MFG - Die kranke Gulli-Gulli-Pflege von Sankt Anna
Die kranke Gulli-Gulli-Pflege von Sankt Anna


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Die kranke Gulli-Gulli-Pflege von Sankt Anna

Text Michael Müllner
Ausgabe 11/2020

Wehrlos im Pflegeheim, eine Horrorvorstellung. Angebliche Übergriffe im Clementinum in Kirchstetten haben Österreich geschockt. Nun soll am Landesgericht St. Pölten ein Strafprozess feststellen, ob die vier Angeklagten schuldig sind. Zudem liefert er Antworten auf heikle Fragen zum Zustand der Pflege in Österreich an sich.


DIE GESCHICHTE HINTER DIESER GESCHICHTE
Im Mittelpunkt dieser Reportage steht ein monatelanger Strafprozess. Zum Redaktionsschluss war das Beweisverfahren nach acht Verhandlungstagen so gut wie abgeschlossen, jedoch noch kein Urteil gesprochen. Für die Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung. Um eine identifizierende Berichterstattung auszuschließen, werden die Namen aller Beteilig­ten nicht genannt. Fest steht schon heute, das Gerichtsurteil wird nur die Frage nach der strafrechtlichen Schuld der Angeklagten beantworten. Daneben bleiben aber noch zahlreiche weitere Fragen, auf die uns das Gericht keine Antworten geben wird: Welchen Stellenwert hat Pflege in unserer Gesellschaft? Was brauchen Pflegekräfte, um menschenwürdig betreuen zu können? Und natürlich: Wie konnte es zu diesen unglaublichen Vorwürfen kommen?

Im St. Pöltner Landesgericht ist der Schwurgerichtssaal der größte Verhandlungssaal. Hier finden jene Prozesse statt, über die abends in den Nachrichten berichtet wird. Seit dem Prozess gegen Josef F. kennt ihn die ganze Welt. Auch für die acht ganztägigen Verhandlungstage des Kirchstetten-Prozesses ist der Saal fix gebucht, denn das Verfahren ist umfangreich und die Plätze sind gut gefüllt. Es geht um den Wahnsinn von Kirchstetten. Um die „Sadisten von St. Anna“, die für den „Horror im Haus der Barmherzigkeit“ verantwortlich sein sollen. Die beiden Zitate stammen von Florian Klenk, der mit diesen Überschriften in der Wiener Wochenzeitung „Falter“ seine Recherchen zusammenfasste. Vor Gericht stehen vier Menschen, denen ehemalige Kollegen vorwerfen, sie hätten in ihrer täglichen Arbeit im Kirchstettner Pflegeheim „Clementinum“ Wehrlose gefoltert, monatelang und aus purem Sadismus. Ob das stimmt, entscheidet sich am Ende des Strafprozesses. Doch abseits der strafrechtlichen Dimension erhofft sich die Gesellschaft, quasi als Nebeneffekt, auch Antworten auf weitere Fragen: Wenn es denn stimmt, wie konnte es dazu kommen? Und was können wir daraus lernen?

