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Ein Roter sieht schwarz


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St. Pöltens gute Seite

Ein Roter sieht schwarz

Text Johannes Reichl
Ausgabe 03/2019

Nur knapp 30 Kilometer von St. Pölten entfernt wurde vor 130 Jahren die SPÖ in Hainfeld gegründet. Kaum jemand hat sich damit sowie mit der historischen Entwicklung der Partei in Folge so intensiv auseinandergesetzt wie Siegfried Nasko, der nicht nur jahrzehntelang in verschiedenen politischen Funktionen für die Partei tätig war, sondern auch als einer ihrer renommiertesten Historiker gilt. Wir plauderten mit ihm über den aktuellen Zustand der Partei, Gründe ihres Abstieges, die neue Frontfrau sowie Chancen auf eine Trendumkehr in Zeiten des Rechtspopulismus.

Ganz banal gefragt: Wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand der SPÖ, die dieser Tage ja ihr 130-jähriges Gründungsjubiläum beging? 
Die SPÖ ist in meinen Augen in ihrer Geschichte steckengeblieben und präsentiert sich aktuell als Globalisierungs-Modernisierungsverlierer. Man ist stolz auf die Gründungsväter und auf das Erreichte – mit dieser selbstgefälligen Nabelschau hätte man aber spätestens in den 80ern abschließen müssen. Seit damals ist man nicht mehr als Arbeiterpartei wahrnehmbar.
Warum gerade Ende der 80er?
Durch den Fall des Eisernen Vorhangs hat die neoliberale Globalisierung ihren Siegeszug angetreten und das Fatale war, dass die sozialdemokratischen Verantwortlichen in Europa nicht nur keine Alternative zu dieser Entwicklung geboten haben, sondern ganz im Gegenteil Privatisierungen, Sparprogramme, Entstaatlichung etc. als Zielsetzungen in ihre Programme aufgenommen haben. Die SPÖ hat dadurch in der Nach-Kreisky-Ära sukzessive ihre eigenen Bastionen zerschlagen. Einen letzten „kreativen“, in Wahrheit bitteren Zucker hat diesbezüglich Christian Kern mit seinem Plan A gestreut, in dem es zahlreiche Tabubrüche gab – von der Studienplatzfinanzierung und damit einhergehend Zugangsbeschränkungen des freien Studienzuganges  bis hin zu einer „Arbeitszeitflexibilisierung“, die schon bis an die Grenzen des 12-Stunden-Tages gegangen ist, den die nunmehrige Regierung jetzt umgesetzt hat.
Aber waren das nicht notwendige Kompromisse und Zugeständnisse an die Zeit? Die Welt, auch die Marktverhältnisse haben sich geändert.
Wie ich den Markt regle – oder nicht – ist aber eine politische Entscheidung. Fakt ist, dass die Sozialisten überall federführend und in Regierungsverantwortung mitgewirkt haben, dass in den letzten Jahrzehnten die Reallöhne stagnierten, der Bildung kein Vorrang mehr gegeben wurde, die Schere zwischen Arm und Reich eklatant auseinandergegangen ist. Man kann sich als Kanzlerpartei nicht bloß des Machterhalts wegen permanent der Verweigerung des Koalitionspartners beugen. Mit einer derartigen Einstellung hätte die Sozialdemokratie 1918/20 wohl nie den 8-Stunden-Tag durchgebracht.2008 war dann – gerade auch für die eigene Wählerschaft – der Moment des bösen Erwachens. Denn plötzlich wurden Milliarden in die Banken gepumpt, während es vorher keine Millionen für konstruktive menschliche Weiterentwicklung gegeben hatte.
Und das haben die Wähler abgestraft?
Es machte sich v. a. das Gefühl breit, dass die SPÖ – im bequemen Verlassen auf die Kraft von Titanen wie Benya oder Kreisky in den 70er- und 80er-Jahren –  den Bezug zur Basis, zu den Bedürfnissen der Menschen längst verloren hat und die SPÖ-Mannschaft auf Bundesebene zu einer Selffish-Gemeinschaft verkommen ist, der es v. a. um den eigenen Vorteil und Machterhalt geht, während die Basis und ihre Sorgen oft außen vor bleiben.   
Worin sehen Sie das manifestiert?
Man hat sich vom ehemaligen Anspruch der aktiven Einbeziehung der Mitglieder und Wähler verabschiedet, auch von eigenen Formaten. Das ursprüngliche Leben in Bildungsvereinen etwa ist komplett erloschen. Die Partei hat keine eigenen Kanäle mehr, es gibt keine eigenen aktiven Arbeiterzeitungen mehr, keine aktive Suche und Einbindung des Nachwuchses und damit auch keine neuen Ideen. 
