MFG - In dubio pro niger
In dubio pro niger


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

In dubio pro niger

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2007

„In dubio pro reo“ las man auf der Tafel im Lateinunterricht, „Im Zweifel für den Angeklagten!“ übersetzt jeder TV-Strafverteidiger diese Jus-Binsenweisheit ins Deutsche. Dass in einer Headline „niger“ für „Schwarzer“ steht, lässt uns heute zusammenzucken. Ist das beleidigend? Oder – noch schlimmer! – typisch Gutmensch? Und überhaupt: Wieso soll bei einer Vergewaltigung die Hautfarbe denn eine Rolle spielen? Eine Zusammenfassung der sommerlichen Justiz-Causa und ein exklusives Gespräch mit den beiden Beschuldigten.

Samstagabend in St. Pölten. Es ist zwar erst Ende April, aber die Temperaturen sind schon hochsommerlich. Nach dem Besuch eines Feuerwehrheurigens in Herzogenburg ist der Abend noch jung, viele zieht es in die Lokale der St. Pöltner Innenstadt. So auch eine 26-jährige Frau. Zu früher Morgenstunde hat sie mit ihrem Freund einen Streit, er fährt ohne sie nach Hause. Gegen 8:00 Uhr bittet sie nach ihren Angaben die Kellnerin ein Taxi zu rufen, da ihr Handyakku leer ist. Die Frau verlässt das Lokal über den Haupteingang, entscheidet sich aber dann um das Gebäude herumzugehen. So könne sie gleich ins Taxi einsteigen, noch bevor dieses auf den Parkplatz im Hinterhof des Lokals einbiegt. Dieser Hinterhof fungiert als Parkplatz für die Gäste, über den Nebeneingang gelangt man von dort direkt in das beliebte St. Pöltner Nachtcafé.
Keine Hilfe
Während die Frau auf das Taxi wartet, nähern sich laut ihren Aussagen „zwei Schwarze“. Sie wird gepackt und quer über den Hof gezerrt, hinter ein Gebüsch. Sie schreit und wehrt sich, doch Hilfe bleibt aus. Der eine Mann hält die Frau an ihren Armen fest und fixiert ihren Kopf zwischen seinen Oberschenkeln. Der zweite Mann vergewaltigt sie laut Ermittlungsakten „drei bis zehn Minuten lang“ von hinten. Plötzlich lassen beide von ihr ab und verschwinden. Noch immer kommt keine Hilfe.
Das Opfer versucht ihren Freund anzurufen, was aufgrund des leeren Handyakkus aber nicht möglich ist. Sie erinnert sich daran, dass an ihrem Arbeitsplatz ein Ladegerät liegt – und macht sich auf den Weg. Sie sucht nicht im geöffneten Lokal nebenan um Hilfe. Am Straßenrand bricht sie zusammen, Passanten verständigen die Rettung, im Krankenhaus beginnt die Polizei mit ihren Ermittlungen, DNA-Proben werden genommen um die Täter später eindeutig überführen zu können.
"Aktion scharfff"
Anfang Mai, St. Pölten ist in Aufruhr. Die Polizei ermittelt auf Hochtouren, gewissen Lokalpolitikern ist es nicht zu dumm medienwirksam gratis Pfefferspray zu verteilen – und das Spiel mit der Verunsicherung der Bevölkerung als „Aktion Scharffff!“ zu bezeichnen.
Mit großem Hurra wird dann auch der rasche Fahndungserfolg der Polizei beklatscht. Der Kurier titelt am 5. Mai: „Vergewaltiger in U-Haft: ‚Wie wilde Tiere’“. Über die beiden Verdächtigen wird unter dringendem Tatverdacht die U-Haft verhängt. Das Opfer habe einen Mann 100%ig identifiziert, beim zweiten sei es sich sehr sicher. Der Fall scheint geklärt, das DNA-Gutachten werde den endgültigen Beweis bringen.
Gene lügen nicht
Mitte Juni dann der nächste Aufruhr. Das Expertengutachten schließt aus, dass die Spuren im Genitalbereich des Opfers von den beiden Beschuldigten stammen. Ebenso stammen die Spuren unter den Fingernägeln des Opfers nicht von den beiden Schwarzen. Auch ein zweiter DNA-Test und die Untersuchung der Textilfasern durch die Kriminaltechnik des Bundeskriminalamts verlaufen negativ. Alle Akteure bleiben auf Linie: Die verdächtigen Männer beteuern weiterhin ihre Unschuld. Die Juristen kontern, dass es noch immer die belastende Aussage des Opfers gibt – und dass ein negativer DNA-Test keine Entlastung sei. Sie könnten es ja theoretisch dennoch gewesen sein. Die Männer bleiben in Haft.
Die Verteidigung stellt zahlreiche Anträge, um ihre Mandanten zu entlasten. Warum wurde der Mitbewohner eines Beschuldigten nicht befragt? Dieser gab seit Anfang der polizeilichen Ermittlungen an, dass der Hauptverdächtige schon zwei Stunden vor dem Tatzeitpunkt zuhause war. Offiziell befragt wurde er damals aber nicht. Warum wurden Zeugen erst befragt, nachdem der Fall österreichweit für Aufsehen sorgte?
Die ORF-Sendung „Report“ brachte etwa ein Interview mit einer Zeugin, deren Badfenster ab 7:30 Uhr geöffnet war: Sie hätte Hilferufe aus dem Hinterhof hören müssen, sei bisher von der Polizei aber nicht befragt worden, gab sie an. In Folge kommt es dann zu weiteren Zeugenbefragungen. Zum Tatzeitpunkt hätten zahlreiche Gäste ihre Getränke im Freien konsumiert – also im Hinterhof, wenige Meter vom Tatort entfernt. Und keiner hat etwas von der Tat bemerkt?