Die Staatsanwältin trägt in ihrem Eröffnungsantrag detailliert vor. Minutenlang schildert sie die angeblichen Handlungen, welche strafrechtlichen Delikte damit verwirklicht wurden und warum sie diese Vorwürfe den Zeugen auch glaubt. Bewohner sollen vorsätzlich verletzt, gequält und sexuell misshandelt worden sein. Die Höchststrafe für die vier Unbescholtenen beträgt zehn Jahre. Auf Nebenschauplätzen geht es um Mobbing. Haben die Angeklagten unliebsamen Kollegen regelmäßig Abführmittel in Form von Guttalax-Tropfen in ihre Trinkflaschen gemischt? Ein Angeklagter soll in seiner Selbstherrlichkeit sogar die Unterschrift einer Ärztin auf einer Medikamentenanordnung gefälscht haben. Die Bewohner der betroffenen Station, dem Wohnbereich „St. Anna“, waren alle Bewohner in schlechtem Zustand, Pflegestufe 5 aufwärts. Die Übergriffe sollen sich ganz bewusst nur bei hochdementen, teilweise völlig artikulationsunfähigen Opfern ereignet haben. Von diesen gibt es naturgemäß keine Aussagen. Den Fall brachten zwei Kolleginnen ins Rollen, die sich im Oktober 2016 zu einer Meldung an ihre Vorgesetzten durchrangen, wonach weitere Mitarbeiter folgten.
Die Staatsanwältin berichtet von einem Arbeitsplatz mit ganz besonderer Atmosphäre: Die einen verüben, als täglicher Jux, unvorstellbare Übergriffe. Die anderen schauen aus Ohnmacht oder Naivität weg. Eine besondere Rolle spielt dabei ein vom Angeklagten administrierter Gruppen-Chat bei WhatsApp. Darin tauschten sich mehrere St.-Anna-Pflegekräfte über Berufliches aus. Gleich nach ihrer fristlosen Entlassung löschten die Angeklagten den Chat, ein IT-Sachverständiger konnte ihn aber vollständig rekonstruieren. Der Ton im Chat war rau, zynisch, menschenverachtend. Die Bewohner wurden entmenschlicht, es schien als wollten sich die Kollegen an Geschmacklosigkeit überbieten. Was dort geschrieben wurde, war aber privat. Es geht dabei nicht um die strafrechtliche Relevanz des Chats. Er ist jedoch ein objektives Beweismittel und gibt Einblick, wie die Angeklagten dachten und sich artikulierten. Und wenn der Chat für sie „nur ein Spaß“ oder „Sarkasmus“ war, wie sie behaupten, so drängt sich die Frage auf, wie glaubwürdig ihre sonstigen Aussagen in diesem Verfahren sein werden.

Der ehemalige Wohnbereichsleiter der vier Angeklagten hat sich als Privatbeteiligter angeschlossen. Monatelang hatte er ohne erkennbaren Grund Durchfall und Magenbeschwerden. Heute ist ihm klar, warum. Die Angeklagten hätten ihm Guttalax-Tropfen in sein Cola-Zero gemischt, ein Abführmittel, das die vier laut Zeugen regelmäßig einsetzten um unliebsame Kollegen und Bewohner zu sekkieren und zu misshandeln. Viele dieser Bewohner werden vom NÖ Landesverband für Erwachsenenvertretung vertreten, der gesetzlich die Interessen von Heimbewohnern wahrnimmt. Manche Kinder haben für ihre Eltern auch eigene Rechtsanwälte berufen. Ebenfalls vertreten ist der ehemalige Dienstgeber der Angeklagten, das Haus der Barmherzigkeit, eine Stiftung der Erzdiözese Wien, die das Pflegeheim in Kirchstetten betreibt. Die Anwältin spricht von „schädlicher Berichterstattung“ und will von den Angeklagten mindestens 10.000 Euro. Für das Clementinum war der Fall nicht nur ein PR-Desaster, auch innerbetrieblich musste einiges investiert werden, um Arbeits- und Betriebsklima wieder zu verbessern. Trotz mehrfacher Nachfrage ließ der Betreiber zahlreiche Fragen unbeantwortet. Das ist sein gutes Recht, nimmt uns aber im Rahmen der Berichterstattung die Möglichkeit, die Sichtweise des Hauses darzustellen, etwa wenn es um Anschuldigungen geht, die im Laufe des Verfahrens erhoben wurden. So etwa vom Verteidiger der vier Angeklagten, der mehrfach auf die schlechten Arbeitsbedingungen seiner Mandanten hinweist. In seinem Eröffnungsvortrag kam er zu Beginn gleich auf die Medien zu sprechen. Er sei gefragt worden, was denn seine Strategie für das Verfahren sei. Die Antwort wäre: Es gäbe keine Strategie. Er wolle nur, dass alles aufgeklärt wird. Die Anklage sei dünn und seine Mandanten wären von der Staatsanwaltschaft nicht ausreichend einvernommen worden. Somit hätten sie nur schriftlich auf Widersprüche in den belastenden Aussagen hinweisen können. Auch an den kursierenden Mordvorwürfen sei nichts dran gewesen, wie Obduktionen ergäben hätten. Seine Mandanten seien unschuldig.