Aber es gibt doch nach wie vor die klassischen Sektionen.
Die sind aber zu reinen Informations- und PR-Veranstaltungen verkommen, wo referiert wird, was „die Politik“ beschlossen hat, nicht aber ernsthaft gefragt wird, was sozusagen die Basis einbringen möchte und kann. Wenig verwunderlich also, dass auch das keinen mehr interessiert. Dabei hätte die Basis viel einzubringen, gerade etwa in Fragen leistbaren Wohnens – wo etwa ist der soziale Wohnbau geblieben? Es gibt ihn nicht mehr! – oder auch bei der Pflege, Gesundheit etc. 
Aber ist es nicht geradezu paradox, dass man – wenn ich Sie richtig verstehe – von einer gestörten Kommunikation zur Basis spricht, wo die neuen digitalen Möglichkeiten den direkten Draht zu den Bürgern doch eher erleichtern.
Das ist der große Irrglaube. Natürlich erreiche ich heute vermeintlich mehr Leute, nur „erreiche“ ich sie nicht wirklich – digitale Einladungen etwa können den persönlichen Kontakt nie ersetzen, das ist eine ganz andere Qualität. Und daher ist es auch fatal gewesen, dass die SPÖ aus Gründen der Rationalisierung – schon zuvor –  etwa vom persönlichen Kassieren der Mitgliedsbeiträge auf Erlagscheine umgestellt hat. Dadurch ist der unmittelbare Kontakt zu den Mitgliedern, wo man auch geplauscht und hineingehört hat, was die Leute so bewegt, verloren gegangen. Um den kümmert sich aktuell – quasi als letzte Bastion der ehemaligen drei Pfeile der Arbeiterbewegung – nur mehr die Gewerkschaft, die noch Lebenszeichen von sich gibt und am ehesten das repräsentiert, was man früher als sozialdemokratisch und links bezeichnet hat.
Aber musste die SPÖ nicht notgedrungen in ihrer Entwicklung in die Mitte rücken – der klassische Arbeiter ist ja, jetzt ganz brutal formuliert, auch im Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung und Robotisierung – ein „Minderheitsprogramm“. Der Selbstanspruch der SPÖ war aber immer der einer breiten Volks- und Massenpartei.
Die SPÖ hat sich ja sogar  selbst – als erster formulierte das Vranzitky – ganz bewusst als „Partei der Mitte“ definiert und aktiv die Mitte gesucht. Das heißt aber nicht notgedrungen, dass man sich von den Arbeitern und dem Wirken für diese verabschiedet – dieser Eindruck ist aber entstanden. Und diesen zuvor als links verorteten Teil der Arbeiterschaft hat – im Übrigen trotz aktuell gegensätzlicher, gar nicht arbeiterfreundlicher  Regierungsmaßnahmen – v. a. die FPÖ absorbiert, weil sie mehr um sie gebuhlt hat. Schauen Sie sich an, wie die Freiheitlichen, ja selbst die ÖVP bzw. die Türkisen in klassischen Arbeiterbezirken wie etwa Floridsdorf ambitioniert und aggressiv auftreten – mit viel Jugend, Werbeständen, direktem Kontakt, während die SPÖ an dieser Frontarbeit kein Interesse zu haben scheint, ja eher den Eindruck vermittelt, man möchte gar nicht beim Leberkäse-Semmel-Essen stören. Weil man sich dafür zu gut ist?Und nicht anders ist die Situation bei den Pensionisten. Auch hier haben  „alte“ Sozialdemokraten den Manager-Alptraum an der Spitze der ehemaligen Arbeiterpartei als Verrat empfunden, was zu Frustration geführt hat. Auch hier sind viele zur FPÖ abgewandert.
Was meinen Sie mit Manager-Alptraum?
Auf der Suche nach personeller Erneuerung hat  die SPÖ ja in der Nach-Kreisky-Ära eine nahezu schizophrene Hand geführt. Man kann es als „zukunftsorientiert“ einordnen, dass man frühzeitig Manager an die Spitze holte, es waren allerdings v. a. Manager der Wirtschaft wie Vranitzky, Klima oder Kern. Aber nur weil einer ein guter Wirtschaftsmanager ist, heißt das ja noch lange nicht, dass er eine Partei mit ihren zahlreichen verschiedenen Menschen und Strömungen führen kann. Und allen Berufungen auf die glorreiche Vergangenheit zum Trotz hat etwa auch die Regierung Faymann in ihrer sprichwörtlichen Sparwut – ein banales Beispiel aus persönlicher Erfahrung, das aber schön die Symptomatik illustriert – etwa nicht einmal Geld für den soliden Weiterbetrieb ihres Karl Renner Museums in Gloggnitz locker gemacht. Heute muss man der schwarz-blauen Regierung dankbar sein, dass sie – wie im Übrigen auch das „schwarze“ Land Niederösterreich – auf das Renner-Museum schaut.
