MFG - Lebensmittelverschwendung als Volkssport
Lebensmittelverschwendung  als Volkssport


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Lebensmittelverschwendung als Volkssport

Text Johannes Mayerhofer
Ausgabe 03/2023

Rund 800.000 Tonnen Lebensmittel landen in Österreich laut Rechnungshof jährlich im Müll. Schuld daran sind alle: Landwirtschaft, Handel, Konsumenten. Doch auch in St. Pölten sagen Bürger und Unternehmen der Lebensmittelverschwendung den Kampf an.


Die Frage, wie der neue „Hager“-Bäckerei-Standort am St. Pöltner Hauptbahnhof bei den Leuten ankommt, erübrigt sich von selbst. Alle fünf Minuten wird das „MFG“-Interview mit „Hager“-Geschäftsführer Wolfgang Hager von Kunden unterbrochen, die das Geschäft betreten. Es ist Samstag. „Danke für das Interesse, aber wir haben heute geschlossen“, klärt er sie auf. Geöffnet ist stets von Montag bis Freitag. „Spannend, die Leute kommen sogar außerhalb der Öffnungszeiten“, sagt Hager verschmitzt und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. Dabei handelt es sich um keine reguläre „Hager“-Filiale, sondern um ein neues Nachhaltigkeits- und Testprojekt: den „Gutes von Gestern“-Laden. „Wir haben täglich etwa 800 bis 1.000 Kilo an Retourware. Etwa 40 Prozent der Menge aus ausgewählten Filialen wollen wir hier für 60 Prozent des Ursprungspreises an den Kunden bringen.“
Gerade Brot und Backwaren sind bei Lebensmittelverschwendung besonders „gefährdet“. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Die Ansprüche der Kunden an die Frische von Backwaren seien teilweise extrem. „Manche verstehen unter der Vokabel ‚frisch‘ wirklich nur ofenwarmes Gebäck. Das entwickelt sich in eine falsche Richtung“, erklärt der Chef der 200-Mitarbeiter zählenden Bäckerei. Jedoch gesteht er ein: „Wir haben diesen Trend zwar nicht ausgelöst, aber dennoch mitgetragen in der Vergangenheit.“  Brot, meint Hager, sei gerade bei älteren Bevölkerungsteilen „ein sensibles Thema.“ Wenn Brot weggeschmissen wird, dann „schmerze“ das diese Menschen ganz besonders. Angeboten werden sollen nun im neuen „Gutes von Gestern“-Standort nicht nur Brote, sondern Überschussware quer durch das gesamte Sortiment. Hager sieht das Projekt außerdem als Testlabor für neue Back-Kreationen. „Da können wir sehen, wie das bei den Leuten ankommt.“ Zwar ist der „Gutes von Gestern“-Laden zum Zeitpunkt des Interviews erst knapp zwei Wochen alt, bisher könne er sich aber nicht über zu wenig Andrang beschweren. Pro Tag fänden etwa 100 bis 150 Käufer ihren Weg dorthin. „Darunter sind Pensionisten mit kleinem Geldbörsel, aber auch sehr nachhaltig denkende Menschen“, erklärt Hager. 
Kein Wunder, dass es bereits weiterführende Pläne der Bäckerei in Richtung „Restl-Verwertung“ gibt: So werde aktuell getestet, wie man aus Altbrot Gin macht. „Wenn das gelingt, haben wir St. Pöltner Gin und eine vollständige Verwertung unseres Produktes“, zeigt sich Hager mit Vorfreude.

