MFG - Im Zweifel zum Verzweifeln
Im Zweifel zum Verzweifeln


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Im Zweifel zum Verzweifeln

Text Michael Müllner
Ausgabe 06/2018

Zwei Flüchtlinge werden vom Verdacht der Vergewaltigung einer 15-Jährigen in Tulln freigesprochen. Die Volksseele kocht, Medien und Politiker gießen Öl ins Feuer. Ein Blick auf die Hintergründe macht klar: Wir brauchen mehr Vertrauen in die Justiz. Und wir sollten nicht glauben, was wir in der Zeitung lesen.

Die fünfzehnjährige Anna* wohnt gemeinsam mit ihrem Vater in Tulln. Dorthin bricht sie am 25. April 2017 abends auch auf, nachdem sie den Tag zuvor mit einer Freundin in Wien verbrachte. Gegen 22:30 Uhr trifft sie am Bahnhof in Tulln ein und macht sich zu Fuß auf den Heimweg. Sie stößt auf die achtzehnjährigen Lukas und David*, beide kommen vom Fußballschauen in einem Wett-Café und wohnen in der Nähe von Anna auf einer unbebauten Wiese, wo seit einiger Zeit Flüchtlinge in Wohncontainern untergebracht wurden.
* Die echten Namen der Beteiligten sind der Redaktion bekannt. Um eine identifizierende Berichterstattung zu verhindern, wurden personenbezogene Details wo nötig anonymisiert. Bei der Namenswahl haben wir bewusst Vornamen verwendet, die statistisch gesehen sehr beliebt sind – die zugleich aber irritieren, weil wir bei der klischeehaften Berichterstattung über Flüchtlinge andere Namen erwarten würden.
Was in der folgenden Stunde geschah, veränderte das Leben der drei. Das Mädchen wurde als Vergewaltigungsopfer durch die Medien gereicht. Die Burschen als vermeintliche Vergewaltiger an den Pranger gestellt und in Untersuchungshaft genommen. Politik und Medien nutzen den Vorfall, um Stimmung zu machen und Klicks zu erzielen. Auch wenn keiner dabei war, hat jeder eine Meinung. Doch der Reihe nach.
Spurensuche
Anna sucht am nächsten Tag das Krankenhaus in Tulln auf, dieses erstattet Anzeige. Der Verdacht einer Vergewaltigung steht im Raum, Anna weist Kratzspuren am Rücken sowie blaue Flecken auf. In der Nacht zuvor hatte sie über WhatsApp einer Freundin berichtet, sie sei von Flüchtlingen vergewaltigt worden. Es beginnt eine intensive kriminalpolizeiliche Ermittlung. Das Opfer spricht von drei Männern, einer habe nur Schmiere gestanden, zwei hätten sie auf einem Sportplatz und einem angrenzenden Grundstück vergewaltigt. Die Täter kenne sie nicht. Im Spital werden DNA-Spuren von drei Männern sichergestellt. Ein breitangelegter DNA-Test wird angeordnet, von 75 Flüchtlingen in Tulln werden Proben genommen. Und tatsächlich gibt es zwei Treffer, für Lukas aus Afghanistan und David aus Somalia klicken am 16. Mai 2017 die Handschellen. Wem die dritte Spur gehört, weiß man bis heute nicht. Auch der vermeintliche dritte Verdächtige konnte nie ausgeforscht werden. Die Staatsanwaltschaft führt ein umfangreiches Ermittlungsverfahren durch, es werden mehrere Gutachten eingeholt, unter anderem ein „Glaubhaftigkeitsgutachten“, das sich mit Anna befasst. Die Ermittlungen münden in einer Anklage wegen Vergewaltigung.
Hauptverfahren
Nach 315 Tagen Untersuchungshaft findet am 27. März 2018 am Landesgericht St. Pölten die Hauptverhandlung statt. Ein Schöffensenat aus zwei Berufsrichtern und zwei Laienrichtern vom Volk entscheidet, was in jener Nacht wirklich geschehen ist. Die erste Aufgabe des Gerichts ist festzustellen, welchen Sachverhalt es als erwiesen annimmt. Erst danach muss das Gericht diesen Sachverhalt rechtlich beurteilen. Spricht es frei? Verurteilt es im Sinne der Anklage? Oder erkennt es im festgestellten Sachverhalt eventuell eine andere strafbare Handlung und verurteilt die Angeklagten deswegen?
