MFG - Häfn is duli
Häfn is duli


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Häfn is duli

Text Michael Müllner
Ausgabe 08/2006

Draußen ziehen graue Wolken am verwaschenen Himmel vorbei. Der Regen prasselt in den Innenhof. Ein Wetter, bei dem man gerne drinnen bleibt. Freilich nur, wenn man nicht schon drinnen ist und der Ausblick durch Gitterstäbe getrübt wird. Justizanstalt St. Pölten.

Wir schauen in die Linse der Überwachungskamera von St. Pöltens wohl bestgesicherter Adresse: Andreas Hofer Straße 3. Der Türöffner schnarrt, im nächsten Moment begrüßt uns Christian Wolf von der Torwache. „Zum Direktor möchten wir!“ Ein kurzes Telefonat, dann weist uns Kerberos den Weg.
Im Stiegenhaus des Verwaltungstrakts huschen wir an grau uniformierten Beamten vorbei. Nicht Polizisten, sondern die Justizwache führt hier das Regiment. Das heißt andere Uniformen und andere Keks, wie die Dienststerne mitunter bezeichnet werden. Direktor Günther Mörwald, der uns in ein karges Besprechungszimmer mit einer großen Luftaufnahme des Gebäudekomplexes bittet, hat schon zwei davon - ein Herr Oberstleutnant also. Seit 27 Jahren ist der gebürtige Kremser dabei. Wie man auf einen solchen Beruf verfällt, immerhin zählt Gefängnisdirektor ja nicht zu klassischen Kinderwünschen á la Astronaut oder Feuerwehrmann: „Mein Vater war Justizwachebeamter. Als ich nach der Matura nicht wusste, was ich machen soll, meinte er, ich könnte ja derweil in die Justiz gehen.“ Aus dem Provisorium ist dann ein fixer Job geworden, weil „es von der Karriere her interessant war und ein spannendes Betätigungsfeld darstellt.“ Seit 10 Jahren ist Mörwald nun Direktor der Justizanstalt St. Pölten, die 1903 als richterliches Gefangenenhaus eröffnet wurde. „Bei uns wird die Untersuchungshaft sowie Verwaltungs- und Freiheitsstrafen bis zu 18 Monaten vollzogen.“ In St. Pölten sitzen also zum Gutteil – ausgenommen die Untersuchungshaft – wie es so schön heißt, die „kleinen Fische.“
Wegen Überfüllung nicht geschlossen
Freilich – auch kleine Fische brauchen Platz, und der ist knapp bemessen. So ist das auf 250 Insassen ausgelegte Gefängnis hoffnungslos überbelegt. Gibt es also mehr Kriminelle als früher? Jein: Faktum ist, dass mehr Menschen eingesperrt werden – die Sinnhaftigkeit scheint aber nicht immer gegeben, wie DSA Peter Schaff bemängelt. „Ausländer werden etwa wegen jedem Pimperldelikt, und seien es nur zwei Packerl Rasierklingen, aufgrund von Fluchtgefahr sofort eingesperrt.“ Dies erklärt zum Teil, warum der Ausländeranteil von ehemals 30% auf über 50% explodiert ist. Eine andere Ursache vermutet Direktor Mörwald in der Ostöffnung. „Heut haben wir auch Leute aus Georgien, Aserbaidschan, Russland etc.“
27 Sprachen kursieren aktuell in der Haftanstalt, die Verständigung ist nicht immer einfach. „Es geht, weil die Notwendigkeiten des Zusammenlebens vieles von selbst lösen. Wenn ein Häftling etwas braucht, passt er sich schnell an. Wenn umgekehrt wir etwas von ihm wissen wollen, geht das schon etwas schwerer“, muss Mörwald lächeln. Auch in der Bibliothek ist der hohe Ausländeranteil im übrigen nachvollziehbar: Wörterbücher boomen!