Wobei mit Pamela Rendi-Wagner ja nun kein Manager, sondern eine Ärztin das Ruder in der Partei übernommen hat. 
Wobei es ja skurril ist, dass die SPÖ die Neubestellung Rendi–Wagners quasi als Inkarnation des Wieder-Auflebens des Erbes Viktor Adlers feiert, nur weil der auch Arzt war. Erstens war der Armenarzt, und zweitens sollte man sich, wenn man ihn schon „bemüht“, v. a. dessen Grundeinstellung ins Stammbuch schreiben und leben:  „Man muss die Menschen gern haben.“ Bei der aktuellen Bundes-SPÖ hat man eher den Eindruck, dass sie gar nicht so viel mit den Leuten zu tun haben möchte. Wenn Sie mich also fragen, was mit der Bestellung von Pamela Rendi-Wagner neu an die Spitze der SPÖ gekommen ist, dann würde ich das am ehesten mit „Sprachlosigkeit“ beantworten. Sie symbolisiert, dass der Charme der Arbeiterpartei längst vorbei ist und repräsentiert die urbane, höhere Mittelschicht.
Das heißt Sie sehen schon in der Wahl der Frontfiguren ein falsches Signal?
Auch. Vor allem aber in den Inhalten beziehungsweise den nicht vorhandenen Inhalten. Das ewige Herumfuchteln mit der Nazikeule, das ewige Herumtragen ehemaliger Meriten à la „Wir haben dem  Faschismus Einhalt geboten“ und sind deshalb moralisch überlegen, das penetrante Verweisen auf glorreiche Zeiten in den 70er- und 80er-Jahren, das versteht etwa die heutige Jugend ja gar nicht mehr. Das beantwortet auch nicht die brennenden Fragen der Gegenwart. Nicht zuletzt fehlen der SPÖ seit Ende der 80er-Jahre zunehmend die Kreativität und das kritische Potential der Künstler. Auch die aktuell an den Tag gelegte Wehleidigkeit in der Opposition sollte man endlich überwinden und nicht ständig vermitteln, was die anderen sozusagen falsch machen, sondern umgekehrt klar machen, was man selbst richtig machen möchte. Dazu bedarf es aber eines stringenten Programms, eines klaren authentischen Zieles! Da sehe ich aber nichts. Vielmehr macht sich der Eindruck breit, dass die SPÖ ihr Gespür für Erneuerung, das sie ehemals auszeichnete, verloren hat und im Maschinenzeitalter stecken geblieben ist.
Aber es wurde doch ein neues Programm entwickelt und beschlossen.
Schon, aber der ganze Prozess war eine Farce. Und unter der neuen Vorsitzenden wurde der Reformentwurf von Christian Kern und das, was man unter Einbindung der Basis endlich formuliert hatte, gleich wieder aufgeschnürt oder verschoben. Das war ein verheerendes Signal.
Wobei die Mitbestimmung der Basis ja doch Eingang gefunden hat.
Es ist ja nett, dass das neue 67 Seiten starke Grundsatzprogramm als „Reform“ auch eine schmale Mitbestimmung der Mitglieder ermöglicht, wenn 10% dieser sich auf die Beine stellen. Davon ausgeklammert hat man allerdings gleich einmal die Koalitionsentscheidung – da obliegt es dem Vorstand, ob er die Leute einbinden will oder nicht. Wie ernst nimmt man es dann mit der Mitsprache wirklich, wenn man sie nur hören möchte, wenn sie einem genehm ist? Und im gesamten Konvolut gibt es in Wahrheit keine klaren Wegweiser: Tritt man nun für Umverteilung oder Wohlstandswahrung ein? Für Einzelvorsorge oder Solidarität bis hin zur Selbstaufgabe? Außerdem hat man sich in der Flüchtlingsfrage den Rechten gebeugt – so heißt es im Programm „Integration vor Zuzug“. Das Programm enthält zwar die Klausel, dass die Pensionen weiter garantiert werden, gibt aber keine Antwort auf das „wie“. Gerade hier wäre die Notwendigkeit des Zuzugs zu betonen und auf den durch die Digitalisierung prognostizierten künftigen Mangel nicht nur an manueller Arbeit hinzuweisen. In Wahrheit bleibt man zukunftsorientierte Antworten schuldig, und mit alten Hüten, die man ab und an aus der Mottenkiste hervorzaubert, ist schwer etwas zu gewinnen.
Wie wäre denn etwas zu gewinnen Ihrer Meinung nach?