Bäckereien legen sich zunehmend mit Einzelhandelskonzernen an
Die praktikabelste Lösung des Verschwendungsproblems – welches er auch als Mentalitätsproblem versteht – sieht Hager aufseiten der Bürger und Unternehmer. „Es wird zu einer Änderung der Einstellung gegenüber Lebensmitteln kommen.“ In anderen EU-Ländern wie Frankreich ist es Großhändlern und Supermärkten seit 2016 verboten, Lebensmittel wegzuwerfen. In Österreich sieht Hager jedoch schwarz für politisch gesteuerte und systemische Änderungen. „Unsere politischen Entscheider sind auf dem Gebiet zu schwach.“
Auch an anderer Front werde aktuell gekämpft: Dass Bäckereien die Überschussware der von ihnen belieferten Einzelhandelskonzerne zum vollen Preis zurücknehmen, sei in der Vergangenheit gängige Praxis gewesen. „Die können bis kurz vorm Zusperren ihre Regale knallvoll halten, ohne jedes finanzielle Risiko.“ Bäckereien würden allerdings allmählich einen anderen Kurs einschlagen. Hager bestätigt jedenfalls, seinerseits keine Retourware mehr annehmen zu wollen. Und wenn Spar, Rewe und Co. ihn als Konsequenz von der Zuliefererliste streichen? „Dann ist das eben so“, meint Hager lakonisch.

„Hager“-Filialen nehmen weiter an „Too Good To Go“-App teil
„Unsere Spenden an Sozialmärkte halten wir natürlich trotz des ‚Gutes von Gestern‘-Ladens aufrecht“, versichert der Geschäftsführer.  Außerdem wird sein Bäckereibetrieb weiterhin an der App „Too Good To Go“ teilnehmen. Die Verkäufe im neuen Laden stünden nicht in Konkurrenz zum App-vermittelten Verkauf.
Seit etwa dreieinhalb Jahren erfreut sich „Too Good To Go“ immer größerer Beliebtheit. Durch die App können Einzelhandel, Bäckereien, Cafés, Hotels und Restaurants ihr überschüssiges Essen als Selbstabholer zum vergünstigten Preis anbieten. Kunden können per App bestellen und bezahlen und anschließend im angegebenen Zeitfenster ihre Portion abholen. Mit August 2022 nutzten nach Angaben des Unternehmens rund  5.000 Partnerbetriebe und 1,2 Millionen Menschen in Österreich das Angebot. Eine von ihnen ist Sigrid Bannert. Die in Pyhra wohnhafte Volksschuldirektorin wurde vor etwa einem Jahr über eine Arbeitskollegin auf die App aufmerksam. „Bei einem Projekttag an unserer Schule ging es um Müllvermeidung und das Kochen mit Überresten. Im Laufe dessen hat sie mir von „Too Good To Go“ erzählt“, erklärt Bannert. Die Handhabung der App ist recht simpel: Nach der Anmeldung kann man das Gebiet, aus dem man Angebote erhalten will, räumlich eingrenzen, kann auch Favourites festlegen, bei denen man regelmäßig vergüns­tigt einkauft. Mit der Dichte des „Too Good To Go“-Angebotes sei sie recht zufrieden. „Beim St. Pöltner Denns Bio-Markt ist es aber oft schwer noch etwas zu bekommen, der ist sehr schnell ausverkauft.“ Mit Restaurant-Angeboten könne sie sich nicht so recht anfreunden. „Erstens koche ich gerne selber, weil ich da genau weiß, welche Produkte im Essen drin sind.“ Außerdem komme sie mit den angegebenen Abholzeiten der Restaurants nicht zurecht. „Die Sachen sind meist sehr spät abzuholen und da esse ich meist nichts mehr. Und gewisse Speisen, wie etwa Sushi, möchte ich mir ungern bis am nächsten Tag aufheben, um das dann zu essen.“
Bei Einzelhandelskonzernen wie Spar werden „Too Good To Go“-Waren in Form von „Überraschungssackerln“ verkauft. „Letztes Jahr konnten wir 500.000 Sackerln verkaufen“, bestätigt Unternehmenssprecherin Nicole Berkmann. Mittlerweile werde auch auf vegetarisch essende Kunden Rücksicht genommen, es gibt eigene „Veggie-Sackerl“. Laut einer Erhebung des österreichischen Rechnungshofes ist der Handel für 15 Prozent aller weggeworfenen genießbaren Lebensmittel verantwortlich. Vor allem die Einzelhandelsriesen stehen in der Kritik, Lebensmittelverschwendung auch in Privathaushalten indirekt mit zu befördern. Etwa durch Mengenrabatte, die Großeinkäufe begünstigen. Diese Kritik will man bei Spar nicht gelten lassen: „Wir finden, dass man mit diesem Vorurteil unsere Kunden für dumm erklärt. Wohl nur wenige werden sich zwei Produkte kaufen, wenn nur eines benötigt wird.“ Mengenangebote seien für mehrköpfige Familien oder generell Kunden gedacht, die mehr von einem Produkt bräuchten. Gerade für diese Haushalte seien solche Aktionen auch wichtig.
Lebensmittelverluste in Privathaushalten hätten laut Spar eine Vielzahl von Gründen. „Das hängt zum Beispiel damit zusammen, dass viele nicht mehr mit Restln kochen können oder wollen, oder dass man es gewöhnt ist, jeden Tag das zu essen, worauf man gerade Lust hat.“
Vom Rewe-Konzern gab es auf die „MFG“-Anfrage keine Antwort.

