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St. Pöltens gute Seite

CSI St. Pölten

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2010

Domplatz. 9 Uhr morgens. Es ist frisch an diesem Augustmorgen, was gut 12 Leute nicht davon abhält, mit festem Schuhwerk sowie Krampen, Schaufeln, Spachteln und weiterem leichten Gerät ausgestattet, am Boden zu knien und – wie es für Laien vielleicht auf den ersten Eindruck wirkt – wahllos im Boden zu wühlen. Das Wühlen hat allerdings Methode, und was sie hier treiben sind keine postadoleszenten Sandkastenspiele, sondern „Front-Geschichtsforschung“, vulgo Archäologie.

Möglich geworden ist die die Grabung, weil der Domplatz neu gestaltet werden soll und man zwecks dieses Unterfangens auch den Untergrund neu befestigen muss. DIE Chance für die Archäologen. „Die Leute glauben ja oft, wir sagen einfach, wir wollen hier oder dort graben“, schmunzelt Ausgrabungsleiter Ronald Risy, der mich mit einem festen Händedruck, sympathischem Lächeln und neugierigen Augen, die hinter seinen Brillen hervorblitzen, begrüßt. Die Realität sieht freilich anders aus. Die Archäologen spielen eher eine Art History-Feuerwehr, soll heißen: Wenn bei historisch relevanten Stätten neue Bauvorhaben anstehen, die in die Tiefe, also in die Vergangenheit vordringen, dann sieht der Gesetzgeber „Rettungsgrabungen“ vor. Und dann rücken sie aus, die Altertumsforscher, um in einem zumeist relativ kurzen Zeitraum (bis zum Baubeginn) soviel zu bergen und zu erforschen wie möglich.
Bunter Haufen
Der Zeitdruck erfordert auch viel Personal. Risys Team ist dabei ein bunter Haufen. Mit an Bord sind zwei Anthropologen von der Uni Wien, die die Knochenfunde untersuchen „wobei sie nicht rund um die Uhr vorort sind, sondern auch vieles in Wien vorm Computer erledigen – alles wird heute ja schon digital dokumentiert und ausgewertet.“ Weiters hat man von einer Grabungsfirma zwei Spezialisten geleast, fünf Studenten aus Graz packen ebenso mit an wie vier Langzeitarbeitslose vom Kremser Projekt ‚ASINOE‘, die wieder an einen festen Arbeitsprozess herangeführt werden sollen. Last but not least verstärkt aktuell eine Voluntärin aus der Slowakei das insgesamt 15 köpfige Team!
Der Chef selbst, Ronald Risy, ist studierter Archäologe und Historiker. Infiziert mit dem Archäologievirus wurde er während seiner Internatszeit. „In der 7. Klasse haben wir eine Reise nach Griechenland unternommen und uns die historischen Stätten Athen, Delphi, Korinth angesehen. Das hat mich sehr fasziniert. Auch auf der Maturareise nach Sizilien gehörte ich zu jenen, die sich lieber die Ausgrabungen anschauten als zu baden.“ Im Anschluss studierte er an der Uni, machte das Doktorat und arbeitete über zwei Jahrzehnte beim Österreichischen Archäologischen Institut. Über dieses kam er auch mit St. Pölten in Kontakt, wo er seit zwei Jahrzehnten der hiesigen Historie auf der Spur ist und zuletzt von der Stadt als offizieller Stadtarchäologe angestellt wurde. „Ich bin froh, dass ich hier tätig sein kann!“, verweist der Wiener auf seine emotionale Bindung zur niederösterreichischen Hauptstadt „Immerhin habe ich hier beruflich schon mehr oder weniger 20 Jahre meines Lebens verbracht.