23 Stundnen hinter schwedischen Gardinen
Die Überbelegung bringt natürlich handfeste – negative – Auswirkungen. So sind die zwei Freizeiträume längst zu Hafträumen umfunktioniert worden, die Freizeitaktivitäten daher auf ein gesetzliches Mindestmaß zurückgeschraubt, und das sieht gesetzlich eine Stunde pro Tag im Hof vor. Den Rest sitzen jene, die nicht das Glück haben in einem der Betriebe zu arbeiten, in der Zelle! 23 Stunden am Tag, unterbrochen nur vom Essenfassen, Duschen, Besuchen, Terminen beim Sozialarbeiter etc. „Die langen Einschlusszeiten sind bei kurzen Haftstrafen wie in St. Pölten zum Glück nicht so tragisch. Anderswo ist das ein Riesenproblem“, erläutert Mörwald. Aber selbst kurze Zeit ohne Nichtstun nagt an der Psyche, wie der ehemalige Häftling Anton (Name verändert!) zugibt. „Das Schlimmste ist einfach die Tatsache, dass du 23 Stunden pro Tag in einer kleinen Zelle eingesperrt bist. Man kommt ja nur zum Spazierengehen für eine Stunde raus. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell diese eine Stunde vergeht! Bei meiner ersten Haft durfte ich arbeiten - das war sehr wichtig, denn somit vergeht die Zeit. Beim zweiten Mal hingegen bekam ich keine Beschäftigung. Die Haft dauerte zwar nur ein Monat, war aber aufgrund des Nichtstuns fast schlimmer als die fünf Monate beim ersten Mal.“
Sechs Personen Haushalt
Mehr Leute auf selbem Raum heißt logischerweise mehr pro Zelle. Auf den drei Abteilungen gibt es in der Regel „Sechs-Personen-Haushalte“, wie es Direktor Mörwald formuliert. Um Aggressionspotentiale von vornherein zu reduzieren, bemüht man sich die Zusammenlegung – soweit möglich -  harmonisch zu gestalten. „Die Untersuchungshaft, wo viele ja zum ersten Mal hier sind, ist ein sensibler Bereich. Untersuchungshäftlinge werden deshalb nicht mit  Strafgefangenen oder Schwerverbrechern zusammengelegt. Jugendliche legen wir wenn möglich zu Jugendlichen.“
Die Leute müssten sich untereinander eben arrangieren, wobei das Zusammenleben der Häftlinge untereinander, aber auch mit dem Wachpersonal „erstaunlich reibungslos verläuft.“ Ein Eindruck, den auch Schaff bestätigt. „Klischees von der unmenschlichen Justiz und Zellen-Capos sind amerikanische Gschichterln. Sicher gibt es eine starke Hierarchie unter den Insassen – diesen Eindruck hab ich schon, aber große Spannungen, die kriegt man nicht mit. Das machen sich die Herren wohl untereinander aus. Prinzipiell sind die Leute sehr anpassungsfähig, und es verbindet sie das kriminelle Element. Sie wissen, dass sie sozusagen auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind.“ Auch Anton hält manche Darstellung in den Medien für überzogen. „Das Bild, das man von TV-Reportagen kennt, kann man nicht mit St. Pölten vergleichen - St. Pölten ist ja nicht Stein!“
Wenn es "Brösel" gibt
Wenn es aber doch zu „Bröseln“ kommt, wie wird dann vorgegangen? „Wenn uns jemand was zusteckt, dann reagieren wir auf elegante Weise. Nicht sofort, sondern erst nach ein paar Tagen, damit derjenige, der geplaudert hat, nicht Probleme bekommt.. Dann holen wir uns den Störenfried, legen Leute in andere Zellen um usf.“,  erklärt hierzu Schaff.
