MFG - Out of Africa
Out of Africa


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Out of Africa

Text Johannes Reichl
Ausgabe 08/2006

„Kenn ich Sie nicht aus dem Fernsehen?“ Diese Frage muss sich Hans Geißlhofer – zurecht – des Öfteren „gefallen“ lassen, zählt der in Pyhra aufgewachsene, heute 56jährige doch zu den renommiertesten Entwicklungshelfern Europas. Wir nutzten seinen Kurzaufenthalt in der alten Heimat zu einem Plausch über blaues Blut, 68’er Visionen und Herausforderungen der Entwicklungshilfe.

„Können wir uns schon am frühen Vormittag treffen? Weil am Nachmittag würd’ ich gern in die Berge.“ Hans Geißlhofer schaufelt sich Zeit für das frei, was er bei seinen Heimaturlauben am liebsten tut: wandern. „Wenn ich hier bin, zieht es mich - oft nehm ich meinen siebenjährigen Sohn mit -  ins Alpenvorland. Dann fahren wir mit dem Lift auf den Ötscher und genießen die Landschaft.“
Können wir! Und so sitzen wir, wenige Tage vor Geißlhofers Rückfahrt nach Senegal bei Herbsttemperaturen im Hochsommer im cinema paradiso und plaudern über Geißlhofers ereignisreiches Leben, das 1950 in Lunz am See seinen Anfang nahm.
Blaues Blut
Der Geburtsort ist ein „exquisiter“ – Schloss Seehof in Lunz/See, was schon auf die adeligen Vorfahren aus dem Geschlecht der Kupelwieser, welchem die Mutter entstammt, verweist. Aufgewachsen ist der Sproß, in dessen Adern somit „blaues Blut“ fließt, allerdings in Auern/Phyra auf einem 500 Jahre alten Bauernhof. „Ich bin sozusagen Tarzan, der im Schloss geboren wurde und dann bei den ‚Wilden’ gelandet ist“, meint Geißlhofer lachend. Die Mutter hatte einen Grundbesitzer aus der Region geheiratet, freilich keinen adeligen Sproß. „Die Mutter war a Bessere. Sie hat – mein Vater war ein fescher Kerl – sozusagen unter ihrem Stand geheiratet. Das hat man sie unterschwellig schon immer spüren lassen.“ Dabei waren die Kupelwiesers seit Hans Urgroßvater Karl Kupelwieser, Gatte von Bertha Wittgenstein (der Tante des Philosophen Ludwig Wittgenstein), schon zuvor als Grundbesitzer ‚vertreten’. So gehörte dem Geschlecht das Gut Kyrnberg, zudem Flächen in Heuberg, wo später die Landwirtschaftliche Fachschule entstehen sollte.
Wenn auch kaum ausgesprochen, war die adelige Herkunft für die Geißlhofer Kinder auf subkutane Weise doch stets präsent. So standen im Hause etwa Möbel von der berühmten ehemaligen Jet-Set Insel Brijuni, welche Paul Kupelwieser als Aussteiger (nachdem er zuvor die Witkowitzer Werke in Tschechien geleitet hatte) gekauft, von der Malaria befreit und zum elitären Urlaubsdomizil - das in die Geschichte als österreichische Riviera eingehen sollte - ausgebaut hatte. Nach dem 1. Weltkrieg wurde die Insel von den italienischen Faschisten konfisziert, später residierte dort Jugoslawiens Marschall Tito. Den Kindern wurde die Herkunft der Möbel nie näher dargelegt. Aber auch die Sommeraufenthalte in Lunz/See ließen die adelige Lebenswelt durchschimmern. „Dort war schon ein ganz eigenes Klima. Alles war so gespreizt, auch die Mutter, wenn sie dort war. Aber für uns Kinder wars trotzdem eine Hetz, weil wir im Betrieb mitgeholfen haben, Traktor gefahren sind, Heu gewendet oder die Kuhställe ausgemistet haben.“
Jüdische Wurzeln