In den insgesamt acht Verhandlungstagen werden die Angeklagten detailliert von der Vorsitzenden zu den Anklagepunkten vernommen. Alle vier betonen ihre Unschuld, sie hätten stets einwandfrei gepflegt und wären den Bewohnern nie unfreundlich begegnet, geschweige denn hätten sie diese misshandelt, gequält oder verletzt. Wieso die Belastungszeugen derartiges behaupten, können sie sich nicht erklären. Vielleicht sei ein psychiatrisches Gutachten angebracht, regt der Angeklagte an? Jener Angeklagte, der auch heute noch im Quartett den Ton angibt. Im Verfahren gewinnt man den Eindruck, dass er der Chef der Clique war, wahrscheinlich sogar der heimliche Chef im ganzen Clementinum. Zeugen beschreiben ihn als fachlich sehr gut, dynamisch und selbstbewusst, einer der immer eingesprungen ist, wenn mal wer krank war, der aber auch haufenweise private Medikamente mitgeführt und als einziger im Haus seine auffallende Privatkleidung getragen habe, anstatt der üblichen Dienstkleidung. Der junge Diplompfleger machte eine Bilderbuchkarriere. Vom Zivildiener zum Diplomierten und bald zum „Pflegeberater“, einer eigens für ihn geschaffenen Stelle als Qualitätsmanager, mit der er dem offenbar völlig führungsunfähigen Hausleiter zur Seite stand und in allen Abteilungen des Hauses nach dem Rechten sehen konnte. Die zentrale Pflegedienstleitung in Wien war höchstens einmal die Woche im Haus und dürfte wenig von den tatsächlichen Zuständen mitbekommen haben. Der Hausleiter gibt in seiner Zeugenbefragung unumwunden zu, dass er den Job als Chef des Hauses nicht wollte. Unabhängig von der Frage nach seinen Qualitäten als Pfleger, scheint er in der Rolle der Führungskraft überfordert gewesen zu sein. Dazu kommt der Wohnbereichsleiter auf St. Anna, ein junger Mann, der wohl selbst etwas überrascht war, als er den ausgeschriebenen Job als „Stationsleitung“ bekam und der sich gegenüber dem Angeklagten wohl nicht behaupten konnte. Brisant ist zudem, dass viele Zeugen über Gerede im Haus berichten, dass zwischen dem Angeklagten, dem Hausleiter und dem Wohnbereichsleiter eine intime Dreiecksbeziehung bestand. Von Eifersüchteleien ist die Rede, aber auch von Beobachtungen, bei denen man die Herren bei Intimitäten mit runtergelassener Hose überrascht hätte. Fragt man Zeugen, warum sie gewisse Beobachtungen nicht eher gemeldet haben, fragen diese zurück, wem man denn etwas hätte melden sollen, wenn so vieles ohnehin für alle, auch die Vorgesetzten, offensichtlich gewesen sei und der Angeklagte zur Chefität einen so guten Draht gehabt hätte?

Der angesprochene Wohnbereichsleiter sagte vor Gericht, er hätte von körperlichen Übergriffen nie etwas mitbekommen. Seine Tätigkeit sei vorrangig administrativ gewesen, bei Bewohnern sei er kaum gewesen. Der Umgangston zwischen den Kollegen sei teilweise wirklich sehr rau gewesen. Den Hausleiter habe er darauf angesprochen, um damit besser umgehen zu können. Die Antwort sei gewesen, dass „die das ja gar nicht so meinen.“ Konsequenzen habe es keine gegeben. Generell sind Konsequenzen ein eigenes Thema, bei diesen Erzählungen. Die Vorwürfe kamen nicht aus dem Nichts, das Arbeitsklima war Thema im Haus. Auch der Angeklagte selber soll bereits eine Verwarnung gehabt haben. Beim Kaffeetratsch soll er vor Kollegen geprahlt haben, dass er im Nachtdienst als Strafe gegen die Betten läs­tiger Bewohner tritt, damit diese, so wie er, auch nicht schlafen können. Für wenige Wochen wurden ihm zwar Nachtdienste verboten, doch schon wenige Monate später wurde er zum Pflegeberater befördert, seitdem war er als Qualitätsmanager im ganzen Haus unterwegs.
Die Hauptbelastungszeugin wechselte im März 2016 von einer anderen Abteilung nach „St. Anna“, wo die vier Angeklagten ein eingespieltes Team waren. Nach einem Nachtdienst, indem zwei Bewohner eines natürlichen Todes starben, wurde sie in die besagte WhatsApp-Gruppe aufgenommen („Aufnahmeprüfung bestanden“). Schon in der ersten gemeinsamen Einschulungsnacht habe ihr der Angeklagte erklärt, in St. Anna gäbe es „Zucht und Ordnung“. Den „Drecksauen“ gehöre nämlich der Teufel ausgetrieben. Ein inkontinenter Bewohner wurde gewaltsam gewickelt und dabei geschlagen, sein Penis und die Hoden wurden zur Strafe für ein verschmutztes Bett verdreht und mit hochprozentigem Franzbranntwein eingerieben. Eine Patientin habe der Angeklagte beim Einschmieren mit Mandelöl-Creme mit drei Fingern vaginal und anal penetriert, dann habe sie den Blick schockiert abgewendet, während ihr der Angeklagte erklärte: „Das ist die St. Anna-Pflege. Deine Gulli-Gulli-Pflege vom dritten Stock kannst du hier vergessen, die brauchst du uns da gar nicht reintragen.“ Die vier Angeklagten sollen mehrere Bewohner so „gepflegt“ haben, es sei ein Spiel, ein Wettstreit gewesen: „Einmal hat er sich gerühmt, dass er die ganze Faust reingebracht hätte.“