Geht es hart auf hart, ist etwa Gewalt im Spiel, dann „gibt es eine Palette von exekutiven Möglichkeiten, vom Pfefferspray bis zum Schusswaffengebrauch, wobei stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt“, so Direktor Mörwald. Im Anschluss kann es dann eine Anzeige, Geldbußen bis hin zu „Trennung und Absonderung“ kommen. Das heißt Einzelhaft. Wie sieht diese aus? „Einzelhaft heißt Tag und Nacht von den anderen getrennt im Einzelhaftraum. Gegen den Willen des Betroffenen.“ Von einem angeblichen „Bunker“, der auch außerhalb des Häfens als Gerücht kursiert, erfahren wir nichts. Auch Anton weiß nicht, ob er wirklich existiert. „Den legendären ‚Bunker’ kenn ich nur aus Erzählungen. Ich hab nie jemanden getroffen, der wirklich drin war. Angeblich ist es ein Betonblock als Einzelzelle im Halbdunkeln, einmal täglich gibt’s einen Häfen Wasser und einen Laib Brot, keine Matratze. Soweit die Erzählungen… Aber ob das stimmt, keine Ahnung.“
Die Beamten beschreibt der ehemalige Häftling als durchaus umgänglich. „Wie man in den Wald ruft, so kommt’s zurück - sie sind ja auch nur Menschen. Zu mir waren sie immer korrekt, ich hab ihnen aber auch keinen Anlass gegeben. Ich hab mir immer gesagt: Die können nichts dafür, dass du da bist. Vom Hören-Sagen weiß ich aber, dass sie schon ein ordentliches Programm fahren können, wenn es nötig ist.“ Auch Sozial-arbeiter Schaff stellt den Kollegen ein gutes Zeugnis aus. „Es gibt immer was zu verbessern, aber ich denke von Menschenwürde und Sozialem ist es ganz okay bei uns. Der Umgang hängt natürlich immer von der Situation ab, wie der Insasse selbst ist. Das ist wie draußen.“ Für Direktor Mörwald ist dies ein ganz wichtiger Punkt: „Wir sind betreuungsorientiert. Unsere Aufgabe und Einstellung ist es, den Vollzug so menschlich wie möglich zu gestalten - die Menschenwürde ist eine Verpflichtung. Ich denke, da liegen wir recht gut.“
Weihnachtswickler fürs Christkind
Im Anschluss bekommen wir eine Führung durchs Haus. Diese beginnen wir bei den zwei Besuchszimmern. Im ersten sind Besucher und Häftling durch eine Plexiglaswand mit Sprechöffnungen bis zur Decke hinauf  getrennt. Körperkontakt ist nicht möglich. „Die Leute haben es sich selbst verbaut“, erläutert diesbezüglich Schaff, „weil früher immer etwas hineingeschmuggelt wurde. So ist das nicht mehr möglich.“ Auch Geschenkpakete sind aus dem selben Grund im übrigen nicht mehr gestattet. Die Insassen kaufen ihre Ware im eigenen ADEG Markt direkt in der Anstalt. Der zweite Raum ist freundlicher: Tische, Stühle, Kaffeeautomat – keine Wände. Hier kommt man in den Genuss des „gelockerten“ Besuches, also etwa bei guter Führung. „Da kann man sein Kind umarmen, der Frau ein Busserl geben“, führt Direktor Mörwald aus. Während der U-Haft ist Besuch zweimal wöchentlich erlaubt, während der Strafhaft nur ein Mal, wobei maximal drei Personen pro Besuch gestattet sind.
Durch ein Tor gelangen wir in einen großen Hof, der geradeaus zu den Zellentrakten führt. Wir biegen aber durch ein weiteres Tor rechterhand ab. Dahinter empfangen uns Grünflächen und ein Gewächshaus – wir sind in der Gärtnerei gelandet. Hier werden – je nach Saison – Tomaten, Paprika, Kraut und anderes Gemüse angebaut, das direkt im Gefängnis verkocht wird. Weiters züchtet man Ziersträuche, Buxbäume, Blumen, bindet Adventkränze und Gestecke, welche in der Haftanstalt, aber auch in anderen Gerichten, Kasernen usf. zum Einsatz kommen. „Insgesamt an die 40.000 Pflanzen“, wie der Betriebsleiter Manfred Hartmann ausführt.