Was innerhalb der Familie ebenfalls „verschwiegen“ wurde, ist die jüdische Herkunft. „Unsere Familie galt während des NS-Regimes als jüdisch versippt und hat nur mit Müh und Not diese Jahre überlebt.“ Dr. Christoph Lind vom Institut für Geschichte der Juden schreibt diesbezüglich in seinem Buch „... sind wir doch in unserer Heimat als Landmenschen aufgewachsen“, dass das Gut Kyrnberg „wie der Bürgermeister von Phyra mitteilte ‚[...] wahrscheinlich beschlagnahmt und als Staatsvermögen von einem Verwalter namens Rivag oder so ähnlich verwaltet wurde.’ Die Bezirkshauptmannschaft fand schließlich heraus, dass das Anwesen im April 1939 an den Gau Niederdonau ‚verkauft’ worden war. Ob das Gut ‚arisiert’ wurde, lässt sich mangels entsprechender Unterlagen nicht mehr rekonstruieren. Der ‚Erwerb’ von Kyrnberg durch Niederdonau ermöglichte der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten und dem Land Niederösterreich jedenfalls, nach 1945 diesen Besitz als ‚österreichisch’ auszuweisen und ihn dadurch vor einer Beschlagnahme durch die Sowjetunion als ‚deutsches Eigentum’ zu bewahren.“ Wie die Anführungszeichen nahe legen, scheint der Historiker am freiwilligen „Verkauf“ durchaus seine Zweifel zu hegen.
Der 1950, sozusagen nachgeborene Geißlhofer wurde mit seiner jüdischen Vergangenheit und damit zusammenhängend Antisemitismus jedenfalls erst in seiner Gymnasialzeit konfrontiert, was ihn wie aus heiterem Himmel traf. „Im Gymnasium haben sie mich mit ‚Jud, Jud’ gehänselt, und ich hab mich überhaupt nicht ausgekannt, weil das in unserer Familie nie angesprochen worden war. In der Bevölkerung war die jüdische Herkunft unserer Familie hingegen offensichtlich sehr wohl noch verankert.“ Heute bemüht sich Geißlhofer deshalb über diesen Aspekt der Familienhistorie und über das Schicksal der Kupelwiesers während des NS-Regimes Aufschluss zu gewinnen, weshalb er während seiner Österreich-Aufenthalte auch viel Zeit in verschiedensten Archiven verbringt.
Lieber fidel
Nach der Matura am St. Pöltner Gymnasium begann Geißlhofer im legendären 68’er Jahr ein Studium der Kulturtechnik an der BOKU Wien, sattelte später dann aber auf Raumplanung und Raumordnung um. Die 68’er Bewegung erfasste den jungen Mann, der sich in linkskatholischen Kreisen bewegte und etwa mit dem späteren EU-Kommissar Franz Fischler im Katholischen Studentenheim Zimmer  an Zimmer wohnte, voll und ganz. „Damals standen immer drei Fragen unter den Studenten zur Disposition. 1. Gehst mit demonstrieren? 2. Schauen wir uns einen Sexfilm an? 3. Gehst mit zum Guru der Beatles, Maharishi, nach Indien meditieren? Das war in ungefähr das Umfeld. Ich war einer von der politisch interessierten Sorte, stand auch den Kommunisten nahe, war aber nie bei der KPÖ. Damals hat irgendwie jeder geglaubt, er ist ein kleiner Marx oder Engels und wir können die Welt retten.“
Dieser Idealismus führte soweit, dass Geißlhofer – im übrigen an der Seite eines gewissen Peter Pilz – sich der sogenannten „Kubabrigade“ anschloss, um die Revolution vorort aktiv zu unterstützen. Und aktiv hieß genau das: „Als wir auf Kuba ankamen, meinten die Genossen dort: Kommunisten haben wir genug – wir brauchen Experten!’ Und so haben wir gearbeitet: am Bau, auf den Feldern. Ich kann mich noch gut an einen uralten, schweren Presslufthammer erinnern. Wenn der ins Erdreich einfuhr, blieb er oft hängen, sodass mir ein starker Kubaner helfen musste, ihn wieder herauszuziehen.“
Was Geißlhofer faszinierte, wie er sich erinnert, war das Exotische, war die Sonne, war Kuba als Dritte Welt Land „das für mich fast schon ein bisschen wie Afrika war.“ Mit kindischen Kämpfer-Fantasien manch Studienkollegen hatte er hingegen nichts am Hut. „Als in Chile geputscht wurde, meinten manche ‚Jetzt gehen wir dorthin als  Guerillakämfer!“ Da hab ich nur den Kopf geschüttelt. In Wahrheit waren wir doch alle verwöhnte bürgerliche Bürscherl, die vom Kämpfen keine Ahnung hatten.“