Es sind unfassbare Schilderungen wie diese, die sich durch zahl- und detailreiche Zeugenaussagen ziehen. Stets kommt es zu verlegenen Momenten. Wenn die Putzfrau von den Watschen erzählt, die sie beobachtet hat – und sie sich im nächsten Moment fragen lassen muss, ob sie denn während der Pflegehandlung überhaupt im Raum hätte sein dürfen? Wenn die Pflegehelferinnen mit sich ringen, was sie denn nun bemerkt und nicht bemerkt hatten – um im Anschluss das Gefühl der Hilflosigkeit zu beschreiben, weil ja jedem bekannt war, dass etwas nicht passe, aber keiner etwas unternommen hat, zumal der Angeklagte mit der Chefetage „mehr als eine berufliche Beziehung“ hatte. „Ich war ja nur eine Pflegehelferin! Ich habe den Job doch gebraucht!“ Bei vielen Zeugenaussagen hat man den Eindruck, es fällt ihnen schwer unumwunden zu sprechen. Vielleicht aus Scham vor dem, was neben ihnen geschehen sein soll? Vielleicht aus Sorge davor, sich selber am Ende doch noch in Probleme reinzureden? Vielleicht auch weil für manche der alte und noch immer aktuelle Dienstgeber zwei Meter Luftlinie entfernt sitzt und aufmerksam zuhört?
Es ist die Hauptbelastungszeugin, die ihren Konflikt am detailliertesten schildert. Schon nach kurzer Zeit habe sie bemerkt, dass einiges völlig aus dem Ruder gelaufen war. Aber wer war aller involviert? Wem konnte sie sich anvertrauen? Vorerst nur ihrem Ehemann, der sie aufforderte, das Ganze zu melden. „Aber wer hätte mir denn bitte geglaubt? Ich hatte ja keine Beweise!“ Also entschloss sie sich, mitzuspielen. „Ich habe den vier dann schöngetan, habe im Chat mitgeschrieben und so getan, als sei ich eine von ihnen. Sie haben mir dann bis zu einem gewissen Grad vertraut.“ Als sie am 9. Oktober nachhause fährt und auf einer Autobahntoilette Durchfall bekommt, realisiert sie, dass sie nun auch ein Guttalax-Opfer geworden ist. Sie fasst den Entschluss, alles der Heimleitung zu melden: „Hoffentlich reicht dieser WhatsApp-Chat, dachte ich mir.“ Die Vorgesetzen reagieren rasch, sichten den Chat, protokollieren die Vorwürfe, entlassen die Beschuldigten und verständigen die Polizei. Die Ermittlungen nehmen ihren Lauf.