Im angrenzenden Gebäudetrakt sind wir in den Unternehmensbetrieben gelandet. Im ersten Raum stehen neue Räder, welche die Häftlinge für einen Sportartikelhersteller zusammengebaut haben. Im nächsten sind an die 15 Herren gerade damit beschäftigt, Weihnachtswickler für unsere Christbäume herzustellen.
Desweiteren gibt es noch eine Tischlerei, eine Schlosserei sowie Wirtschaftsbetriebe, also Küche und Wäscherei, wo die Häftlinge arbeiten. Theoretisch sollten ca. 80% der Strafgefangenen und 25% der Untersuchungshäftlinge Beschäftigung finden, aufgrund der Überbelegung derzeit aber nur ein Wunsch. Arbeitslosigkeit macht auch vorm Häfn nicht Halt.
2. / 3. Zellentrakt
Wir kehren in den ersten Hof zurück und gehen in den Zellentrakt. Bevor es durch eine Schleuse die Stiegen hinaufgeht, werfen wir zunächst rechterhand einen Blick ins Wachzimmer, wo Bezirksinspektor Gerhard Haslauer gerade die zahlreichen Monitore der Überwachungskameras im Auge behält. Ein Schlüsselkasten erweckt unsere Neugierde: Jeder Wachbeamte hat hier seine Utensilien, von den Handschellen bis zur Dienstwaffe, verstaut – letztere wird im übrigen nur während des Nachtdienstes und bei Ausführungen getragen.
Wir marschieren weiter, gelangen in den Gefängnistrakt, machen kurz halt im Mehrzweckraum, welcher frappant an eine Kapelle - die er ursprünglich wohl auch war - erinnert. Noch heute finden hier die Gottesdienste für verschiedene Konfessionen statt, zu Weihnachten kommt immer der katholische Bischof auf Besuch. Aber auch Musik und Theaterveranstaltungen werden geboten. Jedes Vierteljahr zumindest eine Freizeitveranstaltung, so verlangt es der Gesetzgeber. Für Zerstreuung soll auch die Bibliothek sorgen, die über 7.000 Bände beherbergt. Alle 14 Tage können die Häftlinge bis zu fünf Bücher entlehnen, welche ihnen per Wägelchen in die Zelle gebracht wird.
Wir kommen – es ist 11 Uhr – an einer Gulaschkanone vorbei, wo gerade Häftlinge um ihr Essen anstehen. Mit den vollen Tellern gehen sie zurück in die Zelle, wo gegessen wird. Wir folgen einem der Herren in sein „Domizil“. Die Hafträume sind einfach ausgestattet. Betten, Kasten, Spind,  Waschmuschel mit Kalt- und Warmwasser sowie ein eigens abgemauertes Klo – eine Errungenschaft, wie Schaff erläutert, weil „früher die Toilette nur durch einen Vorhang getrennt war. Da gab es null Intimsphäre“.
Auch ein Fernseher findet sich, 23 Programme können empfangen werden. Von manchen Leuten draußen oft als „Luxus“ kritisiert, hat das Fernsehen in der Anstalt selbst durchaus, wenn schon nicht therapeutische, so doch jedenfalls positive Effekte gezeitigt. „Das ist zwar nicht der Stein der Weisen, es hat aber definitiv zur Beruhigung beigetragen“, bestätigt diesbezüglich Direktor Mörwald.
Geduscht wird in großen Sanitärräumen auf jeder Abteilung – Arbeiter jeden Tag, die anderen zwei Mal in der Woche.
Zuletzt machen wir noch Halt in der Ordination, wo uns Bezirksinspektor Josef Fischer begrüßt. Heute ist gerade der Zahnarzt im Haus, die praktische Ärztin kommt zwei mal die Woche ins Haus. Muss ein Häftling operiert werden, wird er in eine geschlossene Abteilung des Kremser Krankenhauses überstellt, für HIV-Patienten gibt es im Wiener AKH eine eigene Abteilung. Der Rest, insbesondere die Medikamentausgabe, läuft direkt in der Justizanstalt ab, wobei insbesondere der organisatorische Aufwand für Substitutions-Präparate für Suchtkranke gestiegen ist, wie Bezirksinspektor Josef Fischer erläutert.