Nach dem Vortrag der Staatsanwältin folgen die Eröffnungsplädoyers der Verteidigerinnen. Danach wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Was während des Großteils der Hauptverhandlung passiert, welche Zeugenaussagen das Gericht hört, welche Beweismittel diskutiert werden, man weiß es nicht. Erst die Schlussplädoyers werden wieder öffentlich abgehalten. In diesen rund dreißig Minuten fassen die zwei Anwältinnen zusammen, weshalb sie Zweifel am Tathergang haben, wie ihn die Staatsanwaltschaft angeklagt hat.
Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück, schon bald ist es wieder da und der vorsitzende Richter verkündet das Urteil: Ein Freispruch im Zweifel. Die Aussagen von Anna scheinen dem Gericht zweifelhaft, nicht nur in einzelnen Details, sondern bei grundsätzlichen Fragen zum Tathergang. So wie es angeklagt war, habe sich die Nacht sicher nicht zugetragen. Im Ergebnis stellt das Gericht fest, dass Anna mit David und Lukas an jenem Abend Sex hatte – aber, dass dieser Sex einvernehmlich stattgefunden hat. Die Richter hätten sich das Urteil nicht leicht gemacht, merkt der Vorsitzende an. Man habe auch über die vermeintlichen Beweise, insbesondere die Verletzungen von Anna, intensiv beraten, jedoch können diese auch von einvernehmlichem Sex stammen. Das Abstimmungsergebnis des Senats sei 2:2 gewesen – ein Unentschieden also, was einen Freispruch zur Folge hatte.
Unfähige Justiz?
Der Freispruch überrascht ganz Österreich. So wie die Geschichte im Vorfeld insbesondere in den Chronikseiten der Boulevardblätter erzählt wurde, schien der Schuldspruch fix. Beobachter konstatieren einen wahren „Shitstorm“ gegen die „unfähige Justiz“. Am Tag nach dem Freispruch erklärt etwa Vizekanzler und FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache in einem Facebook-Posting, das Urteil sei „unerträglich“ und „skandalös“, niemand würde es verstehen. Wenige Tage später griff er das Thema wieder auf und teilte mit, dass sich die beiden mutmaßlichen Täter aus dem Staub gemacht hätten und zudem das Opfer verhöhnen würden. Die Volksseele kocht. Auch abseits der üblichen Verdächtigen, also der Boulevardblätter, die von blutigen Chronikschlagzeilen und politischen Inseraten leben, findet sich durch die Bank nur veröffentlichte Kritik. Die Infodirektorin von Puls 4, Corinna Milborn, kritisiert etwa auf ihrer Facebook-Seite die Freisprüche als „empörend“.
Die Staatsanwaltschaft jedenfalls hatte unmittelbar nach dem Freispruch Nichtigkeitsbeschwerde angemeldet. Vier Wochen hatte der vorsitzende Richter nach dem Freispruch Zeit, das schriftliche Urteil auszufertigen. Als es vorlag, prüfte die Staatsanwaltschaft das Urteil inhaltlich. Danach verzichtete die Anklagebehörde auf die Ausführung des angemeldeten Rechtsmittels, die Freisprüche wurden somit rechtskräftig. Der Sprecher der St. Pöltner Staatsanwaltschaft, Leopold Bien, betont, dass es schlicht keine Nichtigkeitsgründe gab. Er bestätigt auch, dass es im gesamten Ermittlungsverfahren keine Weisungen von übergeordneter Stelle gegeben habe.

"Der Saal war voll mit Reportern. Dennoch: Das Desinteresse an einer sachlichen Berichterstattung hat mich verwundert." VALENTINA MURR, Verteidigerin

Schuldumkehr
Womit wir wieder beim vom Gericht zu ermittelnden Sachverhalt sind – und der Grundfrage in diesem Fall: Kann das Gericht zweifelsfrei feststellen, dass es eben kein einvernehmlicher Sex war, sondern dass Gewalt oder Zwang im Spiel waren? Man wird sich dem Ergebnis des Gerichts anschließen müssen. Akteneinsicht gibt es nur für Prozessparteien, nicht für die Öffentlichkeit. Gerade bei Sexualstraftaten und der Involvierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen scheint dieser Grundsatz schnell nachvollziehbar. Doch auch hier ist in diesem Fall vieles verzwickt.