Die SPÖ muss sich radikal verjüngen und erneuern, indem sie aktiv ein neues Substrat aufbaut, neue Menschen sammelt, vor allem auch Junge und Frauen einbindet. Sie muss endlich wieder zu- und hinhören, aktiv auf die Leute zugehen – und zwar über die Wahlerfahrung hinaus. Warum wird der Jugend nirgends Priorität eingeräumt? Das ist ein schlimmer Fehler! Selbst die vermeintlich verzopfte ÖVP hat einen 30-jährigen zu ihrem Parteivorsitzenden gemacht, ja sogar zum Kanzler! Die SDAP St. Pölten erreichte im Schwung der Republikgründung bei den Gemeinderatswahlen 1919 unter Bürgermeister Hubert Schnofl beachtliche 26 Mandate. Seither erfolgte 2016 die 19. Gemeinderatswahl. Im Kontrast zur de facto europaweiten Stagnation hat die SPÖ in St. Pölten unter Bürgermeister Matthias Stadler ihre absolute Mehrheit mit gleichfalls 26 Mandaten gehalten. Ich habe es vermisst, dass bei der Suche nach einer neuen Bundesspitze dieses Erfolgskriterium keine Rolle gespielt hat. Es bedarf jedenfalls wieder schillernder, authentischer Persönlichkeiten mit Charisma an der Spitze – Typen wie vom Schlage des ehemaligen KPÖ-Stadtrates Ernest Kaltenegger in Graz etwa. Menschen, die leben, was sie vermitteln und sagen, und nicht abgehoben und unglaubwürdig wirken.
Bleibt als neue Hürde auf diesem Weg der erstarkte Rechtspopulismus, an den man ja die meisten Wähler verloren hat. Wie könnte man die zurückholen?
Im Falle der SPÖ muss man als Antwort auf den Rechtspopulismus endlich in die Fußstapfen des englischen Labour-Chefs Jeremy Corbyn treten und sozusagen linkspopulistisch agieren. Die Partei muss endlich wieder klarer, pointierter, unterscheidbarer werden.  Schweigen und Stille, wie aktuell an den Tag gelegt, sind jedenfalls auch im Zeitalter der Digitalisierung kein Erfolgsrezept!
Bewegte Zeiten
Im Auftrag von SP-Bezirksobmann Karl Gruber gestaltete Siegfried Nasko 1990 in winzigen Räumen in der Hessstraße 6 ein „Museum zur Geschichte der Arbeiterbewegung im St. Pöltner Raum“, das 2005 in den Wilhelm Steingötter-Hof in der Prandtauerstraße 4 mit einer doppelt großen Präsentationsfläche nicht nur übersiedelte, sondern von Nasko in Zusammenarbeit mit Absolventen der New Design University zeitgemäß adaptiert wurde. Im Zentrum symbolisiert die raumgreifende Installation „Bewegte Zeiten“ in drei Abschnitten mit Vitrinen, Exponaten und Dokumenten den Weg der Arbeiterschaft von Rechtlosigkeit und Verfolgung in den 1870er-Jahren bis in die Gegenwart. Besucher können diese Installation auch als Sitzgelegenheit nutzen. 
Die historischen Gewölbe weisen mit großflächigen Symbolbildern von Otto Rudolf Schatz „Streik“ und „Diktatur“ auf die Emanzipationskämpfe gegen Ausbeutung und für Demokratie hin. Von Rosa Jochmann ist eine im KZ Ravensbrück entstandene Puppe mit Originalhaaren, von Staatskanzler Karl Renner ist ein Gilet, von Vizekanzler Adolf Schärf sind Augengläser, von Bundeskanzler Bruno Kreisky ein Nadelstreifanzug, von Sportminister Fred Sinowatz sein Radfahrer-T-Shirt, von Bundeskanzler Franz Vranitzky ein Gastgeschenk aus Israel und von Bundespräsident Heinz Fischer sein Naturfreunde-Bergpickel ausgestellt. 
Regionale Einblicke vermitteln abschnittsweise lokale Organisationserhebungsbögen 1911/12, das heute noch bemerkenswerte St. Pöltner SDAP-Parteiprogramm 1919 oder Gemeindepräsentationen zu den Kommunalwahlen 2005 sowie Videos des St. Pöltner Stadtarchivs, während das Hologramm der nachempfundenen Totenmaske von Victor Adler moderne Museumstechnologie nutzt. 
Um das Museum „Bewegte Zeiten“ in der Prandtauerstraße 4 zu besuchen, ist der Obmann des Vereins zur Geschichte der Arbeiterbwegung Erich Hössinger telefonisch zu kontaktieren unter 02742-352134-12. Bei Voranmeldung sind auch Führungen möglich.