Heute beurteilt Geißlhofer Kuba und Fidel Castro differenziert. „Die Revolution damals war einzigartig, auch was zuwege gebracht wurde – Gesundheitsversorgung für alle, Bildung für alle. Das war ein Quantensprung in Südamerika. Heute ist Kuba aber wieder zu einem dritte Weltland geworden. Den Leuten geht die Propaganda auf die Nerven, wenngleich Castro noch immer eine Ikone ist. Es ist aber kein besonders totalitäres Regime im eigentlichen Sinne, wie gern dargestellt wird, und es ist auch nicht so einfach. Natürlich wollen die Jungen mehr Freiheit, aber man muss schon abwägen, wieviel lässt man zu, ohne die Errungenschaften zu zerstören. Freiheit und Demokratie um jeden Preis, während gleichzeitig die Leute verhungern, bringt das Land nicht weiter. Ebensowenig - wie eine spanische EU Politikerin vor kurzem öffentlich wünschte -  der Tod Castros. Castro stirbt sowieso, aber das löst ja noch keine Probleme.“
Der Kuba-Aufenthalt war für Geißlhofers weiteren Lebensweg jedenfalls ein entscheidender Wendepunkt, ein „Energieschub“, wie er es heute ausdrückt, weil es der schleichende Beginn seiner Entwicklungshilfe-Karriere war. Heute könnte man ihn sogar als „Star“ der Branche bezeichnen, immerhin machte er bereits für ARTE Dokus über Senegal mit, und war des öfteren im ORF  z.b. in ZIB 2  und in Orientierung, wenn es um CARITAS Projekte ging.
Immer wieder Afrika
Begonnen hat alles 1977, als Geißlhofer für zwei Jahre nach Kamerun ging. Danach verschlug es ihn zur UNO nach Guinea Bissau , anschließend folgte bereits Senegal, von wo er dann später auch für den Aufbau der Entwicklungswerkstatt Österreich Projekte plante, und wo er schließlich eine neue Heimat finden sollte. Heute lebt er mit seiner Familie – seine Gattin ist Senegalesin – in Dakar.
Nachdem Österreich ab 1994 im Zuge der „berühmten“ Sparpakete den Rechenstift auch bei der ohnedies nicht hochdotierten Entwicklungshilfe ansetzte, verschlug es Geißlhofer zwischenzeitlich zurück nach Österreich, wo er für die Caritas Innsbruck tätig war. Seit 2003 ist er für MISEREOR Deutschland im Einsatz, sozusagen wieder „an vorderster Front“.
Dabei, so versichert Geißlhofer, kollidiere das Bild eines Entwicklungslandes, so wie wir es uns vorstellen, häufig mit der Realität. „In Dakar etwa gibt es an jeder Ecke Internet-Cafés, hundert mal mehr als bei uns.“ Wogegen es nach wie vor anzukämpfen gelte, seien teils überbordende Bürokratie (und Korruption) der Verwaltungsebenen sowie – dies bei Gott keine afrikanische Eigenart - die Trägheit und bis zu einem gewissen Grade Feigheit der Apparate. „Es gibt soviel Gewohnheitsrechte, Häuptlinge – so wie das bei uns in etwa manche  Bürgermeister sind – die ja nur nix ändern möchten. Das ist mühsam - aber man kann schon etwas weiterbringen.