Was sagen die Angeklagten zu alldem? Sie hatten vier Jahre Zeit, sich auf den Prozess vorzubereiten und kennen die Aussagen der Zeugen Wort für Wort. Ihre Verantwortung ist simpel: „Wir waren das nicht, wir sind Opfer einer Intrige.“ Sie hätten keine Erklärung dafür, wieso sich die Exkollegen verschworen hätten und noch dazu derartige Geschichten erfinden würden. Außerhalb des Gerichtssaales sinniert der Angeklagte, vielleicht habe es alten Pflegehelferinnen nicht gepasst, dass er mit neuen Ideen vieles umdrehen wollte? Vielleicht hätten die Anschuldigungen nur zu Entlassungen führen sollen, doch als die Polizei ins Spiel kam, geriet der Plan außer Kontrolle und jetzt müssten alle bei ihren erfundenen Geschichten bleiben? Eine Würdigung dieser Theorie steht nur dem Gericht zu. Das bisherige Beweisverfahren lieferte keine Hinweise auf Verleumdungen. Hingegen stecken viele Details und Gemeinsamkeiten in den Aussagen so vieler. Doch der Angeklagte bleibt dabei, es gäbe Widersprüche, Details variieren von Aussage zu Aussage. Mal seien behauptete Mitarbeiter am genannten Tag gar nicht im Dienst gewesen, mal passen Aussagen nicht zum Bettenplan, welcher Bewohner in welchem Zimmer lag.
Das Aufzeigen dieser vermeintlichen Widersprüche vermisst man in den Hauptverhandlungen bisher. Das Fragerecht des Verteidigers wird nicht dazu genutzt, die Belastungszeugen auf vermeintliche Unstimmigkeiten in Details festzunageln. Eher diskutiert er mit der Richterin die Strafprozessordnung. Der Versuch, die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage in Zweifel zu ziehen, Widersprüche aufzuzeigen, bleibt schriftlichen Eingaben vorbehalten, welche der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Der Angeklagte sieht in seinem Verteidiger dennoch den „Fels in der Brandung“, der in zahlreichen Beweisanträgen versucht, dem Gericht Sachverständigengutachten der Altenpflege abzuringen. Diese sollen die Pflegedokumentation analysieren. Aus den Auszeichnungen würde sich ergeben, dass die Angeklagten die behaupteten Übergriffe nicht verübt hätten, da in den Pflegeberichten keine Hämatome oder Wunden verzeichnet seien. Bei den Prozessbeobachtern sorgte das für Kopfschütteln. Das Gutachten könnte wohl nur die Schlüssigkeit der Pflegedokumentation prüfen, aber nicht feststellen, ob Übergriffe passiert sind, zumal im Verfahren deutlich wurde, dass die Dokumentationen nicht immer vollständig geführt wurden. „Papier ist geduldig“, hieß es auf die Frage, ob immer alles eingetragen wurde. Zudem sollen die Angeklagten alle Misshandlungen so gesetzt haben, dass eben keine sichtbaren Spuren zurückgeblieben sind. Auch die Staatsanwältin hat auf ein Gutachten aus der Altenpflege bewusst verzichtet. Es gehe ihr nicht um den Vorwurf, dass schlecht gepflegt wurde, sondern dass im Rahmen der Pflege strafrechtlich relevante Übergriffe verübt wurden. Es wäre nicht lebensnah zu erwarten, dass man Spuren der Übergriffe dann in der Pflegedokumentation festgehalten hätte.
Für die Angeklagten stehen zehn Jahre Freiheitsstrafe auf dem Spiel. „Es geht um mein Leben“, bricht es aus einer mehrfachen Mutter heraus. Der wichtigste Strafmilderungsgrund wäre ein reumütiges Geständnis. „Wir wären doch verrückt, etwas zuzugeben, was wir nicht getan haben“, erklärt der Angeklagte. Ob in Anbetracht des Beweisverfahrens und der Glaubwürdigkeit der Beteiligten das Gericht tatsächlich einen Freispruch spricht, wird sich im Jänner 2021 zeigen, wenn weiterverhandelt wird. Die Verteidigung pokert jedenfalls hoch. Gar nichts wird zugestanden. Die Angeklagten sehen sich vor Gericht als perfekte Pflegekräfte, die Opfer einer Intrige wurden und deren einziger Fehler es war, in einem WhatsApp-Chat Dampf abzulassen – im Sinne von beruflicher „Psychohygiene“, wie sie es nennen. Zahlreiche Fachleute weisen diese Sichtweise hingegen zurück und sprechen von keiner normalen Form der Stressbewältigung. Strittig ist zudem, wie stark die Arbeitsbelastung überhaupt war. Der Tenor: Ja, die Arbeit sei oft stressig. Aber mehrfach hört man, es habe keine Beschwerden der Angeklagten oder anderer Mitarbeiter gegeben, die Arbeitsbelastung sei durchschnittlich gewesen. „In der Pflege gibt es nie genug Personal, aber wir hatten glücklicherweise immer ausreichend Springer. Die Angeklagten waren nicht überfordert, für sie dienten die Übergriffe einfach ihrer eigenen Belustigung“, fasst es eine Zeugin zusammen.