Wie geht Anna damit um, dass ihr das Gericht nicht glaubt? Die Gefahr ist groß, dass man schnell bei jenem Phänomen landet, das im Englischen „victim blaming“ genannt wird. Oft glaubt man Gewaltopfern schlichtweg nicht. Ein Bewusstsein für diese teils fatale Täter-Opfer-Umkehr ist gerade erst im Entstehen, denken wir etwa an die #metoo-Debatten. Was muss eine Fünfzehnjährige tun, damit man ihr glaubt, fragen sich viele? Wie schwer müssen ihre Verletzungen sein? Wie realistisch scheint es denn, dass eine Minderjährige mit zwei oder drei Flüchtlingen freiwillig ins Gebüsch verschwindet, fragen sich andere? Und überhaupt: Die haben ihre Finger sowieso von unseren Kindern zu lassen, ist für viele ohnehin klar.
Was helfen würde, wäre Vertrauen in ein unabhängiges Gericht. Das sich intensiv mit dem Akteninhalt beschäftigt hat, das Details und Widersprüche erkennt, lange vor der Befragung im Zeugenstand. Anna gab an, die Täter nicht gekannt zu haben. Dennoch hatten beide ihre Handynummer eingespeichert. Es gab auch Tage nach der Tat telefonischen Kontakt, wie ein technischer Sachverständiger rekonstruieren konnte.
Das Gericht fand auch Hinweise dafür, dass bei dem mehr oder weniger freundschaftlichen Treffen in besagter Nacht ein Joint im Spiel war, den die Burschen von Anna erhalten haben. Im langen Ermittlungsverfahren müssen Details erhoben worden sein, die eben jene Zweifel am grundsätzlichen Tathergang ergaben, die dann zum Freispruch geführt haben, wenn auch im Zweifel. So wird es wohl gewesen sein. Dass es an diesem grundsätzlichen Vertrauen hapert, wird in den Tagen nach dem Richterspruch offensichtlich. Nachrichtenseiten lassen ihre Leser abstimmen, bei den (freilich nicht repräsentativen) Umfragen sind über 90 Prozent der abgegebenen Stimmen wahlweise „über den Freispruch entsetzt“ oder von „der Schuld der Flüchtlinge“ überzeugt.
Zugewiesen
Freie Medien sind aber eine Grundlage für unsere Gesellschaft. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören zusammen, wären aber rasch am Ende, wenn nicht Zeitungen kritisch hinterfragen würden. Rechtsanwältin Valentina Murr vertritt David. Zum Tatzeitpunkt war er 18 Jahre alt, er kommt aus Somalia und hat den Status eines subsidiär Schutzberechtigten: „Auch die sogenannten Qualitätsmedien haben kaum über die Vielzahl an Ungereimtheiten berichtet, die ich und meine Kollegin im öffentlichen Schlussplädoyer vorgetragen haben. Der Saal war voll mit Reportern. Dieses Desinteresse an einer sachlichen Berichterstattung hat mich schon verwundert.“
Murr war ebenso wie die Verteidigerin von Lukas, dem zum Tatzeit­punkt 18-jährigen Afghanen, eine Verfahrenshilfeverteidigerin. Ihre Kollegin, die St. Pöltner Rechtsanwältin Andrea Schmidt, merkt an: „Man liest schon verrückte Kommentare, etwa wir würden unsere Mandanten aus Gier verteidigen. Manche haben uns auch Vergewaltigungen an den Hals gewünscht.“ Dabei sind beide Rechtsanwältinnen ohne eigenes Zutun zu dieser Vertretung gekommen. Wer in Untersuchungshaft ist, sich aber keinen Anwalt leisten kann, bekommt von der Anwaltskammer einen Anwalt zugewiesen, jeder Rechtsanwalt kommt so quasi gelegentlich zum Zug. Ein Honorar erhalten diese Verteidiger nicht, der Staat trägt aber quasi als Ausgleich etwas zur Pensionsvorsorge der Rechtsanwälte bei.
Stimmungswechsel
Der Boulevard war jedenfalls schon lange vor der Hauptverhandlung sehr am Tullner Vergewaltigungsfall interessiert. Die Krone titelte etwa „Die Schande von Tulln“, galt die Stadt unter dem ÖVP-Bürgermeister Peter Eisenschenk doch als vergleichsweise liberal im Hinblick auf Flüchtlinge. Schon früh gab es über die Pfarren organisierte Plattformen, die sich um Flüchtlinge gekümmert haben. Mit dem Einsetzen der großen Fluchtbewegung 2015 entstanden dann auch in Tulln Containerunterkünfte, betreut durch das Rote Kreuz. Alles lief reibungslos, die Integrationsarbeit schien zu klappen. Umso größer waren dann der Aufschrei und die Enttäuschung, als plötzlich im Raum stand, dass eine Einheimische „von denen“ vergewaltigt wurde. Der Tullner Bürgermeister verhängte sogar einen „Aufnahmestopp“ und akzeptierte keine neuen Flüchtlinge mehr. Im Tullner Gemeinderat gab es heftige Diskussionen, der rechte Stadtrat der Bürgerliste „TOP Tulln“ warf dem Bürgermeister vor, die Vergewaltigung vertuscht zu haben.
