MFG - Vogel.Frei
Vogel.Frei


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Vogel.Frei

Text Isma Forghani
Ausgabe 12/2022

Hauptfigur meines 2018 geschriebenen Theaterstückes „Der Siegelring“ (Editions L´Harmattan Verlag) ist die historische Person Tahéreh, die im Persien des 19. Jahrhunderts wirkte. Die junge Frau war die erste Anhängerin des Báb und die Erste, die das Symbol der Jahrhunderte lang dauernden Unterdrückung, den Schleier, öffentlich ablegte und damit das Grundprinzip der Gleichwertigkeit der Geschlechter, zum Leben erweckte.


Nicht nur wegen dieses mutigen und symbolischen Auftretens wurde sie unter Hausarrest gestellt und später hingerichtet, sondern vielmehr für ihr heldenhaftes Leben und ihre Überzeugung. Die Nachricht über ihre Exekution im Spätsommer 1852 in der Hauptstadt Persiens erreichte kurze Zeit später Europa. Dr. Jakob E. Polak, der damalige österreichische Leibarzt des Shahs, sagte: „Ich war Zeuge ihrer Hinrichtung, die vom Kriegsminister und seinen Adjutanten vollzogen wurde. Die schöne Frau Tahéreh erduldete den langsamen Tod mit übermenschlicher Stärke!“
Tahéreh wurde von zahlreichen westlichen Frauen wie Männern zu einem Vorbild auserkoren. Darunter die zwei weiteren historischen Hauptfiguren des Stückes: Sarah Bernhardt, die berühmte Schauspielerin, und Marianne Hainisch, Verfechterin gleicher Bildungschancen für Frauen und Mitgründerin des ersten Mädchengymnasiums Österreichs. Das französische Enfant Terrible Sarah Bernhardt beauftragte ihren Dramaturgen, ein Stück über Tahérehs Leben zu verfassen. Sie wollte die „Persische Jeanne d´Arc“ auf der Bühne darstellen! Die niederösterreichische Frauenrechtlerin und Mutter des ersten Bundespräsidenten Marianne Hainisch hingegen sagte: „Tahéreh ist mein höchstes Frauenideal. Ich war erst siebzehn Jahre alt, als ich von ihrem Tod hörte und ich sagte mir: Ich werde versuchen, für die Frauen Österreichs das zu tun, wofür Tahéreh ihr Leben für die Frauen Persiens hingab!“
Was war Tahéreh für ein Mensch? Für Literaturliebhaber ist sie eine hervorragende Dichterin; für Dramaturgen ist ihr avantgardistisches Leben ein faszinierender Stoff. Für Frauenvereine eine Vorkämpferin für Frauenrechte und Quelle der Inspiration. Für ihre Zeitgenossen nicht nur ein Symbol der Emanzipation der Frauen, sondern ein Symbol für die Emanzipation der Menschheit. Für manche Theologen eine Religionswissenschaftlerin und der allererste weibliche Apostel einer Religion. Jedoch für andere Theologen eine Ketzerin, deren Namen man nicht in den Mund nehmen sollte! 

PEN-Club Austria Ehrenmitglied Mahvash Sabet
Montag, 1. August 2022: Seit der Früh erhalte ich im Minutentakt Nachrichten. Eine Freundin ruft mich an und fragt, ob das Gerücht stimmt? Ich höre allerdings nur jedes zweite Wort, da ich gleichzeitig schockiert auf eine WhatsApp Mitteilung starre: „Mahvash Sabet wurde mit 12 anderen Baha’i in Teheran verhaftet.“ Nicht schon wieder, denke ich mir, nicht schon wieder Mahvash! Erst 2017 wurde sie, gemeinsam mit sechs ihrer Glaubensgeschwister nach zehn Jahren Haft, aus dem berüchtigten Evin Gefängnis entlassen. Sie alle sind ein Symbol der Resilienz im Iran und bekannt in der ganzen Welt für ihren Mut als Gewissensgefangene. Mahvash Sabet hat einen Bezug zu Österreich: Ihre im Gefängnis geschriebenen Gedichte voller Liebe, Stärke und Hoffnung wurden vom Präsidenten des österreichischen PEN-Clubs, Dr. Helmuth A. Niederle, übersetzt. „Keine Grenzen. Gedichte aus dem Gefängnis“, erschienen im Löcker Verlag. Die von PEN-International im Jahr 2017 als „Writer of Courage“ ausgezeichnete Autorin ist jetzt mit 69 Jahren wieder im Gefängnis.
Tagelang wusste niemand, wo sie festgehalten wurde. Mehr als 100 Tage im Evin Gefängnis, auch in Isolierungshaft, sind inzwischen vergangen. Mahvash Sabet ist kein Einzelfall, sondern nur das Symbol von hunderten anderen Baha’i, die grundlos inhaftiert sind. Grundlos ist eigentlich das falsche Wort. Es gibt einen Grund: Sie sind Baha’i! 