Bald nachdem die Angeklagten entlassen wurden, tauschte der Träger nach dem Hausleiter auch den Wohnbereichsleiter aus. Seine Nachfolgerin berichtete ebenso wie weitere Pflegekräfte von der Zeit danach. Nach einigen Wochen hätten sich die Bewohner deutlich verändert. Menschen, die sich zuvor nicht waschen lassen wollten, die immer schützend den Arm über den Kopf gehoben haben, wenn man sich angenähert hat, die nichts essen und trinken wollten, sie alle seien ruhiger und entspannter geworden: „Rückblickend ist mir klar, diese Bewohner hatten alle schwere Traumatisierungen erlitten. Auch ein Dementer vergisst das nicht, er fühlt es jeden Tag.“ Die NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft ist ein weisungsfreies und unabhängiges Organ des Landes NÖ. Nach den Vorfällen in Kirchstetten wurde der Bereich der Pflegeanwaltschaft ausgebaut, seither versucht das von Lisa Haderer geleitete Team, die zwischenmenschlichen Ebenen in Pflegeeinrichtungen zu durchleuchten – und ergänzt dabei den Auftrag der behördlichen Pflegeaufsicht, die in der Landesverwaltung angesiedelt und sich eher mehr um formelle Anforderungen kümmert. Auch Haderer ist eine Expertin für das Clementinum. Wenige Wochen nach den Vorfällen erhielt sie den Auftrag rauszufinden, was dort los sei. Vor Gericht berichtete sie von unübersichtlichen Pflegedokumentationen, großem Konkurrenzdenken zwischen den Wohnbereichen und einer Sprache zwischen Kollegen, die „signifikant nicht in Ordnung war.“ Insbesondere die Rolle des Angeklagten beschäftigte das Heim noch lange nach seiner Entlassung, als Führungskraft sei er ob seines arroganten Auftretens nicht akzeptiert gewesen. Im Rahmen ihrer Recherchen habe sie die Fachbereichsarbeit des Angeklagten in die Hände bekommen, ihr Titel: „Sexuelle Orientierung im Pflegebereich.“ Während seiner schulischen Ausbildung habe er sich also intensiv mit Ethik und der Würde der Alten auseinandergesetzt, das stehe massiv im Widerspruch zu den Chatverläufen und erinnere sie an zwei verschiedene Persönlichkeiten. Auch eine andere Zeugin meinte, der Angeklagte hatte zwei Gesichter: Mit Angehörigen und Vorgesetzten war er liebenswürdig und kompetent, sobald er im Zimmer mit den Bewohnern allein war: ein völlig anderer Mensch.
In einer Prozesspause steht die pensionierte Gesundheitsmanagerin Regina Ertl vor dem Verhandlungssaal. Sie atmet tief ein und versucht das Gehörte mit ihrer jahrzehntelangen Berufserfahrung unter einen Hut zu bringen. „Die Pflege dementer Bewohner ist eine sehr fordernde Arbeit. Bei einem Lehrer würden wir nie auf die Idee kommen, dass er diesen Job zwölf Stunden am Stück ausüben kann. Jedem ist klar, dass es nach ein paar Stunden genug ist und man wieder Abstand braucht. Aber der Pflegekraft glauben wir, dass sie den Zwölf-Stunden-Tag gerne macht? Ich glaube, die meisten drücken lange Dienste nur deswegen durch, weil sie dann eben weniger Arbeitstage in der Woche mit Arbeit ‚angepatzt‘ haben. Für die Qualität der Pflege ist das nicht hilfreich.“ Auch wenn in diesem Strafprozess noch kein Urteil gesprochen ist, steht manches fest: Das Arbeits- und Betriebsklima, die Fehlerkultur und die Möglichkeit, vertrauensvoll Missstände melden zu können, ist auch im Bereich der Langzeitpflege eine absolute Notwendigkeit. Das aktive Hinsehen von verantwortlichen Führungskräften wird erschwert, da diese mit administrativen Tätigkeiten ausgelastet sind. So führt etwa Hellfried Blamauer, Pflegedienstleiter in einem anderen Pflegeheim und NÖ-Geschäftsstellenleiter des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands (ÖGKV) ins Treffen, dass heute noch mit einem Personalschlüssel aus den 80er-Jahren gepflegt werde, obwohl die Anforderungen an das Personal seitdem um mindestens 30% gestiegen sind. Viele setzen Hoffnung in die angekündigte Pflegereform. Ob von diesen Zukunftsplänen auch die Angeklagten profitieren, wird der Ausgang des Strafprozesses zeigen. Für sie gilt die Unschuldsvermutung.