Vertuscht?
Bei näherer Betrachtung zeigt sich auch hier ein differenziertes Bild. Aus ermittlungstaktischen Gründen hielt die Kriminalpolizei die Vergewaltigungsvorwürfe zurück, den Bürgermeister habe man mit der Bitte informiert, ja nichts vorab bekanntzugeben. Man wollte die Täter ausforschen, ohne sie zu warnen. Was ja offensichtlich geglückt schien, konnten doch anhand der Spurensicherung und der durchgeführten DNA-Proben zwei Flüchtlinge festgenommen werden.
Auch diesen Punkt der Geschichte findet man im Verlauf der Recherchen immer wieder: Behaupten doch Lukas und David, dass sie bei der Abgabe der DNA-Probe gar kein Problem für sich kommen sahen. Dass ein fünfzehnjähriges Mädchen vergewaltigt worden sei, brachten die beiden scheinbar gar nicht mit ihrem bereits ein paar Wochen zurückliegenden Abend mit Anna in Verbindung, die sie auch für älter gehalten hatten.

"Manche haben uns auch Vergewaltigungen an den Hals gewünscht." ANDREA SCHMIDT, Verteidigerin

Stimmungsmache
Auch an dieser Stelle hört man höchst unterschiedliche Meinungen zu ein und derselben Tatsache. Wie kommen zwei 18-jährige Flüchtlinge überhaupt auf die Idee eine 15-jährige Einheimische könne mit ihnen einvernehmlichen Sex haben wollen? Anders betrachtet: Einem selbstbestimmten, bald 16-jährigen Mädchen steht es in unserer Gesellschaft wohl frei, mit zwei 18-jährigen Burschen einvernehmlichen Sex zu haben? Aber waren die zwei überhaupt 18? „Aus gut informierten Kreisen“ wollten Boulevardblätter wissen, dass die beiden in Wahrheit „wohl 35 Jahre“ alt seien. Tatsache ist, das Alter wurde im Rahmen der Asylverfahren zweifelsfrei festgestellt. Die Geschichte mit dem gefälschten Alter entbehrt also jeder Grundlage. Für Stimmungsmache reicht sie allemal.
Unschärfen und Unwahrheiten ziehen sich generell durch die Berichterstattung zum Fall. Vor der Hauptverhandlung präsentierten Medien Anna und auch ihre Eltern, durchaus identifizierend. Welchen Sinn es hat, ein vermeintlich jugendliches Gewaltopfer derart in die Öffentlichkeit zu zerren? Als Fürsprecher trat nach einiger Zeit dann ein der Öffentlichkeit alter Bekannter ins Bild, Ewald Stadler, früher Politiker bei FPÖ und BZÖ, nun Rechtsanwaltsanwärter.
Er vertrat die Interessen von Anna im Hauptverfahren und stand auch den Medien für Auskünfte zur Verfügung. Unsere umfangreiche Anfrage mit über zwanzig Fragen zum Verfahren und den Konsequenzen des Freispruchs ließ Ewald Stadler trotz mehrfacher Nachfrage unbeantwortet. Die schon angesprochene Bürgerliste „TOP Tulln“ bewirbt Stadler auf ihrer Website als kostenlosen Rechtsberater für Bürger.
Nur Gewinner?
Vieles spricht dafür, dass mehrere Akteure des rechten Lagers erkannt haben, dass man bei diesem Fall nur gewinnen kann. Als großzügige Helfer des Opfers, etwa in Form von Spendenaufrufen oder dessen Rechtsvertretung. Und als Scharfmacher gegen Flüchtlinge sowieso. Bei einem Schuldspruch hätte man die Gefährlichkeit und Dreistigkeit „der Flüchtlinge“ amtlich gehabt. Mit dem überraschenden Freispruch war aber auch nichts verloren, man ging zum Gegenangriff über und nahm dabei auch gleich die Justiz mit ins Visier.
