MFG - „Die Angst ist immer noch da“
„Die Angst ist immer noch da“


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

„Die Angst ist immer noch da“

Text Beate Steiner
Ausgabe 06/2021

Elf Frauen wurden heuer bereits in Österreich ermordet, was die Debatte über Ursachenbekämpfung sowie bessere Prävention zuletzt wieder hochkochen ließ. Wir sprachen mit einer betroffenen Frau, deren Mann sie und ihre vier Söhne jahrelang terrorisierte und traktierte – Einblicke in ein nach außen hin vermeintlich heiles Familienleben.

Diese Gerichtsverhandlung ging Ende 2019 durch viele Medien. „Ich hau‘ dir den Schädel ein“ titelte die NÖN mit einem Zitat des Familienvaters, der in diesem Prozess verurteilt wurde. Ein Prozess, in dem auch der Richter fassungslos war: „Wenn man vom Alltag bei Ihnen Zuhause hört, stellt’s einem die Haare auf“, fuhr er den Angeklagten an. Wie der Vater mit seinen vier Söhnen im Volksschul- und Kindergartenalter umsprang, war auf Audiodateien zu hören. „I hau euch die Zähne in den Kragen“, oder „I hau dir den Schädel ein“, oder „Wann I jetzt aufsteh, brich i dir alle Knochen.“
„Er hat immer nur herumgeschrien“, erzählt die Mutter der Kinder, nennen wir sie Anna. „Wir konnten ihm nichts recht machen.“
Begonnen hat der Familienterror, als das erste Kind in die Schule gekommen ist und seine Leistungen nicht die Erwartungen des Vaters erfüllten. „Ich war seiner Meinung nach schuld daran. Und immer, wenn er auf mich beleidigt war, hat er den Kindern alles weggenommen“, sagt Anna. Er hat zum Beispiel die Kinderfahrräder weggesperrt, damit die Mutter keinen Radausflug machen konnte, oder er hat seiner Frau die Autoschlüssel weggenommen, und er hat Kameras im ganzen Haus installiert, um alles unter Kontrolle zu haben. „Nach außen hat er immer lieb und nett getan und an unserem gemeinsamen Arbeitsplatz auf heile Welt gespielt“, erinnert sich Anna, dass sie für viele Kollegen die Böse war, die ihrem armen Mann die Kinder wegnimmt. Damals, als sie sich endlich wehrte und auf Rat einer Juristen-Kollegin und mit Unterstützung ihrer Eltern und ihrer Schwester ins Frauenhaus flüchtete. „Es ist verdammt schwer, nur das Nötigste zusammenzupacken und zu gehen. Wenn er die Kinder nicht so massiv bedroht hätte, wäre ich wahrscheinlich noch nicht gegangen. Da hätte ich sicher gewartet, bis das jüngste Kind aus dem Gröbsten heraus wäre.“

Schutz im Frauenhaus
Weihnachten im Frauenhaus war das schönste seit ewigen Zeiten, strahlt Anna. „Alle waren sehr bemüht, die Mitarbeiter haben mit den Kindern Kekse gebacken, jedes Kind hat ein Geschenk bekommen.“
Zwei Monate war die kleine Familie im Frauenhaus. „Das war natürlich Schutz für uns, allerdings sehr schwierig, weil wir nicht rausdurften. Vor allem für meinen zweiten Sohn, der als Autist mit Asperger-Syndrom sehr darunter leidet, wenn viele Menschen auf engem Raum sind und auch, wenn etwas anders ist als gewohnt.“
Anna und ihre Kinder fanden bald eine Wohnung in der Nähe ihrer Eltern und ihrer Schwester. Aber damit war der familiäre Leidensweg noch nicht zu Ende. Der Vater passte die Kinder am Schulweg und am Spielplatz ab, zeigte seine Frau an, dass sie die Kinder gestohlen hätte. „Die Scheidung hat so lange gedauert, weil zuerst das Strafverfahren gegen meinen Mann abgeschlossen werden musste“, erklärt Anna. Bis dahin mussten die Kinder auch regelmäßig ihren Vater treffen, obwohl sich die Älteren dagegen wehrten.
Jetzt aber, nach abgeschlossenem Verfahren und nach der Scheidung, geht es Mutter und Kindern gut: „Die Großen sind noch in Therapie, mein Asperger-Sohn besucht jetzt eine andere Schule, in der er die Aufmerksamkeit bekommt, die er braucht. Wir sind alle froh, dass wir meinen Ex-Mann los sind, andererseits leiden die Kinder schon darunter, dass es vom Papa nix zum Geburtstag und zu Weihnachten gibt.“

