MFG - Tausche Spritze gegen Hoffnung
Tausche Spritze gegen Hoffnung


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Tausche Spritze gegen Hoffnung

Text Johannes Reichl
Ausgabe 02/2007

Gratis-Spritzen für Drogenabhängige, kurz Spritzentausch. Dies ist eine jener Maßnahmen, die im Zuge des Jugendentwicklungsplanes LIMELIGHT der Stadt St. Pölten seitens der Experten einhellig gefordert wurde. Eine Projektgruppe befasst sich mit der Materie. Wir erkundigten uns nach dem Status Quo.

Die Situation
Zu Beginn drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt Bedarf gibt. Zwar findet man beizeiten Spritzen an diversen Orten, „Zusammenrottungen“ von Junkies wie am Wiener Karlsplatz gehören aber noch nicht zum St. Pöltner Erscheinungsbild. Die Betonung liegt auf „noch“, wie der Jugendkoordinator der Stadt, DSA Wolfgang Matzl, dereinst selbst als Streetworker am Karlsplatz aktiv, einräumt. „Wir haben Ansätze einer offenen Szene. Öffentlichen Verkauf gibt es zwar noch nicht, aber wir sind fast am Beginn, deswegen ist jetzt ein richtiger Zeitpunkt, um zu reagieren.“ Auch DSA Sascha Bernardis, ebenfalls ehemals am Karlsplatz aktiv und heute für die „Fachstelle für Suchtberatung“ ebenso engagiert wie als geschäftsführender Obmann des Vereins „Jugend & Lebenswelt“, der mit seinen Streetworkern am nächsten bei den Betroffenen ist, bestätigt „dass es jetzt Zeit ist, um Angebote für die Betroffenen zu schaffen. Es gibt eine Gruppe, von Szene kann man aber noch nicht sprechen.“ Offiziell liegt die Zahl von IV’s, also Suchtkranken, welche intravenös konsumieren, bei rund 170 Leuten. „Das sind jene, die offiziell im Substitutionsprogramm sind. Erfahrungsgemäß muss man die Zahl mal drei multiplizieren“, stellt DSA Klaus Süß, Leiter der Jugendnotschlafstelle JUMP diesbezüglich fest. Allein in seiner Einrichtung sind rund 30% der Klienten IV‘s. Man kann demnach von über 500 Betroffenen ausgehen. Einzugsgebiet ist neben St. Pölten insbesondere das Traisental, „wo es eine Art No Future Generation gibt.“
DSA Barbara Fellöcker, Leiterin des Steppenwolf und langjährige Suchtberaterin, die u.a. eine Angehörigengruppe von Drogen- und Medikamentenabhängigen leitet, überraschen die Zahlen nicht. „St. Pölten ist natürlich betroffen, weil dieses Phänomen zu einer urbanen Entwicklung gehört – das bleibt quasi nicht aus. Faktum ist, dass es Suchtkranke gibt und daher ein Spritzentausch logische Konsequenz sein muss!“