Der freiheitliche Landesrat Gottfried Waldhäusl sprach schon am Tag nach dem Freispruch in einer Presseaussendung von einem „Skandalurteil“ und meinte, „es sieht danach aus, als wären unsere Landsleute vor der Justiz benachteiligt gegenüber Zuwanderern.“ Jedoch hatte er für das aufgebrachte Volk Trost: „Ich habe den Fall prüfen lassen. Demnach gibt es Gründe dafür, dass es in Nieder­österreich für diese beiden Asylwerber keine Leistungen aus der Grundversorgung geben wird.“ Am 5. April zitiert „Heute“ den Landesrat, er habe verfügt, dass keine Grundversorgung gewährt wird.
Verfügungsberechtigt?
Wahr ist hingegen, dass David nach seiner Haft in Wien wohnt und einen gültigen Aufenthaltstitel hat. Keine Rede davon, dass er einen Antrag auf Aufnahme in die Grundversorung in Niederösterreich gestellt hätte. Anders bei Lukas. Er erhält wenige Tage nach seinem Freispruch einen negativen Asylbescheid, obwohl ein zulässiges Rechtsmittel eingebracht wird, droht ihm jederzeit die Abschiebung nach Afghanistan – seine größte Angst, wie er im Gespräch mit MFG erzählt. Bevor er dorthin zurückgeht, würde er sich wohl eher umbringen, erzählt er erschöpft.
Im Boulevard wird unterdessen weiterhin „aus gut informierten Kreisen“ scharf gegen die beiden Freigesprochenen geschossen. Beide seien untergetaucht und aus Angst vor einer Neuauflage des Verfahrens wohl schon über alle Berge. Eine Befürchtung, die auch Ewald Stadler mehrfach in Interviews äußert. Tatsächlich sind beide für ihre Verteidigerinnen jederzeit erreichbar und könnten binnen Stunden bei den Behörden vorstellig werden. Lukas marschiert sogar mehrmals im Monat zur Landesregierung und wird im Haus 17A vorstellig. Seit der Haftentlassung ist er mittel- und obdachlos, er möchte so wie vor seiner Verhaftung wieder in die Grundversorgung kommen.
Die Behörde will es aber genau wissen und prüft wochenlang, ob er nicht doch irgendwoher Vermögen hat, um für sich selbst zu sorgen. Der Landesrat behält vorerst recht, die Grundversorgung bleibt Lukas verwehrt. Doch geht das überhaupt? Ist die zuständige Fachabteilung des Landes nicht an Gesetze gebunden? Oder zählt der Zuruf des Landesrats? Sein Büro stellt dazu befragt klar, dass die Entscheidung „natürlich“ aufgrund der gültigen Gesetze getroffen werde, jedoch gebe es Gründe für und Gründe gegen die Gewährung der Grundversorgung. Auch Ermessen könne letztlich bei der Entscheidung eine Rolle spielen. Am 20. April zitiert „Heute“ Waldhäusl dazu mit: „Ich habe verfügt, dass er nicht wieder in die Grundversorgung kommt.“ Und das obwohl das zugrundeliegende Prüfverfahren der Fachabteilung mehr als ein Monat später noch immer am Laufen ist.
Tatsächlich strafbar?
David wiederum, so weiß das Klein-Format, habe in Untersuchungshaft einen „anderen Insassen sexuell angegriffen“. Das Bild der schrecklichen Triebtäter wird weitergezeichnet. Auf Nachfrage stellt sich heraus, was genau angeklagt ist. Die Staatsanwaltschaft wirft David vor, dass er mit der flachen Hand einen Mithäftling zwei Mal am Oberschenkel gestreichelt habe. Seine Verteidigerin dazu: „Da soll sich der Durchschnittsösterreicher mal fragen, wie oft er schon sexuelle Belästigung begangen hat, wenn diese Handlung tatsächlich strafbar wäre.“ Zudem dürfte das mittelweile enthaftete „Opfer“ wenig Interesse an einer Verfolgung von David haben. Er war als Zeuge geladen, ist vor Gericht aber nicht einmal erschienen.
Kuscheljustiz?
