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St. Pöltens gute Seite

Big Money Give and Take

Text Michael Müllner
Ausgabe 12/2022

Missbrauchte ein österreichischer Großspender Kinder während seiner Besuche in asiatischen SOS-Kinderdörfern? Reagierten die Verantwortlichen rechtzeitig und angemessen auf die Vorwürfe? Es liegt an einer privaten Kommission darauf transparente Antworten zu liefern. Die Ermittlungen der Behörden wurden nach dem Tod des Spenders nämlich eingestellt.


In der kleinen Gemeinde in Nieder­österreich galt der betagte Herr als etwas seltsam. Vermögend, aber einsam. Keine Frau, keine Kinder. Aber dem SOS-Kinderdorf habe er schon zu Lebzeiten sein Eigenheim übergeben und stets Unsummen gespendet, für Dörfer in Asien. Dort habe er sich auch regelmäßig auf Besuch aufgehalten. In der Heimat war er auffallend freundlich zu Kindern, machte Geschenke und Komplimente – und wurde beobachtet, wie er Kinder beobachtete. Konkreter wurden die Gerüchte nicht. Die Kinder hielt man auf Abstand.
Die Staatsanwaltschaft St. Pölten bestätigt, dass im November 2021 eine Sachverhaltsdarstellung eingegangen ist. Aus einem asiatischen Land war ein konkreter Bericht an die SOS-Kinderdorf-Zentrale in Tirol geschickt worden, diese leitete ihn an die Behörde weiter: Zwischen 2010 und 2014 soll es glaubwürdige Übergriffe des Großspenders auf acht Kinder gegeben haben, weitere Besuche wurden ihm verboten. Doch dauerte die Aufarbeitung offenbar bis 2021, da waren dann die Delikte nach dem Recht des asiatischen Landes bereits verjährt. 
Es blieb beim internen Bericht von einer SOS-Kinderdorf-Organisation an die andere. Die österreichische Strafverfolgungsbehörde hatte nun zu prüfen, ob nach österreichischem Recht noch eine Strafbarkeit vorlag. Zwar wurden Ermittlungsschritte gesetzt, jedoch starb der Mann im August 2022. Entsprechend der Gesetze wurde somit das Ermittlungsverfahren eingestellt – bevor eine Anklage eingebracht oder gar ein öffentliches Strafverfahren abgehalten werden konnte.
Somit liegen Aufarbeitung sowie Konsequenzen in der Hand der betroffenen Spenden-Organisation. Sie machte den Fall öffentlich. Eine unabhängige Kommission unter der Leitung von Waltraud Klasnic untersucht die Vorfälle und wird im Frühjahr 2023 einen Abschlussbericht veröffentlichen, wie Elisabeth Hauser, Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf in Österreich berichtet. 

Wieso beschäftigt sich SOS-Kinderdorf so intensiv mit Kinderschutz und Prävention, auch innerhalb der eigenen Organisation?
Dieser intensive Prozess hat 2012 Fahrt aufgenommen, als wir beim renommierten Historiker Horst Schreiber eine Studie in Auftrag gaben, aus der dann das bekannte Buch „Dem Schweigen verpflichtet“ entstand. 
Für uns als Organisation war das wirklich erhellend, weil nicht nur die anonymisierten Geschichten der einzelnen Opfer erzählt wurden, sondern weil auch dargestellt wurde, welche Strukturen zwischen den 1950er- bis 1990er-Jahren prägend waren. Es ging darum, das Umfeld offenzulegen, in dem Übergriffe und das Verschweigen dieser möglich waren. Heute ist unser Hauptinteresse Übergriffe zur Sprache zu bringen – wir sind dem Reden verpflichtet. Demnach müssen wir als Organisation alles tun, um ein Umfeld zu schaffen, in dem Betroffene das Nötige zur Sprache bringen können. 

Wie gelingt das?
Bei uns stehen Menschen zueinander in intensiven Beziehungen. Es geht täglich darum, dass man dieses Nähe-Distanz-Verhältnis bewerkstelligt. Dazu muss man große Achtsamkeit auf die Integrität jedes einzelnen legen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt bei Schulungen und laufenden Fortbildungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir müssen aber auch verstehen, dass trotzdem etwas passieren wird – und was passiert dann? Das ist genau die der Punkt, die wesentliche Frage, wie wir jetzt damit umgehen.