Die Voraussetzungen
Interessanterweise ist der Spritzentausch-Bedarf u. a. auch durch das Substitutionsprogramm mitentstanden, im Zuge dessen Suchtkranke auf legale Weise ein Substitut statt „ihrer“ Droge bekommen. Dieses Programm funktioniert nach Fellöcker nicht wirklich im Sinne des Erfinders. „Es wird nicht nur zur Überbrückung genutzt, also als Teil der Therapie, sondern steht auch jenen zu, die noch gar keinen Versuch einer Therapie unternommen haben. Damit erreicht man eigentlich keine Reduktion, setzt nicht an der Wurzel an. Die psychosoziale Betreuung, wird leider vernachlässigt.“ Auch Süß bestätigt eine gewisse Problematik des Systems. „Das Subsititutions-Programm läuft über die Apotheken. Die Suchtkranken müssten vorm Apotheker das Präparat mit Wasser schlucken. Das geschieht in den seltensten Fällen, weil die Apotheker die Suchtkranken meistens so schnell wie möglich wieder draußen haben wollen. Diese nehmen daher das Substitut mit, schlucken es dann aber nicht, sondern verflüssigen es mittels Aufkochen und spritzen es intravenös.“ Ein Missbrauch, der aber noch immer besser sei, als etwa Heroin zu spritzen „und weil die Leute das ja legal beziehen und damit wenigstens aus der Beschaffungskriminalität draußen sind.“ Freilich, so räumt Fellöcker ein, werde das Substitut, das die Entzugserscheinung hemmt, aber nicht den Rauscheffekt auslöst, deshalb oft mit anderem versetzt.
Gerade aus diesem Blickwinkel sieht sie ebenso wie alle ihre Kollegen die Notwendigkeit des Spritzentauschprogrammes gegeben, und zwar nicht in Form von irgendwelchen anonymen Automaten, sondern in persönlichem Kontakt. Sandra Eigenbauer von der Suchtberatung der CARITAS stellt diesbezüglich fest: „Sinn und Zweck ist ja auch, dass der Spritzentausch immer unter Anwesenheit von Fachleuten – ein Arzt, ein Sozialarbeiter – erfolgt. Damit ist ein regelmäßiger Kontakt hergestellt und man kann versuchen, den Suchtkranken mittels Beratung und Vermittlung zu anderen Institutionen weiterzuhelfen, damit sie vielleicht überhaupt von der Sucht wegkommen.“ Vordergründig gehe es freilich, wie Süß ausführt, um „Harm  Reduction“, also Schadensreduzierung, „weil ja gerade die Jugendlichen alles ausprobieren und sich Cocktails mixen, was das Gefährlichste ist. Wenn man diese im Zuge eines Spritzentauchprogrammes erreicht, kann man Aufklärungsarbeit leisten.“ Wenn sich jemand aber schon „so pervers es klingt, damit auseinanderzusetzen beginnt, ob er gesund oder ungesund konsumiert, ist das ein erster Schritt zur Selbstverantwortung“, so Bernardis. Und genau darum gehe es, diese möchten die Sozialarbeiter fördern. „Während Suchtberatungsstellen ja schon hochschwellige Einrichtungen darstellen, die Veränderungswillen voraussetzen, gehen wir auf Personen zu, die noch kein Veränderungspotential zeigen. Der Kontakt kann eine Auseinandersetzung auslösen!“

Sicherheit für Suchtkranke
Zudem spielt natürlich der Gesundheitsaspekt eine eklatant wichtige Rolle. „Derzeit gibt es Needle-Sharing, mehrere Leute verwenden also eine Spritze. Durch den Spritzentausch, wo jeder gratis seine eigenen Spritzen bekommt, kann man eine hohe Durchseuchung der Zielgruppe bei Krankheiten wie HIV, Hepatitis, Infektionen etc. hintanstellen. In Wien etwa, wo jährlich offiziell über 2.000.000 Spritzen getauscht werden, zeitigt das bereits große Erfolge“, stellt Matzl fest. Dass die IV’s trotz derzeit schon vermeintlich geringer Kosten für die Spritzen (ca. 20 Cents) dennoch das Risiko einer Ansteckung auf sich nehmen, liegt für Süß auf der Hand. „Als Drogenkranker braucht man immer Geld – und zwar für die Drogen und nicht für die Spritzen. Deshalb spart man und spritzt lieber unter hygienisch katastrophalen Bedingungen und Schmerzen. Ich kenn Leute, die ausschauen, als kämen sie vom Fleischhauer, weil sie schon ganz stumpfe Nadeln verwenden.“ Prinzipiell gehe es daher darum, dass – wenn jemand schon krank sei – er sich nicht mit noch etwas Weiterem ansteckt. Fellöcker bringt es auf den Punkt: „Gesundheit vor Stigmatisierung und Illegalität!“ Matzl formuliert es noch drastischer: „Zuerst gilt es, das Überleben zu gewährleisten.“