All diese Fakten stehen also in eklatantem Widerspruch zum Vorwurf der Kuscheljustiz. Oliver Scheiber ist Vorsteher eines Wiener Bezirksgerichts und Vortragender an der Uni Wien. Auf seinem Blog vertrat er kurz nach dem Freispruch in erster Instanz dazu eine Privatmeinung: „Keine Gruppe hat derzeit wohl vor österreichischen Behörden einen schwereren Stand als junge männliche Asylwerber. Dass sie in einem Gerichtsverfahren unsachlich milde behandelt würden, ist absurd und lebensfremd.“
Auch Studien belegen die Ungleichbehandlung ausländischer Staatsbürger vor österreichischen Strafgerichten, dass etwa bei Ausländern mehr Gefängnisstrafen als Geldstrafen verhängt werden bzw. dass Strafen öfters unbedingt ausgesprochen werden. Angesprochen auf die Kritik an der Justiz, insbesondere durch Politiker, merkt er an, dass seiner persönlichen Meinung nach Begriffe wie „Skandalurteil“ das Vertrauen zwischen staatlichen Institutionen stören: „Urteile sollen natürlich diskutiert werden. Aber so wie Richterinnen und Richter die Beschlüsse des Parlaments respektieren, so muss auch die Politik Gerichtsurteile respektieren.“
Während also die beiden rechtskräftig Freigesprochenen darum kämpfen, dass die Öffentlichkeit ihre Unschuld anerkennt, ist es um Anna ruhig geworden. Im Zuge der Recherchen entsteht der Eindruck, dass sie zweifelsfrei ein Opfer ist, wenn auch nicht von Lukas und David im Sinne der Anklage. Was für Außenstehende oft so einfach scheint, sich nämlich schnell eine Meinung zu bilden, wird zunehmend schwierig, wenn man sich mit den Details auseinandersetzt. Und man muss leider sagen, wer glaubt, was in der Zeitung steht, erfährt oft nicht die ganze Wahrheit.
Was uns zu einer abschließenden Selbstreflexion führt. Wie geht man so eine „Geschichte“ an, wenn man journalistische Sorgfalt ernst nimmt? Vieles war schon geschrieben, doch entscheidende Handlungsstränge und Widersprüche offenbaren sich eben erst, wenn man tiefer gräbt. Die Geschichte von Anna haben Medien in den letzten Monaten oft erzählt – ob ihr damit ein Dienst getan war, lässt sich schwer sagen. Die Geschichte von Lukas und David hat bisher keinen interessiert. Auch heute noch schwebt der Freispruch im Zweifel und ihre Herkunft als „Schuldsvermutung“ über ihren Köpfen.
In der Darstellung des Geschehens halten wir uns hart an die Fakten. Doch dieser Geschichte wohnt auch ein Ungleichgewicht inne. Wir lassen Lukas in Form eines Interviews zu Wort kommen. Soll man das? Manche wird es empören. Doch darin liegt keine Parteinahme. Wir denken, dass seine Geschichte bisher niemand hören wollte, dass ihn niemand gefragt hat. Zudem ist er volljährig, kann für sich sprechen. Bei Anna liegen die Dinge anders. Mit ihr waren wir auch nicht im direkten Kontakt. Umso wichtiger war uns, ihre Sicht so darzulegen, wie sie sie bisher vertreten hat.
Wir sind überzeugt, dieser Freispruch ist kein Signal an Gewaltopfer, dass man ihnen nicht glaubt. Hilfe finden Betroffene im Web: gewaltinfo.at.

Vergewaltigung
§ 201. (1) Wer eine Person mit Gewalt, durch Entziehung der persönlichen Freiheit oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 89) zur Vornahme oder Duldung des Beischlafes oder einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung nötigt, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen.
(2) Hat die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1) oder eine Schwangerschaft der vergewaltigten Person zur Folge oder wird die vergewaltigte Person durch die Tat längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt oder in besonderer Weise erniedrigt, so ist der Täter mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren, hat die Tat aber den Tod der vergewaltigten Person zur Folge, mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.

„Aber frei bin ich noch immer nicht“
Zwei Jahre nach seiner Ankunft in Österreich kam der 19-jährige Afghane Lukas* am 27. März 2018 wieder auf freien Fuß. Zuvor verbrachte er 315 Tage in Untersuchungshaft. Noch Wochen später steht er mittellos auf der Straße.
Wie geht es Ihnen nun nach Ihrem rechtskräftigen Freispruch?
Erst gestern war ich wieder im Regierungsviertel, um mich bei der Behörde zu erkundigen, ab wann ich wieder Grundversorgung erhalte. Bevor ich in Untersuchungshaft gekommen bin, hatte ich in Tulln einen Platz in einem Flüchtlingsquartier, ich hatte ein Bett und Essen. Nach der Haft habe ich nun weder ein Dach überm Kopf noch Geld für mein tägliches Leben. Die Grundversorgung wurde mir einfach gestrichen.