Sozialmärkte straucheln wegen sinkenden Lebensmittelspenden
Während jährlich 800.000 Tonnen Lebensmittel in Landwirtschaft, Produktion, Handel und Privathaushalten weggeworfen werden, herrscht am unteren Ende der ökonomischen Skala ein Kampf darum. Dass die Sozialmärkte des Landes schon entspanntere Zeiten erlebten als jene seit Frühjahr 2022 ist bekannt. Wie prekär die Lebensmittelversorgungssituation für die ökonomisch Schwächsten jedoch ist, zeigt sich aktuell im Sozialmarkt (Soma) am Kremser Bahnhof. Dort werden Lebensmittel, die das Mindesthaltbarkeitsdatum um bis zu zehn Tage überschreiten dürfen, um ein Drittel des Originalpreises verkauft. „Wir kämpfen von einem Tag auf den anderen“, sagt die Marktleiterin Gabriele Sigl. Leere Regale seien im Soma bereits um 8.00 Uhr morgens – also kurz nach Ladeneröffnung – keine Seltenheit mehr. Groß- beziehungsweise umfangreiche Vorratseinkäufe seien im Soma schon bisher nicht erlaubt gewesen. Jedoch müssten die Marktangestellten immer genauer hinsehen und regelmäßig Käufern etwas wegnehmen. Das berge natürlich Stoff für Konflikte.
Es sind zweierlei Trends, die dem siebenköpfigen Soma-Team Sorge bereiten: Einerseits sind die Mengen gespendeter Lebensmittel des Handels schon seit Längerem rückläufig. Erhielt der Soma im Jahr 2020 noch 120 Tonnen Lebensmittel, waren es 2022 nur noch 77. „Die weiter verbreitete Nutzung der ‚Too Good To Go‘-App im Einzelhandel spielt da auf alle Fälle eine Rolle“, erklärt Soma-Projektleiterin Claudia Psota. Einen weiteren möglichen Grund für die Spenden-Flaute sieht sie auch in der heruntergeschraubten Produktion während der Corona-Krise.
Verschärft wird die Situation durch die explodierten Bedürftigenzahlen. Eine Soma-Berechtigungskarte können Einzelpersonen mit bis zu 1.328 Euro Monatsnettoeinkommen, Zwei-Personen-Haushalte mit 1.992 Euro erhalten. Anfang 2022 waren es 215 aktive Berechtigungen. Mit Jänner 2023 hat sich diese Zahl auf 652 glatt verdreifacht.
Auch in den 12 „Soogut“-Sozialmärkten lassen sich ähnliche Szenarien täglich beobachten. „Der Andrang in unseren Märkten ist groß, manche Produkte sind schnell weg“, bestätigt „Soogut“-Sprecherin Ursula Oswald. „Dass es dabei immer wieder zu Drängeleien kommt und strenge Kontrollen der Mengenabgaben nötig sind, ist leider Fakt.“ Aktuell versorgen sich 43.500 Bedürftige in den „Soogut“-Märkten, etwa 25 Prozent mehr als 2022. Dem gegenüber stünden etwa um fünf Prozent gesunkene Lebensmittelspenden im Jahr 2022. „Für einen Großteil unserer Kunden ist der Einkauf bei uns lebensnotwendig. Haben sie das Gefühl von Warenmangel, überkommen sie schlichtweg Existenzängste.“ Die soziale Situation hat sich verschärft und ein Ende der Misere ist nicht in Sicht.