Sicherheit für Bevölkerung
Zugleich ist ein relevanter Aspekt auch jener der Sicherheit für die Bevölkerung. Derzeit findet man bisweilen in der Öffentlichkeit gebrauchte Spritzen – nicht ungefährlich. Durch das Spritzentauschprogramm würde dieses Risiko minimiert, wobei man diesbezüglich sinnvollerweise auch gleich gewährleisten sollte, dass die Suchtkranken dort, wo sie die Spritzen bekommen, auch konsumieren können! Derzeit werden sie im Prinzip in die Öffentlichkeit gedrängt. „Viele Suchtkranke sind obdachlos. Irgendwo muss der Süchtige aber hin, um zu konsumieren, und daher verlagert sich das in öffentliche Bereiche wie Parks oder öffentliche Toilettanlagen, wo man auch die Spritzen auswaschen kann“ , erläutert Eigenbauer das Problem. Zugleich stellt sie fest, dass „das Spritzentauschprogramm aber ein eigenständiges Projekt sein muss, das nicht in einer Suchtberatung inkludiert sein kann.“
Außerdem wird einem gewissen „Spritzen-Tourismus“ vorgebeugt. So gebe es derzeit Suchtkranke, welche die Spritzen sammeln und nach Wien bringen, wo es schon derlei Einrichtungen gibt. „Die Spritzen werden oft unsachgemäß, etwa im Rucksack, wo dann die Nadeln rausschauen, transportiert.“ Der Weg nach Wien würde bei einer Spritzentauschmöglichkeit vorort wegfallen. Umgekehrt halten die Experten einen „Spritzentausch-Tourismus“ nach St. Pölten für unwahrscheinlich.

Von Schmalspur bis Vollausbau
„Die Verantwortlichen haben den Handlungsbedarf erkannt - das ist sehr positiv und muss man hoch anrechnen! Auch, dass damit bislang nicht billige Polemik betrieben wird“, zollt Matzl insbesondere den Politikern Respekt. Als nächster Schritt wird eine Projektstudie erstellt, um den tatsächlichen Bedarf und Varianten der Umsetzung zu erheben. „Die Minimalvariante wär ein Autobus, der zu gewissen Zeiten an gewissen Orten Station macht –  quasi die Low Budget Version, mit  dem Nachteil geringer Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten. Das andere ‚Extrem’ ginge bis hin zum Tageszen-trum für süchtige Menschen, mit dem Nachteil der Kosten. In der Bandbreite werden wir uns wohl bewegen.“ Dass Spritzentausch jedenfalls notwendig ist, darin stimmen sämtliche Experten überein und können die Sinnhaftigkeit eines solchen Projektes auch mit zahlreichen, erfolgreichen Beispielen aus anderen Städten untermauern. „In Niederösterreich fehlt eine solche Einrichtung, die ein sinnvoller Zubringer für Suchtberatungsstellen wäre, bislang aber gänzlich!“, stellt Bernardis fest. Die Landeshauptstadt könnte also einmal mehr ihrem Ruf als Sozialstadt mit Vorreiterrolle gerecht werden!

Einrichtungenn in STP
Suchtberatung der CARITAS: Dr. Karl Renner Prom. 12, 3100 St. Pölten, 02742/841-11
JUMP-Jugendnotschlafstelle: www.emmaus.at/jump
Fachstelle für Suchtvorbeugung, Angehörigengruppe: jeden 1. und 3. Freitag im Monat von 18.30 Uhr –bis 20.30 Uhr in der, Brunngasse 8, 3100 St. Pölten (3. Stock)
www.angehoerigen-hilfe.at
Jugendkoordinator DSA Wolfgang Matzl, 0664/61 00 179;
wolfgang.matzl@st-poelten.gv.at
Verein Jugend & Lebenswelt
www.nordrand.at