AUS DER ANKLAGESCHRIFT

Was wirft die Staatsanwaltschaft St. Pölten den Angeklagten vor? Zwischen März und 17. Oktober 2016 sollen der angeklagte Diplompfleger sowie die drei angeklagten Pflegehelferinnen im Pflegeheim Clementinum in Kirchstetten die folgenden Handlungen begangen haben.

•    Zwölf Bewohner sollen körperlich und seelisch gequält worden sein und zwar durch
–    (Faust-)Schläge gegen den Bauch, Nierenbereich, die Brust, das Gesicht, die Genitalien,
–    Ziehen an Haaren, Zwicken, gewaltvolles ins Bett Schleudern,
–    Sprühen bzw. Gießen von Rasierwasser, Deo oder Franzbranntwein in Augen und Mund,
–    Zwangsweise Ernährung mit einem Schnabelhäferl durch Zuhalten der Nase, Zurückdrücken der Zunge und Fixieren der Arme,
–    Schlagobers und Speiseöl verabreichen über Mund oder Magensonde,
–    Beschimpfungen, Stöße, Ohrenreißen, nackt im Bett liegen lassen, kalt und heiß abduschen, zur Belustigung schminken und ankleiden,
–    Abführmittel verabreichen ohne medizinische Notwendigkeit,
–    Mund zudrücken und eigenen Kot im Gesicht verteilen.

•    Sechs Bewohner sollen unter Ausnützung ihres wehrlosen Zustandes sexuell missbraucht worden sein und zwar durch
–    unangebrachtes Eincremen des Vaginal- und Analbereiches mit Mandelöl-Creme samt Eindringen mit Fingern und Faust,
–    Einreiben des Vaginalbereiches mit Franzbranntwein,
–    Verdrehen von Penis und Hoden und Einreiben des Intimbereichs mit Franzbranntwein.

•     Mehrere unliebsame Kollegen sollen Bauchkrämpfe und Durchfall erlitten haben, weil die Angeklagten ihnen in unbeobachteten Momenten Abführtropfen in ihre Getränke und Speisen gaben.

•    Der Angeklagte soll zudem mehrfach eigenmächtig die Anordnung von Medikamenten missachtet und in diesem Zusammenhang auch eine Unterschrift gefälscht haben.

Laut Staatsanwaltschaft haben die Angeklagten dadurch folgende Delikte begangen: Körperverletzung, Quälen und Vernachlässigen wehrloser Personen, sexueller Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person sowie Urkundenfälschung. Der Strafrahmen beträgt bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe. Die Angeklagten bekannten sich bis dato zu allen Punkten nicht schuldig.

DAS HAUS WAR AUCH JAHRE SPÄTER NOCH IMMER ERSCHÜTTERT.

Lisa Haderer leitet seit 2017 das Team der Pflegeanwaltschaft in NÖ. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Vorfälle im Pflegeheim Kirchstetten wurde sie mit einer Prüfung beauftragt, seitdem begleitet sie die Einrichtung laufend. Haderer ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Pflege, zudem ist sie Mediatorin und Gesundheitsmanagerin.

Welches Bild konnten sie sich wenige Wochen nach Bekanntwerden der Vorwürfe vor Ort machen und was ist ihre Aufgabe als Pflegeanwaltschaft?
Ich erinnere mich genau an meinen ersten Tag im Clementinum. Es war ein grauer Novembertag und die Stimmung im Wohnbereich war genauso trüb und gedrückt. Unser Ziel war es mit allen Personen dort ins Gespräch zu kommen. Wir wollten rausfinden, was vorgefallen war und wie wir helfen können, die Dinge zu verbessern. Generell ist für unsere Arbeit entscheidend, dass wir aus dem Fachbereich der Pflege kommen, also genau wissen, worum es geht und wo der Schuh drückt. Das schafft Vertrauen und es redet sich leichter. Unser Auftrag ergänzt sich dahingehend zu dem der Pflegeaufsicht, wir schauen auf die zwischenmenschliche Ebene, wie es den Menschen in den Einrichtungen geht.

