MFG - Relativität
Relativität


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Relativität

Text Johannes Reichl
Ausgabe 10/2008
So kompliziert Einsteins Relativitätstheorie im physikalischen Sinne sein, so banal könnte man sie auf die Gesellschaft (auf dass jetzt gestandenen Physikern ihr Gutenmorgenkipferl im Hals stecken bleibt) ummünzen: Alles ist im Hinblick auf den Standort des Beobachters relativ. Und hängt von seiner Wahrnehmung ab.
Joachim Schlömer, der designierte künstlerische Leiter des Festspielhauses, besuchte im Juni zum ersten Mal seine neue Wirkungsstätte. Um sich ein Bild zu machen, spazierte er „bewusst“ durch die Stadt. Sein Ersteindruck: „St. Pölten ist schön, zum Teil aber sehr dreckig.“ Dreckig? So hatte ich die Stadt noch nie wahrgenommen. Ich folgte seinem Beispiel: Er hatte recht! Vieles ist schleißig, lieblos, schlichtweg abgefuckt. Als Einwohner nimmt man es nur nicht mehr wahr, zu sehr ist der Blick getrübt. Das  ist aber kein Grund aufzuheulen und unseren so oft beobachteten, kleinkarierten Reflex „Alle sind so böse. Wir sind doch eh so super“ vom Stapel zu lassen, sondern wir sollten dementsprechend darauf reagieren – mit Veränderung und mehr Sensibilität!
Falsch ist auch die Vorstellung von der Herzogenburgerstraße als gefährliches Glasscherbenviertel, die durch die Köpfe vieler geistert. Warum? Ganz einfach, die meisten waren noch gar nicht dort. Dabei ist das Grätzl aufgrund seiner unterschiedlichen Ethnien, Lebensweisen und Altersgruppen bunt, spannend und pulsierend wie kein anderes. Freilich ist dort auch der Existenzkampf zuhause. Was für viele in ihrer heilen Wohlstandswelt selbstverständlich ist, ist es für viele Sozialhilfeempfänger in der Parallelwelt ganz und gar nicht. „Man kann sich ausmalen, nicht wie gut, sondern wie schlecht man mit 600 Euro im Monat auskommen kann“, bringt es Sozialhilfe-Chef Helmut Neidl auf den Punkt.
Überrascht zeigte sich eine Freundin vom Wahlverhalten der Jungwähler. “Warum haben so viele die Rechten gewählt? Die wählen doch grün?“ Ja, jene in ihrem Umfeld. Schüler, Studenten. Aber das Gros jener Jugendlichen, die schon im täglichen Lebenskampf stehen und sich mit ganz anderen Problemen und v.a. Ängsten herumschlagen müssen, nicht. Sie waren in ihrer Wahrnehmung nicht existent.
Viele, so hieß es, hätten HC Strache aus Protest gewählt -  dafür eignet er sich denkbar schlecht, weil er nicht Politik, sondern Demagogie betreibt. Man möge sich Straches Reden zu Gemüte führen (aber wer von den Wählern hat das schon getan?) Da spricht ein Hassprediger, der an die niedrigsten Instinkte in uns appelliert und sich am Leid Schwächerer ergötzt, wenn er etwa für abzuschiebende Asylwerber forderte, dass diese anstatt in Verkehrsmaschinen in Bundesheer-Hubschraubern abgeschoben werden sollen „dann können sie schreien und sich anbrunzen so viel sie wollen.“ Eiskalt. Sind sich alle Wähler bewusst, welchen Menschen sie da gewählt haben?
Eine extrem verzerrte (Ir)Realität zeichnen auch die Medien. Wenn Zeitungen im Dauerfeuer seitenweise über Kriminalfälle berichten, entsteht der Eindruck steter Bedrohung, und die Leute entwickeln Angst. Methode? Nicht dass es diese Fälle nicht gäbe – nur, die Relationen sind völlig unverhältnismäßig. Ebenso wie die Gehirnwäsche, wir würden von Asylwerbern überschwemmt (2007 gab es 11.879 Neuanträge, 5197 wurden positiv beurteilt)
Und dann stöhnen wir auf über das böse Ausland, das uns ins rechte Eck rückt, dabei sind wir ja gar nicht so. Nur haben die rechtsextremen Parteien 30% errungen. Nur marschieren bei Jörg Haiders Begräbnis Neonazis und Rechtsextreme aus ganz Europa auf - kein Zufall, sondern weil er auch ihre Sprache gesprochen hat. Das sind die Fakten, aus denen sich ihre Wahrnehmung speist.
Die gesellschaftliche Relativitätstheorie beinhaltet noch ein Axiom. Die Wahrnehmung verändert sich mit der Bewegung, und die müsste eine aufeinander zu sein, eine zum Wissen hin. Dann würde man vieles besser und vorurteilsfreier begreifen. Eigentlich relativ einfach.