Sie haben den Fall eines Großspenders bekannt gemacht, der während seiner Besuche Kinder missbraucht haben soll. Wie gingen Sie damit um?
Wir haben im Mai 2021 von insgesamt siebzehn Vorfällen erfahren, die sich weltweit in verschiedenen Länderorganisationen ereignet haben sollen. Die Föderation, sozusagen unsere internationale Organisation, hat zur Klärung dieser Vorfälle eine Senatskommission gegründet. Als österreichische Länderorganisation haben wir davon unabhängig reagiert und zusätzlich die „Independent Childprotection Commission“ (kurz: ICC) rund um Waltraud Klasnic beauftragt alle diese Fälle zu prüfen. Die ICC ist eigenständig, arbeitet völlig unabhängig und hat von uns alle nötige Unterstützung erhalten um die Fälle zu prüfen. Wir erwarten im Frühjahr einen Abschlussbericht, der auch genau prüft, was wir als Organisation anders hätten machen sollen. Der konkrete Vorwurf an den mittlerweile verstorbenen Großspender ging bei uns im November 2021 ein. Wir haben dann die Staatsanwaltschaft informiert und zusätzlich der ICC das Mandat erteilt, sich auch diesen Vorwurf noch genau anzusehen.

Die Strafverfolgungsbehörde nahm nach Ihrer Anzeige Ermittlungen gegen den Mann auf, das Verfahren wurde aber eingestellt, als der hochbetagte Mann im August 2022 verstarb. Eine öffentliche, strafrechtliche Aufarbeitung wird es also nicht geben. Wie transparent werden Sie diesen Fall machen – auch mögliche Fehler, die in Ihrer Organisation passiert sind?
Es obliegt der ICC ihre Erkenntnisse zu bewerten und zu kommunizieren. Wir haben darauf keinen Einfluss. Aber uns ist Transparenz natürlich sehr wichtig, damit wir als Organisation lernen und somit auch das Vertrauen in uns gestärkt wird.

Im Heimatort des Spenders war es ein offenes Geheimnis, dass er seit Jahrzehnten sehr großzügig an Ihre Organisation spendete und regelmäßig auf Besuch in die von ihm mitfinanzierten Dörfer flog. Es gab Gerüchte, dass er junge Buben besonders gernhabe. Das asiatische Land hatte bereits 2014 an Österreich berichtet, dass der Spender nicht mehr kommen darf. Warum hat man nicht schon damals Konsequenzen gezogen?
Was damals hätte anders laufen können, ist eine wesentliche Frage, die uns die unabhängige Kommission aufzeigen soll. Wir haben damals die Entscheidung des Gastlandes akzeptiert und dem Spender erklärt, dass er das Dorf nicht mehr besuchen darf. Er war zwar verärgert, hat die Entscheidung aber akzeptiert.

Als die Vorfälle zwischen 2010 und 2014 angeblich passiert sind – gab es damals keine internen Vorschriften, wie mit Besuch von Spendern umzugehen ist? 
Richtlinien wie beispielsweise eine „Child Safeguarding Policy“ gab es damals auch, aber die Ernsthaftigkeit dieser Vorschriften ist in den letzten Jahren massiv verbessert worden. Auch die einzelnen Länderorganisationen haben ihre Strukturen vor Ort angepasst. In den letzten zwei bis drei Jahren hat sich die Geschwindigkeit, mit der zusätzliche Ausbildungen und Meldesysteme implementiert werden, massiv erhöht. Bei den Besuchen durch Spender vor Ort möchten wir natürlich transparent machen, was mit den Spenden passiert. Zugleich hat aber das Kindeswohl Vorrang. Ein Spender kann beispielsweise nicht das Zimmer eines Kindes besuchen, wenn das die Privatsphäre des Kindes verletzen würde. 