Während die Angeklagten die strafrechtlichen Vorwürfe abstreiten, sind die Formulierungen der Whats-App-Gruppe unbestritten. Die Angeklagten sprechen von beruflichem Stress und Überforderung, diese Gruppe sei ein Mittel zur Psychohygiene gewesen.
Ich bin seit 21 Jahren in der Pflege. Was in diesen Nachrichten zum Ausdruck kam, war keine gängige Form der Psychohygiene, egal was uns die Angeklagten einreden wollen. Die Formulierungen signalisieren eine Entmenschlichung der Bewohner, die Grenzverluste sind evident. Nein, das ist sicher kein probates Mittel, um Dampf abzulassen. Es kann ausnahmsweise vorkommen, dass jemand mal die Türe zuknallt oder seinen Stress an einem Boxsack abbaut. Wenn wir den Chat nun auf das Bild des Boxsackes übertragen, dann haben die Angeklagten nicht ausnahmsweise mal reingehauen, sondern sie haben vielmehr nonstop wild reingedroschen. Relevant ist dabei auch, dass sich ihre Menschenverachtung laufend gesteigert hat – von Reflexion ist nichts bemerkbar. Fest steht auch, dass der Angeklagte als Pflegeberater eine Vorbildfunktion für das ganze Haus hatte. Zumindest die hätte er aufgeben müssen, wenn er sich reflektiert hätte. Und zum Argument der Arbeitsüberlastung: Wissenschaftlich ist nachgewiesen, dass Gewalt an Pflegebedürftigen sowohl an Orten mit hoher Arbeitsbelastung als auch an Orten mit normaler Arbeitslast anzutreffen ist. Um negative Gefühle und Grenzverluste hintanzuhalten ist vielmehr das Arbeitsklima relevant. Gerade Teamkonflikte landen letztlich immer auch bei den Schwächsten in diesem System: den Bewohnern. Vor diesem Hintergrund ist es auch völlig unrealistisch, wenn die Angeklagten behaupten, sie hätten zwar einerseits in besagtem Chat eine derartige Sprache verwendet, wären aber andererseits gleichzeitig im Umgang mit den Bewohnern zugewandt und empathisch gewesen.

Die Angeklagten bestreiten die strafrechtlich relevanten Übergriffe und Misshandlungen. Sie sehen sich vielmehr als Opfer einer Intrige.

Das Haus war auch Jahre nach den Entlassungen der Angeklagten noch immer erschüttert. Der Träger musste sich wirklich reinknien und viel Geld investieren in Traumabewältigung und Coachings damit es bergauf geht. Wenn sich ein paar Leute eine Intrige ausgedacht hätten, hätte es nicht eine so lange spürbare Erschütterung der ganzen Organisation gegeben. Nein, wegen ein bisschen Psychohygiene hätte keine Organisation so viel Geld investiert. Und man muss auch sagen, die allermeisten Mitarbeiter haben ja bei diesen Missständen nicht mitgemacht, sondern sind auch auf gewisse Art zu Opfern geworden.

(Bitte beachten Sie auch den zugehörigen Artikel "Folge-Erscheinungen" mit den Reaktionen auf die Causa sowie einem Interview mit der Pflegemanagerin Regina Ertl zur Einordnung der Geschehnisse.)

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Foto ake1150 - stock.adobe.com

Als 2017 das Ermittlungsverfahren lief, ging es neben anderen Vorwürfen auch um schweren sexuellen Missbrauch an wehrlosen Heimbewohnern. Dennoch fanden zwei der vier Beschuldigten schon kurz nach ihrer fristlosen Entlassung aus dem Kirchstettner Pflegeheim einen neuen Job. Zuerst war es der heutige Angeklagte, der bei einem früheren Arbeitgeber in Wien neuerlich anheuerte. Da dort Personalmangel herrschte, holte er nach kurzem eine der drei Ex-Kolleginnen von St. Anna  ...