ Theatergigs in der ehemaligen Glanzstoff-Fabrik und im Freiraum sind schon fixiert.
Theater auf der Suche nach neuen Räumen, neuen Formaten, neuen Erzählformen und kontextuellen Begegnungen.
INFO
Nathan 575
ab 21. April
Die lange Tafel
ab 28. April
Lebendige Bibliothek
ab 20. Mai
Stadtspaziergänge
ab Mai
www.erinnerungsbuero.at