“ Das mehr oder weniger bezieht sich dabei auf die konkreten Grabungen. Wenn wieder einmal ein Open Window aufgeht und gegraben wird, fokussiert sich fast alles auf den Job. „Aktuell stehe ich in der Früh um fünf Uhr auf. Um sieben Uhr bin ich dann heraußen in St. Pölten, um 18.30 Uhr geht’s wieder heimwärts nach Wien. Aber damit ist der Arbeitstag noch nicht vorbei, weil es gehört ja auch alles dokumentiert, ich muss für die Öffentlichkeitsarbeit sorgen, nehme Interviewtermine wahr, bereite Vorträge vor und dergleichen mehr.“ Auch an Urlaub ist in der heißen Phase nicht zu denken. „Wir müssen die Zeit, die wir zur Verfügung haben, vollends nützen. Da ist kein Urlaub drin!“
Immer wenn er Krimis gräbt
Kurzum, ein Fulltimejob „den man sicher nicht wegen des Geldes macht, sondern rein aus Interesse.“ Dabei ist Archäologe nicht gleich Archäologe. „Im Grunde genommen gibt es verschiedene Typen. Manche Kollegen sind eher ‚Schreibtischtäter‘, da geht es mehr ins Kunsthistorische, andere wiederum, so wie  ich, sind sogenannte Feldarchäologen.“ Kurzum, Männer und Frauen an der Front, die mit eigenen Händen im Staub und der Erde wühlen, wo Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes be-greifbar wird. Und was ist mit dem Typus á la Indiana Jones, wie ihn uns Hollywood vermittelt. Da muss Risy herzhaft lachen. „Den gibt es nicht! Vielleicht früher einmal, im 19. Jahrhundert, aber das waren auch mehr Abenteurer und Schatzsucher denn richtige Archäologen“, verbannt er das Klischeebild ins Reich der Fantasie.  Dennoch ist ein gewisses Spannungselement auch seiner heutigen Tätigkeit nicht abzusprechen, und gerade dieses Faible fürs Detektivische, das sich beim 45Jährigen auch in seiner Leidenschaft für Krimis niederschlägt, scheint für ihn den gewissen Kick des Jobs auszumachen. „Für mich ist Archäologie wie ein Kriminalrätsel. Anfangs gibt es nur Spuren, und man fragt sich, warum sie überhaupt da sind, wie sie entstanden sind, was sie aussagen? Ein Riesenpuzzlespiel, und du versuchst soviele Steine wie möglich freizulegen, denn je mehr Steine du zusammenfügen kannst, ein umso schlüssigeres und richtiges Bild ergibt sich!“, gerät er ins Schwärmen und fügt lachend hinzu. „Das ist ein bisschen wie CSI!“
Mit Pinsel und Pinzette
Und so falsch ist der Vergleich tatsächlich nicht, wenn man dem Team bei der Arbeit zusieht. Eine Studentin etwa legt gerade mit einem Gips-Stuckatur-Werkzeug ein Skelett frei, unschwer erkennbar von einem Menschen. „Ist das ohne Kopf?“, fragt Risy. „Nein, der liegt wohl noch in der Erde“, verweist die Mitarbeiterin auf die Liegerichtung des Körpers. Um die Pietät der sterblichen Überreste zu gewährleisten, werden die Knochen nach der Untersuchung durch die Anthropologen einzeln, also individuell verpackt und am Friedhof beerdigt. „Es gibt ja Leute, die unsere Arbeit ablehnen, uns als Grabschänder bezeichnen, sich über die damit verbundenen Unannehmlichkeiten – etwa wegfallende Parkplätze – und ähnliches aufregen“, führt Risy aus. Bei dieser Ausgrabung war das bislang allerdings noch nicht der Fall, wohl auch deshalb, weil das Interesse die Unbill bei weitem überwiegt. Immer wieder bleiben Passanten stehen und lugen durch den Zaun, um den Archäologen bei der Arbeit zuzusehen.