Als wir nach gut drei Stunden aus der Justizanstalt heraustreten, atmen wir tief durch. Schön, wieder draußen zu sein – in Freiheit. Der Gedanke, Jahre hier verbringen zu müssen – unvorstellbar. Von wegen „denen geht’s ja wie im Urlaub.“ Es ist eine Strafe. Der Himmel ist aufgebrochen, Sonnestrahlen kitzeln auf der Nase. Wären wir ein Häftling, der gerade entlassen wird, so würden wir jetzt wahrscheinlich unsere Zahnbürste zerbrechen und dann, ohne uns noch einmal umzudrehen, fortgehen. Rituale, die eine Wiederkehr verhindern sollen. Nur der Minderheit gelingt dies. Die Rückfallsrate ist relativ hoch.
Interview: Häfn is duli
DSA Peter Schaff vom sozialen Dienst begleitet die Häftlinge von ihrem ersten Tag in der Anstalt bis zu ihrer Entlassung. Ihm – wie auch den anderen Sozialarbeitern - obliegt mit die Prüfung, ob jemand als Freigänger geeignet ist, er soll psychisch anfällige und gefährdete Personen erkennen, er soll vor allem die Weichen für die Reintegration im Leben danach  stellen, weshalb Schaff im Kontakt mit anderen Institutionen wie Emmaus,  Neustart, Schuldnerberatung, Sachwalterschaft AMS, Firmen etc. ist. Insgesamt betreut Peter Schaff an die 100 Häftlinge, pro Tag kommen rund 15 zu ihm in den „Sozialen Dienst“. Hat sich das Klientel verändert?
Schon. Früher gab es mehr „Altbekannte“, die immer wieder gekommen sind, und es gab das Phänomen der „Vererbung“, das heißt, wir hatten den Großvater ebenso zu „Gast“ wie sein Enkerl, weil die Jungen schwer aus einem Milieu rausgekommen sind. Eine einschlägige Adresse war diesbezüglich das Einquartierungshaus. Heute ist das besser, weil das Sozialnetz dichter ist, die Jungen besser in die Gesellschaft integriert werden.
Und deliktmäßig – gibt’s da Verschiebungen?
Was eindeutig ärger geworden ist in jüngerer Vergangenheit sind Delikte unter Alkohol- und Drogeneinfluss, Affektgeschichten, wo sich die Leute zum Teil nachher nicht mal mehr daran erinnern.
Ein Thema ist die berühmte Seife in der Dusche. Gibt’s sexuelle Übergriffe?
Die gibt es bestimmt, da bin ich überzeugt. Aber in St. Pölten ist es wahrscheinlich eher minimal, weil hier kurze Haftstrafen verbüßt werden. Bei langen Haftstrafen hingegen ist das ein großes Problem. Aber wenn zwei in der Zelle zusammenlegen und das freiwillig ausleben, dann ist das okay. Was solls - das ist wie draußen.
Offiziell Sex im Häfn, wie jüngst vorgeschlagen, was zu heftigen Debatten führte?
Warum nicht? Ich weiß von einem Freund, Betreuer einer geschlossenen psychischen Anstalt, dass die mit ihren Patienten auch Ausflüge ins Bordell gemacht haben. Die Leute waren danach entspannter, das Aggressionspotential geringer. Das Grundbedürfnis kann man ja nicht wegreden.
Wie würden Sie Gefängnis-Welt beschreiben?
Im Grunde ist es eine Gesellschaft wie draußen. Es gibt Herz, Schmerz, stinknormale Bedürfnisse, wie etwa das Essen, wo sich schon mal einer mokiert, dass heut das Kraut zu süß war. Es ist eine abgeschottete Welt im Kleinen. Ein gutes Papperl, frische Wäsche sind wichtig.