1,99 Promille
Mitte Juli, mehr als zwei Monate nach ihrer Verhaftung, dann der Paukenschlag. Die beiden Beschuldigten werden von der zuständigen Richterin enthaftet. Der dringende Tatverdacht ist plötzlich weg. Zum einen passen die Aussagen des Opfers zum Tathergang nicht mit anderen Zeugenaussagen zusammen: Wenn bis „über den Tatzeitpunkt hinaus mehrere Gäste aufgrund der warmen Witterung außerhalb des Lokalbereiches, also im Freien eben auf diesem vor dem Lokal gelegenen Parkplatz gestanden hätten und niemandem irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen war“, dann stehe das im Widerspruch zur Aussage des Opfers, so die Begründung des Landesgerichts. Weiters stellte das Gericht auf Wunsch der Verteidigung den Alkoholgehalt im Blut des Opfers zum Tatzeitpunkt fest: 1,99 Promille. Dadurch erschien dem Gericht die „100%ige Identifizierung“ des Verdächtigen „doch in einem anderen Licht“. Zumal es eine lange Nacht war und „für einen Europäer die Unterscheidbarkeit von Schwarzafrikanern zweifellos schwieriger ist als jene von Menschen mit weißer Hautfarbe“.
Womit sich zwangsläufig die Frage stellt: Waren das vorbildliche Ermittlungen? Oder hat sich die Polizei zu früh „sicher“ gefühlt und ist manchen Hinweisen nicht nachgegangen? Der Vizepräsident des Landesgerichts St. Pölten, Franz Cutka, dazu: „Es kann durchaus sein, dass es jetzt schwieriger ist Zeugen zu finden, als es Anfang Mai gewesen wäre.“ Zu der Qualität der Ermittlungen will er sich darüber hinaus aber nicht äußern, denn: „Es ist ein laufendes Verfahren.“
Neue Spur
Zum Redaktionsschluss waren die Vorerhebungen noch im Laufen. So ordnete das Gericht etwa weitere DNA-Gutachten und eine Rufdaten-Rückverfolgung an. Es gibt eine andere Spur, der derzeit nachgegangen wird. „Auf die Ergebnisse warten wir täglich. Erst wenn die Voruntersuchungen der Untersuchungsrichterin abgeschlossen sind und wir den ganzen Akt haben, entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob wir das Verfahren einstellen, oder ob doch Anklage erhoben wird“, so Staatsanwalt Gerhard Sedlacek, der Sprecher der St. Pöltner Staatsanwaltschaft. Er weist auch darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft im Fall eines Beschuldigten von sich aus die Enthaftung beantragt habe: „Immerhin sind wir ja in den Ermittlungen auch verpflichtet entlastende Beweise aufzunehmen.“ Auf die Frage, ob die Enthaftung nicht zu spät erfolgt sei, meint Cutka: „Das ist eine schwierige Frage. Opfer sind generell zu bedauern. Dass es da heikel ist jemanden freizulassen, obwohl das Opfer einer Vergewaltigung die Verdächtigen eindeutig identifiziert hat, ist wohl nachvollziehbar. Erst als die Aussage des Opfers widersprüchlicher erschien, kam der ‚dringende Tatverdacht’ abhanden.“
No comment
Seitens der St. Pöltner Polizei kommentiert man das Geschehen nicht – mit einem Hinweis auf die rechtliche Situation. Polizei-Sprecher Karl Perchthaler: „Sobald die Causa vor Gericht ist, haben wir uns nicht mehr zu den Ermittlungen zu äußern, das obliegt nun der Staatsanwaltschaft.“
Über den Verein „neustart“ bot MFG natürlich auch dem Opfer die Möglichkeit, sich falls gewünscht zum Fall zu äußern. Maria Pernerstorfer von „neustart“: „Wir arbeiten nicht nur mit Tätern, sondern bieten auch Verbrechensopfern Begleitung und Unterstützung an. Dabei ist es wichtig, dass auch Medien sensibel mit Verbrechensopfern umgehen, so dass beispielsweise keine detaillierten Angaben zur Person eine spätere Identifizierung des Opfers im Alltag ermöglichen.“ Zu den aktuellen Entwicklungen wollte die junge Frau nicht weiter Stellung nehmen.
Verteidiger Peter Krömer zu seinem prominenten „Fall“: „Ich bin seit 1978 eingetragener Rechtsanwalt – aber so ein Verfahren habe ich noch nie erlebt. Das liegt zum einen an dem wirklich außergewöhnlichen Sachverhalt. Zum anderen daran, dass ich als Verteidiger im Vorverfahren so viele Anträge stellen musste. Scheinbar haben es die Ermittler nicht in Erwägung gezogen, dass objektive Beweise wie das DNA-Gutachten auftauchen, welche die Beschuldigten entlasten. Auch ist für meine Arbeit sehr erschwerend, dass ich nur langsam Akteneinsicht erhalte.“
Zum Redaktionsschluss ist noch nicht abzusehen, wann die Staatsanwaltschaft diesen Fall zumindest im Hinblick auf die beiden Beschuldigten zu einem Ende bringt. Ob also die Ermittlungen eingestellt werden, oder die Beschuldigten doch angeklagt werden und sich in einem Hauptverfahren zu verantworten haben.