Und interessant, vor allem historisch relevant, sind die Ausgrabungen allemal. Der Platz war immer ein Hotspot. Schon die römische Besiedlung von Aelium Cetium lässt sich am Domplatz nachweisen, im Mittelalter reichte nicht nur die Stiftskirche bis hinaus auf den Platz, was die Forscher – als erste Überraschung im Zuge der aktuellen Grabungen – durch freigelegtes Mauerwerk beweisen können, sondern ab Mitte des 11. Jahrhunderts befand sich hier auch der städtische Friedhof, der erst 1779 aufgelöst und vor die Tore der damaligen Stadt (heutiger Europaplatz) verlegt wurde. Weiters nahmen die 1133 eingeweihte Stadtpfarrkirche sowie eine Doppelkapelle große Teile des Platzes ein. Beide bestanden bis ins  17. Jahrhundert hinein „dann wurde die Kirche, die aufgrund eines Brandes sehr baufällig war, geschleift und die benachbarte Stiftskirche auch zur Pfarrkirche.“
Selbst in archäologiegeschichtlicher Hinsicht per se ist diese Ausgrabung einzigartig, wie Risy hervorstreicht. „Es ist weltweit einmalig – zumindest ist mir aus der Literatur kein vergleichbarer Fall bekannt – dass ein Friedhof in seiner Gesamtheit und in einer solchen Dimension archäologisch freigelegt wird!“ Anhand der Knochenfunde können die Forscher Alter, Geschlecht, Krankheitsbilder u. ä. für jedes Individuum bestimmen. „Nachdem der Friedhof über mehrere Jahrhunderte bestand, können wir dadurch Schlüsse auf die Entwicklung der Bevölkerung und ihre Lebensweise in diesem Raum ziehen!“, zeigt sich Risy begeistert. Stieg etwa das Lebensalter über die Jahrhunderte, wie veränderte sich die Ernährung, wurden die Menschen größer etc.
Insgesamt schätzen die Forscher, dass rund 30.000 Skelette unter der Erde liegen. Schicht für Schicht arbeiten sie sich in den Untergrund vor, immer nur in kleinen Abschnitten, um etwaige Fundsachen auch der jeweiligen Bodenschicht exakt zuzuordnen können. Denn die Bodenschicht ist quasi wie die Ringe eines Baumes der Zeitmesser. „Jeder Eingriff, der gemacht wurde, zeichnet sich im Boden ab. Und all diese Information bekommt man, wenn man sich in die Tiefe vorarbeitet, sozusagen wieder heraus“, erklärt Risy.
Insgesamt wird sein Team wohl gute zwei Jahre zur Verfügung haben, um den Domplatz zu erforschen. Dann wird sich die Oberfläche wieder schließen und die jahrtausendealte Historie der Stadt unter einem dünnen Mantel aus Pflasterstein und Schotter verbergen. Wird wenigstens, um einen kleinen Blick ins historische Vermächtnis werfen zu können, eine Art Sichtfenster freibleiben, wie man es etwa vom Wiener Michaelaplatz kennt? „Von uns Archäologen wird das natürlich in die Diskussion miteingebracht und propagiert“, so Risy „Das ist allerdings eine politische Entscheidung. Und ein derartiges Unterfangen macht auch nur Sinn, wenn es in einen Kontext gestellt und erklärt wird.“ Damit kommen wir zuletzt noch zu jenem Punkt, der Risy in seiner Arbeit am allerwichtigsten ist. Geschichte muss vermitteln. Muss öffentlich sein. „Es hilft ja nichts, wenn ich um die Geschichte weiß, es aber nicht weitergebe.“ Geschichte weitergeben, das heißt in diesem Sinne auch, den Menschen ein Stück ihrer eigenen Historie, ihrer Identität zurückzugeben, oder, wie es der deutsche Theologe Hans von Keler formuliert hat und wie es gerade für Archäologie im doppelten Sinne zutreffend scheint: „Geschichte ist nicht nur Geschehenes, sondern Geschichtetes – also der Boden, auf dem wir stehen und bauen.“
Führungen
Jeden Freitag findet um 13 Uhr eine Führung durch die Ausgrabung am Domplatz statt!