Im Film „Die Verurteilten“ werden manche alte Häftlinge gezeigt, die sich draußen nicht mehr zurechtfinden, wieder zurückwollen – ist das aus dem Leben gegriffen?
Absolut. Manche finden „Häfn is duli“, das heißt soviel wie „Häfn is super“, auch wenn sie das nie zugeben würden. Der Häfn ist ihr Leben. Hier sind sie Menschen, haben ihre Menschenwürde, ihre Aufgabe, werden verpflegt, während sie draußen vielleicht Sandler sind, wie ein Fußabstreifer behandelt werden. Hier sind sie alte Hasen, welche die Jungen einführen in den Gefängnisalltag. Wir haben Häftlinge, die sind schon seit 20 Jahren immer wieder bei uns, Männer, die extra im Gerichtssprengel ein Delikt begehen, um ja nur wieder hier inhaftiert zu werden. Jene, die die Überfuhr verpasst haben, sind aber keine Jungen, sondern ältere Insassen!
Sie leben ja in St. Pölten. Wie ist das, wenn Sie ehemalige Klienten treffen?
Da hab ich kein Problem damit. Im Interspar seh ich zum Beispiel viele. Manche deuten unauffällig, andere kommen auf mich zu und fragen lauthals: „Griaß die, wia laufts im Häfn?“, so dass sich die Leut umdrehen und mich komisch anschauen. Das macht mir nichts aus. Wenn sie dann erzählen, sie haben eine Frau, Kinder, Wohnung, dann sag ich: „Super, des taugt mir. Haben der Aufenthalt und die Arbeit doch was bewirkt.“ Ich freu mich wirklich über jeden einzelnen, der nicht mehr kommt!
Interview: Ich habe viel geschrieben
Der 22 jährige St. Pöltener Anton (Name geändert) wurde wegen versuchten schweren Raubs mit 17 Jahren zu 20 Monaten bedingt verurteilt, davon saß er fünf Monate unbedingt in St. Pölten ab. Der zweite Zwischenfall ereignete sich mit 19 Jahren, infolge wurde er zu einem Monat unbedingt verurteilt.
Wie war das, als du zum 1. Mal ins Gefängnis gekommen bist?
Ich war schockiert – fühlte mich völlig hilflos. Du kannst ja nicht mal vor die Türe gehen. Man ist auf die Zellenkollegen angewiesen, die dir erklären, was hier läuft. Und wegen jedem Scheiß muss man den so genannten „11‘er-Zettel“ ausfüllen, egal ob man einen Sozialarbeiter sehen will, oder telefonieren muss. Gewöhnungsbedürftig!
Wie wars in der Zelle?
Ich war bei meiner zweiten Strafe ein Monat lang mit sieben weiteren Männern in einer Zelle auf 146m³. Die Insassen waren bunt gemischt, ich hatte nur Österreicher, alle so zwischen 20 und 25 Jahre alt.
Was macht man den Tag über? 
Bei meiner 1. Haft hab ich in der Wäscherei gearbeitet, auch in der Anstaltsküche als Kartoffelschäler. Die Qualität des Essens ist nicht sonderlich, aber im Großen und Ganzen geht’s so. Die Arbeit selbst war eine Ablenkung! Beim 2. Mal hatte ich ja keine, das war schlimm, weil die Zeit nicht vergeht.
Ich habe viel geschrieben, Briefe, persönliche Notizen. Manchmal 13, 14 Seiten auf einmal, alles, was mich bedrückt hat. Viele Häftlinge machen Muskelaufbau oder zeichnen, das ist auch eine Methode, um sich zu beschäftigen. Der Fernseher ist ebenfalls wichtig, da geht die Fernbedienung im Kreis und man muss sich arrangieren. Natürlich gibt es auch heiße Diskussionen mit den Zellenkollegen über Gott und die Welt.
Wie war der Tag eingeteilt?