Wo wohnen Sie denn jetzt?
Ich habe keine Unterkunft und bin nach der Enthaftung auf der Straße gestanden. Mein großer Wunsch ist, dass ich wieder die notwendigste Versorgung bekomme, so wie vor der Untersuchungshaft. Ich möchte nicht weiterhin in Parks schlafen mit irgendwelchen Junkies. Ich möchte nicht stehlen oder Drogen verkaufen, nur damit ich mich irgendwie durchschlage. In Österreich habe ich keine Familie, die mir helfen kann. Nur ein paar Freunde.
Wieso sind Sie überhaupt nach Österreich gekommen?
In meiner Heimat in Afghanistan hatte ich ganz schlimme Probleme. Ich kann dorthin unmöglich zurück. Glauben Sie mir, kein Mensch verlässt seine Heimat, wenn er nicht wirklich muss. Ich habe Angst, dass ich in Afghanistan nicht lange überleben würde. Wahrscheinlich bin ich tot, sobald ich das Flughafengelände verlasse. Ich hatte keinen speziellen Plan, wohin ich fliehe. Ich bin eben in Österreich gelandet und hoffe nun seit Jahren, dass ich hierbleiben darf.
Kurz nach dem Freispruch durch das Strafgericht wurde von einem anderen Gericht Ihr Asylantrag abgelehnt. Sie könnten jederzeit abgeschoben werden, obwohl diese Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist. Wie gehen Sie damit um?
Ich habe große Angst. Ich kann unmöglich nach Afghanistan zurück. Das darf nicht passieren! Das ist für mich das Wichtigste, dass ich nicht dorthin zurückgebracht werde. Wenn ich nicht in Österreich bleiben kann, dann muss ich eben woanders hin. In ein anderes Land. Aber ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll, wie ich dorthin kommen würde.
Haben Sie schon daran gedacht wieder zu fliehen?
Ich will nicht weggehen. Ich möchte in Österreich bleiben, ich möchte hier in Sicherheit leben. Desto länger ich darüber nachdenke, desto eher fürchte ich, dass es für mich nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder ich darf hierbleiben und bin in Sicherheit. Oder ich bringe mich um.
Haben Sie Selbstmordgedanken?
Das Wichtigste ist, dass ich nicht nach Afghanistan muss. Ich war zehn Monate in Haft, obwohl ich unschuldig bin. Ich habe nichts verbrochen. Im Gefängnis war es nicht leicht für mich, aber auch jetzt geht es mir nicht gut. Ich bin seit Wochen entlassen, habe aber keinerlei Unterstützung. Das Gericht hat gesagt, dass ich frei bin, dass ich nicht im Gefängnis bleiben muss. Aber frei bin ich noch immer nicht. Ich kann mir nichts zu Essen kaufen, ich weiß nicht, wo ich schlafen werde. Es geht mir nicht gut, auch psychisch nicht. Ich würde gerne eines Tages eine Therapie machen, damit ich das alles verarbeiten kann. Seit zwei Wochen juckt mich der ganze Körper, ich kratze mich ständig. Wahrscheinlich ist das nur im Kopf, aber ich bin nicht versichert, ich kann zu keinem Arzt gehen, der mir helfen könnte. Ja, bevor ich nach Afghanistan zurück muss, würde ich mich wohl eher selber töten.
Was haben Sie sich gedacht, als Ihnen eine DNA-Probe abgenommen wurde?
Als die Polizei im Quartier Proben genommen hat, war ich nicht vor Ort. Also hat mich ein Flüchtlingsbetreuer informiert, sobald ich zurück war. Ich habe mir dann einen Termin ausgemacht und meine Probe abgegeben. Ich wäre nie im Traum darauf gekommen, dass das für mich zu einem Problem werden könnte.
Sie haben nie bestritten, dass Sie mit dem Mädchen Sex hatten?
Nein, das habe ich immer zugegeben. Alles war einvernehmlich und freiwillig! Wir kannten uns ja auch schon etwas. Ich hatte also deswegen überhaupt kein schlechtes Gewissen.
Das Mädchen hat behauptet, dass sie von zwei Männern ihrer Freiheit beraubt, geschlagen und vergewaltigt wurde. Ein dritter Mann soll Schmiere gestanden haben. Verstehen Sie, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund der Aussagen des Mädchens Anklage erhoben und Sie in Untersuchungshaft genommen hat?