Viele Menschen fragen sich, wie sie mit Beobachtungen oder Gerüchten umgehen sollen. Man sieht etwas, man hört Geschichten. Aber wie verhält man sich richtig, wenn man einerseits nicht wegschauen will, andererseits aber auch niemanden vernadern möchte?
Das ist eine sehr wichtige Frage, die uns als Organisation betrifft, die sich aber auch für die ganze Gesellschaft stellt. Vorweg, wir haben Meldestellen eingerichtet, die sicherstellen, dass jeder Beobachtung nachgegangen wird. Wir wollen eine Kultur schaffen, in der man nicht wegschaut und in der es einfach und sicher ist, Missstände zu melden. Natürlich sind gerade in unserer Organisation die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dahingehend hoch sensibilisiert, weil für die Kinder mitunter schon gewisse Gefährdungslagen vorherrschen oder passiert sind. Daher brauchen sie ganz besonderen Schutz. Nun aber zur Frage, was jeder machen kann, egal ob als Freund, Familienmitglied oder Nachbar. Ganz, ganz wichtig ist es, die Kinder zu stärken. Kinder haben ein unglaublich gutes Sensorium dafür, ob sich etwas gut oder falsch anfühlt. Wir müssen ihnen bei passenden Gelegenheiten vermitteln, dass ihre Gefühle immer richtig sind. Wenn es sich nicht gut anfühlt, dann sollen sie es auch ausdrücken und benennen. Kinder sollen sich mit einer Selbstverständlichkeit an vertraute Personen wenden können. Sie sollen lernen Nein zu sagen. Als Erwachsene müssen wir den Kindern glauben, wenn sie sich äußern. Es ist ganz schlecht, wenn man bagatellisiert. Wenn ein Kind sagt, dass der Nachbar komisch war, dann ist es nicht ausreichend es beschwichtigend abzutun, indem man sagt: „Naja, das ist halt ein Netter.“ Wenn man die Wahrnehmung des Kindes auf diese Art wegwischt, dann wird sich das Kind abgewöhnen zu artikulieren, wenn sich etwas komisch anfühlt. Kurz: Das Kind hat immer recht damit, was es empfindet.

Oft fällt es auch Erwachsenen schwer, Verhalten zu deuten.
Definitiv, nicht jedes eigenwillige Verhalten lässt auf strafrechtlich Relevantes schließen. Wenn sich etwas komisch anfühlt, sollte man jedenfalls genau hinschauen. Leider wissen viele zu wenig, dass es in jedem Bezirk eine Kinder- und Jugendhilfe gibt. Dort kann man auch anonym anrufen und mit Sozialarbeitern über die eigene Beobachtung sprechen. Das hilft oft besser einzuordnen, was man da eigentlich wahrnimmt. Man muss also nicht sofort zur Polizei gehen und jemanden aus der Nachbarschaft oder dem familiären Umfeld anzeigen. Diese Meldungen über den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung werden dokumentiert und bearbeitet – oft sind sie der erste Schritt zu einer Lösung. Man muss klar sagen: Wer Gewalt beobachtet, der ist verpflichtet sie zu melden. Kinder sind darauf angewiesen, dass Erwachsene auf sie schauen und sie schützen. Damit sind nicht nur Eltern gemeint, diese Verantwortung haben wir alle, die ganze Gemeinschaft. Auch aus einer gewissen Distanz kann man relevante Beobachtungen einbringen und viele Verdachtsfälle entstehen, weil Dritte ihre Beobachtungen melden.

SOS-KINDERDORF – EIN DORF FÜR DIE GANZE WELT
Hermann Gmeiner gründete 1949 in Tirol das erste SOS-Kinderdorf und schuf damit eine weltumspannende Idee, die heute mit 550 SOS-Kinderdörfern in 137 Ländern vertreten ist. Mehr als 1.500 unterschiedliche Programme stärken Familien und betreuen Kinder und Jugendliche. Die Projekte umfassen Kindergärten und Schulen, Medizin- und Sozialzentren sowie Nothilfeprogramme. Im Jahr 2021 erreichte man damit weltweit 1,28 Millionen Menschen. 
In Österreich wurde 1.688 Kindern und Jugendlichen ein stabiles Zuhause geboten. 3.035 Kinder und Jugendliche profitierten gemeinsam mit ihren Familien von regelmäßigen Beratungs- und Unterstützungsangeboten. Die Vision: Jedem Kind soll ein liebevolles Zuhause geboten werden, ein Aufwachsen in Würde und Wärme. Rund ein Drittel der dafür nötigen Finanzmittel stammen von privaten Spendern. Die Organisation setzt sich auch für die Einhaltung und Weiterentwicklung der Kinderrechte ein. Um Fälle von Gewalt und Missbrauch in den eigenen Einrichtungen aufzuklären, wurden Meldestellen eingerichtet und eine unabhängige Kommission mit der Aufarbeitung beauftragt.
SOS-Kinderdorf bietet verschiedene Möglichkeiten, um Missstände oder Fehlverhalten zu melden. Auf www.sos-kinderdorf.at/meldestelle sind diese angeführt. Wer generell eine Gefährdung von Kindern vermutet, kann sich (auch anonym) an die Kinder- und Jugendhilfe in den jeweiligen Bezirken wenden. In St. Pölten erreicht man die Jugendhilfe im Rathaus unter 02742-333-2531.