Man steht gegen 7:00 Uhr auf, ein Mal täglich wird die Zelle gereinigt, gelegentlich gibt’s einen Gesprächstermin beim sozialen beziehungsweise psychologischen Dienst, oder man geht zum Arzt. Um 11:00 Uhr tritt man auf den Gang und holt sich von dort das Essen in die Zelle. Circa um 18:00 Uhr passiert das gleiche mit dem Abendessen. Schrecklich ist, dass man nur zwei Mal die Woche duschen darf. Außer man arbeitet, dann kann man täglich!
Nutzt man die Zeit zum Nachdenken über sein Leben?
Nach der fünfmonatigen Haft hatte ich überhaupt keinen Plan, wie’s danach weitergehen soll. Beim zweiten Mal, nach dem einen Monat, wars besser. Drei Tage nach der Entlassung habe ich eine Berufsausbildung begonnen. Ich habe den Eindruck, dass ich ziemlich schnell wieder im Sattel war. Die Gespräche mit Neustart alle zwei bis drei Wochen helfen mir auch sehr, mein Freundeskreis ist gleich geblieben. Familiär hab ich nur zu meiner Oma Kontakt, die ist immer zu mir gestanden. Von meinen Eltern hab ich schon jahrelang nichts mehr gehört.
Wie ist das, wenn man rauskommt?
Der letzte Tag ist geil. Man sagt dann, dreh dich ja nicht um, weil wenn du dich umdrehst, dann kommst du wieder. Beim ersten Mal hab ich mich umgedreht, beim zweiten Mal, dann nicht mehr. Es gibt auch so ein Ritual, man zerbricht am letzten Tag seine Zahnbürste, in der Hoffnung, dass man nie wieder ins Gefängnis muss. 
The days after
Wenn man wie Anton bedingt entlassen wurde, ordnet manchmal der Richter die Bewährungshilfe an. Als aufsuchende und nachgehende Beratungshilfe bedeutet sie sehr viel Aufwand für NEUSTART, eine Institution, welche den Entlassenen über relativ lange Zeit, oft über Jahre hinweg, begleitet und auf seine Festigung im Leben sowie Resozialisierung abzielt. Die Einstellung der Entlassenen dazu ist sehr unterschiedlich, wie Leiterin Magdalena Pernerstorfer verrät. „Manche sind zugänglich, manche empfinden die Bewährungshilfe als lästig - immerhin muss man unter diesem gesetzlichen Zwang Vertrauen zu einem Sozialarbeiter aufbauen.“ Alternativ dazu bietet NEUSTART auch die Haftentlassenenhilfe auf freiwilliger Basis an.
Ein zunehmend bedeutender Aspekt ist auch der außergerichtliche Tatausgleich beziehungsweise die Diversion, die besonders bei Jugendlichen oft erfolgreich angewendet wird und als Chance für Verdächtige gesehen werden kann, sich mit seinem Opfer auseinanderzusetzen. „Voraussetzung dafür ist, dass die Opferinteressen gewahrt bleiben und natürlich Einsicht des Täters sowie seine Bereitschaft, eine gemeinnützige Leistung zu erbringen“, so Pernerstorfer. Ein weiterer Bereich ist die Verbrechensopferhilfe, die von der Bewährungshilfe stark getrennt ist. Die Prozessbegleitung bereitet Opfer auf die Verhandlung vor, man berät psychosozial und juristisch, informiert, was während des Prozesses eigentlich passiert. Laut der Leiterin von Neustart ist es wichtig, dass auch die Opfer vorbereitet werden, damit sie nicht vom Anwalt des Täters „zerpflückt“ werden bzw. auf das „Wiedersehen“ mit dem Täter vorbereitet sind.
Auf Anwälte kommt es überhaupt oft sehr entscheidend an. Anton: „Mein Pflichtverteidiger war eine Nuss. Der hat in der ganzen Verhandlung einen Satz gesagt, nämlich seinen Namen und seinen Stand. Daraus hab ich gelernt - bei der zweiten Verhandlung hab ich mir vorher um EUR 22,60 bei Donauland den Strafrechts-Codex gekauft und mich selber informiert.“