Die „Baha´i Frage“
Baha’i sind die Anhänger der im 19. Jahrhundert in Persien vom Báb und Bahà’u’llàh gestifteten Religion. Und seit damals wurden und werden sie bis heute in ihrem Ursprungsland verfolgt. Egal wer gerade an der Macht ist, nur die Intensität wechselt. Welches Unrecht haben sie begangen? Sind es etwa die Grundsätze nach dessen sie streben? Zum Beispiel, dass alle Menschen gleich sind, dass die Seele des Menschen kein Geschlecht, keine Hautfarbe, keine Nationalität hat? Dass Vorurteile jeglicher Art abgelegt werden sollen? Dass, wenn sich Familien keine Ausbildung für alle Kinder leisten können, Mädchen Vorrang haben? Dass Religion mit Wissenschaft übereinstimmen soll? Oder dass, wenn Religion zum Hass führt, sich davon zu entfernen eine wahrhaft religiöse Handlung wäre? Die Vereinten Nationen veröffentlichten ein Geheimpapier der iranischen Regierung, unterschrieben 1991 vom obersten Führer, indem die wirtschaftliche und soziale Auslöschung der Baha’i festgeschrieben wird und noch heute als Staatsdoktrin gilt. Auf dem mit „Die Baha’i Frage“ betitelten Dokument steht im Klartext: „Den Baha´i soll die Beschäftigung verwehrt werden, sobald sie sich als Baha´i identifizieren, die Regierung sollte ihren Fortschritt und ihre Entwicklung in jeglicher Form verhindern …“ Das Ziel, die Auslöschung, bleibt gleich, aber die Methode wurde geändert: nicht, wie damals nach der islamischen Revolution, als hunderte Baha’i – darunter junge Frauen wie die 17-jährige Mona Mahmudinejad – öffentlich hingerichtet und tausende willkürlich inhaftiert wurden. Nein, diesmal sollte man ihnen langsam die Luft zum Atmen wegnehmen. Es sollte weniger auffallen als eine Massenhinrichtung. So fängt die Diskriminierung schon bei den Kindern an: Die Ehen werden nicht anerkannt und das führt zu einer Verstärkung der sozialen Isolierung. In den Schulbüchern werden sie karikiert und als „unrein“ beschrieben. Die Ausgrenzung geht mit Bildungsverweigerung weiter. Vielen Schülern wird ein Schulverweis angedroht, Jugendliche werden unter Druck gesetzt ihrem Glauben abzuschwören, um Zugang zur Universität zu erhalten. Die Erwachsenen wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Den Bauern nimmt man die Felder weg, die sie seit Generationen bewirtschaften. Den Händlern werden die Geschäfte versiegelt. Ihre Häuser werden gekennzeichnet und mit Beschimpfungen beschmiert. Dazu noch die staatliche Desinformation und Hetzkampagne durch Hassreden in den Medien, groteske Videos und Fake News im Internet, die, wie jeder weiß, weder moralische noch geographische Grenzen haben. Die Benachteiligung folgt bis in die Friedhöfe: historische Baha´i Friedhöfe werden zerstört und in regelmäßigen Abständen werden Gräber geschändet. Schließlich ist die Baha’i Religion laut dem Artikel 13 der iranischen Verfassung nicht anerkannt – Verbrechen gegen sie werden nicht geahndet, sie sind vogelfrei! Trotz all der Repressalien sind sie in ihrem Herzen frei wie Vögel, wie meine Freundin Renate sagen würde. Frei zu denken. Frei zu entscheiden. Vogel.Frei!
Dienstag, 2. August 2022: Die nächste Nachricht: Auf Anweisung der Behörden und mit Unterstützung von 200 Beamten wurden im Dorf Roushankuh die bescheidenen Häuser von Baha’i-Bauern mit Bulldozern dem Erdboden gleich gemacht! Wohnviertel der Baha’i, die seit Generationen in diesem Dorf leben, wurden mit Metallzäunen abgeriegelt! Auch das ist kein Einzelfall, bereits in der Vergangenheit wurden, nicht nur in diesem Dorf, Felder und Äcker wiederholt enteignet. Nachbarn haben diese schändliche Tat auf das Schärfste verurteilt und gefilmt: So wurden über die sozialen Medien Millionen Menschen zu Zeugen. Gleichzeitig wurde ihnen in den staatlichen Medien wieder einmal „Spionage für Israel“ unterstellt, darauf hinweisend, dass die heiligen Stätten der Baha’i in Israel liegen. Dabei wurde bewusst die Tatsache verschwiegen, dass der Stifter des Baha’i Glaubens, Bahà’u’llàh, auf Betreiben der persischen Regierung im Jahr 1868 nach Akka verbannt und dort eingekerkert wurde. So liegt seine Ruhestätte im damaligen osmanischen Reich im heutigen Israel. Würde diese Argumentation auch für alle anderen Religionen, die ihre Heiligen Stätten in Israel haben gelten, so müssten alle Juden, Christen und selbst Moslems ebenfalls Spione sein!