Narben bleiben
Am Anfang war er schon anders, versucht Anna das „Warum“ zu erklären, „nicht so bestimmend, nicht so geizig“. Dann ist er immer eifersüchtiger geworden, hat verlangt, dass sie extra für ihn kocht, wenn die Kinder im Bett waren, hat ihr immer wieder etwas zu fleiß getan. „Am Anfang denkst du dir halt, der hat einen schlechten Tag.“ Dann wollte ihr Mann, dass sie ihre Arbeit aufgibt, das hat sie nicht gemacht.
Vor sechs Jahren wollte sie schon einmal die Scheidung einreichen. „Nach dem ersten Brief hat er Terror gemacht, hat mich angezeigt, dass ich die Kinder vernachlässige. Obwohl ich zuhause alles gemacht habe.“ Mit einer befohlenen Familientherapeutin und einer ersten Gutachterin hat Anna dann auch schlechte Erfahrungen gemacht: „Die haben gemeint, dass ich meine Kinder gegen ihren Papa aufhetze, obwohl sie erzählt haben, was sie erlebten – das hat mich schon ziemlich zurückgehaut.“
Jetzt funktioniert das soziale Netzwerk schon bestens. Schulen und Kindergärten unterstützen, „ich weiß das sofort, wenn mein Ex-Mann in unseren Ort fährt. Die Wirtin hat sofort angerufen, als sie ihn gesehen hat.“
Die Angst ist allerdings immer noch da, „vor allem, dass er den Kindern auflauert.“ Die sind jetzt elf, zehn, acht und fünf Jahre alt und haben sich zum Beispiel zunächst nicht getraut, mit ihrer Mutter einen Ausflug ins Haus des Meeres zu machen. „Das ist in Wien, da wohnt ja der Papa.“

GEWALTTATEN IN NÖ

•    Wegweisungen von Jänner bis Mai
917 (2021), 986 (2020)
Gezählt wird eine Wegweisung pro Familienmitglied (bis 2019 wurde eine Wegweisung pro Familie gezählt). 2020 gab es in NÖ 11.652 Betretungs- und Annäherungsverbote.
•    Gewalt in der Privatsphäre – Straftatenanzahl
2.297 (2016), 2.703 (2020), Steigerung von 13,1 Prozent
•    Morde
36 (2014), 60 (2018), 65 (2019), 54 (2020)
•    Mordopfer nach Geschlecht (2020)
31 Frauen, 23 Männer. In über 70 Prozent bestand eine Beziehung zwischen Täter und Opfer.

FORMEN VON GEWALT GEGEN FRAUEN

•    Physische Gewalt
Schlagen, Treten, Stoßen, Zwicken, an den Haaren ziehen, mit einem Gegenstand schlagen, Würgen, Verbrennen, mit einer Waffe bedrohen oder verletzen. Im weiteren Sinne gehört hierher das Zerstören und Beschädigen von persönlichen Sachen, der Wohnungseinrichtung oder auch das Quälen von Haustieren.
•    Psychische Gewalt
Drohungen und Nötigungen sind häufig Formen von psychischer Gewalt. Auch die Androhung von Misshandlungen reicht oft schon aus, eine Person in Angst und Schrecken zu versetzen. Beschimpfen, Abwerten und Diffamieren dienen der Zerstörung des Selbstwertgefühls der Opfer und ihrer geistigen Gesundheit. Auch das Beleidigen in der Öffentlichkeit zählt zu psychischer Gewalt.
•    Ökonomische Gewalt
Bezieht sich auf die ungleiche Verfügung über finanzielle Mittel. Der Mann nimmt der Frau  Geld oder Wertsachen weg, er bestimmt, wie viel Geld sie ausgeben darf, er verbietet ihr ein eigenes Konto, er lässt sie nicht arbeiten gehen, damit sie kein eigenes Geld hat.
•    Soziale Gewalt
Isolation ist zum Beispiel eine häufige Strategie, um die Opfer zu kontrollieren und zu beherrschen: Einsperren ins Haus, keine Kontakte zu Familie, Freunden und Bekannten, Einschränkung der Mobilität . . .
•    Sexuelle Gewalt
Sexuelle Übergriffe sind Unrecht und auch in einer Ehe strafbar.