“ Auch, und dies ist nach wie vor eines der größten Probleme, hinsichtlich der Besitzverhältnisse oder zumindest der Nutzungsrechte von Land. Der neueste Trend ist diesbezüglich Landvermessung mittels GPS und Google Earth. Der Blick von oben macht vielen Bauern bewusst, wo Grundstücksgrenzen tatsächlich verlaufen, wo etwas sinnvoll anzubauen ist, insbesondere warum auch Aufforstungen nottun, um ein weiteres Voranschreiten der Wüste, damit verbundes „Versalzen“ der Böden sowie weitere Bodenerosion, also letztlich die Zerstörung an sich fruchtbaren Bodens zu verhindern. Partizipative Planung nennt man das. Geißlhofer als gelernter Raumplaner ist damit sozusagen in sein ureigenstes Element zurückgekehrt. Natürlich gilt es auch, die Menschen zu ‚Unabhängigkeit’ und ‚Eigenständigkeit’ zu animieren. „Früher bauten die Menschen im Senegal für die Europäer Erdnüsse an – riesige Monokulturen, welche über kurz oder lang zur Unfruchtbarkeit der Böden führten und wenig Geld brachten. Heute bemüht man sich verstärkt, die am Markt deutlich teurer zu verkaufende, resistentere, salztolerantere und damit nachhaltigere Cashewnuss anzubauen. Dies könnte in kurzer Zeit Wohlstand sichern.“
Entwicklung sei durchaus konstatierbar und möglich, freilich müsse man sich in der ersten Welt endlich von dem Gedanken verabschieden, mit Geld alleine ein Allheilmittel parat zu haben. „Wir werden die Weltprobleme nicht in den Griff bekommen, wenn wir immer nur quantitativ denken. Gefragt sind qualitativ gute Ideen, Mut, Neues auszuprobieren, Risiken einzugehen. Wenn das fehlt, kann ich noch so viel Geld reinstecken – es wird nichts bringen. Das ist, wie wenn man den Leuten einen Radio schenkt, aber keine Bedienungsanleitung dazu, wie sie ihn benützen müssen.“
Gerade hinsichtlich der Kreativität stelle sich ein vermeintlicher Nachteil Afrikas und grundsätzlicher Unterschied zu unserem way of life bisweilen als Vorteil heraus. „Es gibt sehr viele Leerläufe. Dadurch hat man aber auch viel Zeit, nachzudenken, neue Ideen zu entwickeln. Hier hingegen hetzt man durchs Leben, ohne innezuhalten.“
Letztlich entspringt Geißlhofers Engagement nicht nur – wie man es gerne klischeehaft wünscht - philanthropischen Beweggründen, sondern durchaus auch Pragmatismus und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung. „Ich hab heut nicht mehr den 68’er Wahn, als wir glaubten, wir könnten die Welt im Handumdrehen verändern. Die Weltsituation ist nach wie vor katastrophal, es gibt hunderte Kriege, die Wüstenbildung schreitet voran, die Umweltverschmutzung ist noch immer nicht im Griff etc. Aber für mich persönlich brauch ich einfach diese ‚Droge’, um die legendäre Kupelwieser’sche Kreativität auszuleben. NGO’s bieten dazu eine Gelegenheit, und du kannst dies mit Hilfe für eine gute Sache koppeln. Ein Sinnproblem hatte ich deshalb nie, wie viele andere in der ersten Welt.“
Nach gut zwei Stunden blickt Geißlhofer auf die Uhr. Mittagszeit – der Berg ruft. Noch einmal Luft schnappen in den Bergen der Alpen, bevor es zurück in die Wüste Afrikas geht! Ein Pendler zwischen Welten, die enger verbunden sind, als wir denken. „Dritte und erste Welt greifen ineinander. Ich hatte zuletzt eine Dame aus Berlin zu Gast. Die meinte angesichts der Straßenkinder, welche die Fensterscheiben der Autos putzten: ‚Aber, das ist ja bei uns in Berlin auch schon genauso! Die Welt entwickelt sich – so oder so!“ Wir alle sind gefordert, sie in die „richtige“ Richtung zu lenken, in allen Teilen der Erde. Und mag die Vision der 68’er Generation von der „besseren Welt für alle“ auch naiv erscheinen angesichts der kalten und brutalen Realität, so ist sie als Fluchtpunkt unseres Denkens und Strebens dennoch nach wie vor von alternativloser Gültigkeit, die einzig gültige und trostspendende, möchten wir nicht gänzlich resignieren. Man muss, so betrachtet, sein Ziel nicht immer erreichen, um dennoch anzukommen, einen Sinn zu finden – Hans Geißlhofer exerziert es mit Bravour vor.