Ich verstehe nicht, wieso ich fast ein Jahr im Gefängnis war. Ich verstehe auch nicht, warum das Mädchen etwas Falsches behauptet hat. Nein, das verstehe ich nicht. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, wieso sie so etwas über mich erzählt hat. Als ich in Österreich angekommen bin, habe ich eine Broschüre gelesen. So eine Art Handbuch, wie man in Österreich lebt. Da ging es auch um Werte und Zusammenleben. Ich verstehe das alles, aber ich habe nichts Verbotenes getan.
Trotz dieser Erfahrungen wünschen Sie sich eine Zukunft in Österreich?
Ja, ich will hierbleiben. Ich wünsche mir auch, dass ich mit dem rechtskräftigen Urteil in der Hand zur Behörde im Regierungsviertel gehen kann und ihnen zeigen kann, dass ich unschuldig bin. Damit ich dann hoffentlich wieder ein Dach überm Kopf habe, etwas zu Essen und das nötige Geld für den Arzt.
*Die Namen der Beteiligten wurden geändert.

Hinweis vom 1. Juni 2018:
Dieser Artikel wurde erstmals am 1. Juni 2018 veröffentlicht. In den Tagen zwischen Redaktionsschluss und Erscheinungstermin gab es weitere Entwicklungen im Hinblick auf Lukas*. Der Afghane erhielt wie berichtet nach seiner Haftentlassung und dem rechtskräftigen Freispruch keine Grundversorgung durch das Land NÖ. Am 29. Mai meldete sich Lukas in einer Betreuungseinrichtung in Salzburg. Die NÖ Landesregierung hatte ihm dort einen Platz vermittelt und ihn so quasi zur „Ausreise“ aus Niederösterreich gezwungen. Begründet wurde das unter anderem mit „Wahrnehmungen in den sozialen Netzwerken“, womit wohl jene negative Stimmung gemeint ist, die sich auch aus der Berichterstattung der Medien über diesen Fall ergab.
Lukas verbrachte nur wenige Stunden in der Salzburger Betreuungseinrichtung, bis er am Fronleichnams-Feiertag von der Polizei abgeholt und nach Wien in ein Polizeianhaltezentrum gebracht wurde. Unseren Informationen nach wird derzeit die Abschiebung nach Afghanistan vorbereitet. Das Rechtsmittel gegen seinen negativen Asylbescheid wurde durch Rechtsanwältin Michaela Krömer fristgerecht vor wenigen Tagen beim Verfassungsgerichtshof eingebracht. Wie jüngst in Medien berichtet, hebt der VfGH viele Entscheidungen der ersten Instanz wegen Fehlern auf.** Ob dies auch auf Lukas zutrifft, wird erst die Zukunft zeigen. So wie es aussieht, wird er bis zur Rechtskraft aber schon längst seinem Schicksal in Afghanistan überlassen worden sein.
** Externe Links zu themenspezifischen Artikeln:
Profil: „Woher kommt die hohe Fehlerquote bei Asylbescheiden?“
Kurier: „Asylbescheide: „Würfeln wäre richtiger“
* Die echten Namen der Beteiligten sind der Redaktion bekannt. Um eine identifizierende Berichterstattung zu verhindern, wurden personenbezogene Details wo nötig anonymisiert. Hinweis vom 20. Juni 2018:
Der Verfassungsgerichtshof hat über das Rechtsmittel von Lukas* entschieden, der Afghane erhält kein Asyl in Österreich und muss das Land verlassen. In seiner Entscheidung begründete der VfGH, dass das Recht auf Parteiengehör in seinem Verfahren gewahrt wurde – auch wenn Lukas nur ein einziges Mal vernommen wurde und keine mündliche Verhandlung durchgeführt wurde.
In seinem Asylverfahren wurde Lukas von Rechtsanwältin Michaela Krömer vertreten. Die Entscheidung besorgt die Juristin: „Das gegenständliche Verfahren war alles andere als fair. Wir hätten uns eine mündliche Verhandlung zur Darlegung der Asylgründe erhofft. Es braucht ein faires Verfahren um festzustellen, ob das Recht auf Asyl besteht. Dies ganz ungeachtet von der Frage, ob man Menschen derzeit überhaupt nach Afghanistan abschieben darf.“
Die Abschiebung wird voraussichtlich am 23. Juni 2018 erfolgen. * Die echten Namen der Beteiligten sind der Redaktion bekannt. Um eine identifizierende Berichterstattung zu verhindern, wurden personenbezogene Details wo nötig anonymisiert.