Welle der Solidarität
Doch dieses Mal gab es eine beispiellose Welle der Solidarität nicht nur der Nachbarn, sondern auch von zahllosen Iranern aus dem Iran und aus der ganzen Welt. In einer Erklärung hunderter prominenter Iraner heißt es: „Wenn es um die Bürger- und Menschenrechte geht, betrachten wir uns auch als Baha’i.“ Die deutsch-iranische Journalistin Maryam Mirza schreibt: „Wir alle, unsere Eltern und die Eltern unserer Eltern, haben einen Anteil an der aktuellen Situation der iranischen Baha‘í. Lasst uns unsere Stimme erheben, damit wir die Schande unseres historischen kollektiven Anti-Baha‘ismus wiedergutmachen können.“ Darüber hinaus erhoben zahlreiche Menschen, staatliche-, zivilgesellschaftliche- und Menschenrechtsorganisationen weltweit ihre Stimme gegen das Unrecht. In Österreich waren es unter anderem Organisationen wie PEN Österreich, das Wiener Forum für Demokratie & Menschenrechte usw., aber auch Religionsvertreter, Politiker und Künstler wie die Schriftstellerin und Trägerin des Ingeborg-Bachmann Preises 2021, Nava Ebrahimi, mit ihrem Artikel „Unbemerktes Unrecht“ in der Kleinen Zeitung. Die Stellungnahme des Netzwerks „Interreligiöser Dialog“ der Diözese St. Pölten für Religions- und Gewissensfreiheit im Allgemeinen und die Situation der Baha’i im Speziellen, möchte ich als St. Pöltnerin besonders hervorheben.
ALLE Fälle von Ungerechtigkeit und Qual im Iran erfüllen mein Herz mit Kummer und Trauer
In Anbetracht der Eskalation der staatlichen Verfolgung der größten nicht muslimischen religiösen Minderheit im Iran habe ich diese zwei Vorfälle aus hunderten Fällen, allein seit Juli dieses Jahres berichtet. Darunter viele inhaftierte Jugendliche und junge Ehepaare, die von ihren kleinen Kindern getrennt wurden. Sie müssen als Sündenböcke für alle Plagen herhalten, sogar für Corona. Natürlich sind die Baha’i nicht die Einzigen, die Menschenrechtsverletzungen erdulden müssen. Die Liste der Verfolgten und Unterdrückten ist lang, sehr lang. Und hinter jedem Namen steht eine Lebensgeschichte und eine Familie, die mitleidet. Eigentlich müsste jede einzelne Geschichte laut erzählt werden. Leider ist es mir nicht möglich nüchtern die Ungerechtigkeiten aufzählen. Ich verweise deshalb auf die Listen der Experten des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen oder NGOs wie Amnesty International, die mit viel Hingabe und Mut diese schwere Arbeit leisten und unsere Anerkennung verdienen. Man kann den Grad der Zivilisation einer Gesellschaft an dem Stand der Frauenrechte ablesen oder gemäß Dostojewski nach dem Zustand ihrer Gefangenen. Jetzt frage ich mich: Welches Bild haben wir von einer Gesellschaft, wo Gefängnisse mit Jugendlichen, die für die Besserung der Gesellschaft arbeiten, überfüllt sind? 
Die vielen Fälle von Ungerechtigkeit und die tiefe Qual so vieler Menschen im Iran zu sehen, lastet schwer auf jedem erweckten Gewissen und erfüllt das Herz eines jeden unvoreingenommenen Beobachters mit Kummer und Trauer. Ist nicht die Zeit gekommen für die Ablegung von Vorurteilen jeder Art, die Gleichberechtigung, die Glaubensfreiheit, für Harmonie zwischen Glauben und Vernunft, und für gegenseitigen Respekt zwischen den Völkern und Nationen? Wie heißt es so schön, nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist! 

ZUR AUTORIN
Isma Forghani ist in Frankreich geboren und betrachtet sich als Weltbürgerin. Sie studierte Jus an der Pariser Sorbonne, heute lebt sie nahe St. Pölten. Neben literarischen und juristischen Übersetzungstätigkeiten legte sie 2019 ihr erstes Theaterstück, „Der Siegelring“ vor, das sich mit Tahéreh beschäftigt, die im Persien des 19 Jahrhunderts die Lehre des Báb verkündete und als Erste den Schleier öffentlich ablegte. Nächste Aufführungen anlässlich des Internationalen Frauentages: 8. März OHO Oberwart, 10. März im Rahmen von Soroptimist in Klagenfurt.