„ES SIND VERMEHRT HOCHGEFÄHRDETE FRAUEN BEI UNS“

Olinda Albertoni ist Leiterin vom „Haus der Frau“ in St. Pölten. Seit 1984 finden Frauen und Kinder dort Schutz vor gewalttätigen Männern. Die 36 Plätze im Haus sind sehr oft belegt.


Wie war die Situation im Frauenhaus während der Pandemie?
Nach der hohen Anzahl an Frauenmorden 2019 in Niederösterreich waren beinahe durchwegs alle Plätze des Frauenhauses belegt. Im ersten Lockdown kam es dann zwar weiterhin zu vielen Anfragen, aber den endgültigen Schritt ins Frauenhaus zu gehen, wagten viele Frauen nicht – offenbar waren alle anderen Unsicherheiten zu groß – der Verlust des Einkommens, des Arbeitsplatzes, die Situation der Kinder. Außerdem sprachen viele Frauen davon, rund um die Uhr kontrolliert zu werden.
Zwischen den Lockdowns sind wieder vermehrt Frauen eingezogen, doch sind immer Zimmer verfügbar gewesen. Es wurde jedenfalls sichtbar, dass noch mehr Öffentlichkeitsarbeit nötig ist, um Frauen zu ermutigen, auch in Zeiten einer Pandemie den Gewalttäter zu verlassen und ihnen Hilfsangebote bewusst und zugänglich zu machen.

Suchen jetzt grundsätzlich mehr Frauen Zuflucht im Frauenhaus?
Seit der Pandemie sind die Zahlen eher gleichbleibend. Es könnte jedoch sein, dass mit Ende der Pandemie ein Anstieg kommt, wenn es die veränderten Umstände Frauen wieder erleichtern, ein gewalttätiges Umfeld zu verlassen. 2020 waren im Frauenhaus St. Pölten die Plätze für Frauen und ihre Kinder zu 91% ausgelastet. In den letzten drei Monaten war die Auslastung bei 78%.

Haben sich die Ursachen verändert, warum Frauen Schutz suchen?
Zuletzt waren Frauen häufiger von Freiheitsentziehung, Stalking sowie Cyberstalking und Cybermobbing betroffen. Die digitalen Möglichkeiten, Personen auf Schritt und Tritt zu überwachen, machen sich auch Gewalttäter zu Nutze. Es sind vermehrt hochgefährdete Frauen und Kinder bei uns.

Gibt es eigentlich bestimmte Grundkonstellationen, die Männer zu Gewalttätern machen?
Die gibt es aus meiner Sicht nicht. Gewalt gibt es in allen Bevölkerungsgruppen und -schichten immer dort, wo patriarchale Strukturen dominieren, dort wo der Mann meint, die Frau zu besitzen, Machtansprüche stellt und mit Verlust dieser vermeintlichen Berechtigungen nicht umgehen gelernt hat.

Wie klappt die Zusammenarbeit mit der Polizei?
Außerordentlich gut. Der Schutz des Frauenhauses hat Priorität für die zuständige Polizeiinspektion. In Hochrisikofällen werden seitens der Polizei Fallkonferenzen organisiert. Das ermöglicht die optimale Zusammenarbeit aller involvierten Einrichtungen – Polizei, Gewaltschutzzentrum, Frauenhaus, Kinderschutzeinrichtungen – zum Schutz der Frau und ihrer Kinder.

PRINZIPIEN IM HAUS DER FRAU

•    Anonymität & Vertraulichkeit
Die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses sind zur Verschwiegenheit verpflichtet.
•    Unbürokratische Soforthilfe
Eine sofortige Aufnahme ist rund um die Uhr möglich, auch am Wochenende. Das Frauenhaus ist offen für Frauen und deren Kinder, unabhängig von ihrer Nationalität, Religionszugehörigkeit, sexuellen Orientierung und ihrem Einkommen.
•    Parteilichkeit
Die Mitarbeiter im Frauenhaus stehen auf der Seite der Frau, unterstützen sie und entwickeln gemeinsam mit ihnen Verbesserungen ihrer Lebenssituation.
•    Frauen unterstützen Frauen
In unserer Einrichtung werden betroffene Frauen von fachlich qualifizierten Frauen in ihrem Entscheidungs- bzw. Selbst-findungsprozess unterstützt, beraten und begleitet.
•    Hilfe zur Selbsthilfe
Das Frauenhaus bietet den Frauen die Möglichkeit in Ruhe und ohne Druck überlegen zu können, was weiter geschehen soll – mit Unterstützung der Frauenhaus-Mitarbeiterinnen.
    
Kontakt: 02742 36 65 14