MFG - Mindestsicherung – Dichtung und Wahrheit
Mindestsicherung – Dichtung und Wahrheit


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Mindestsicherung – Dichtung und Wahrheit

Text Johannes Reichl
Ausgabe 04/2016

Seit einigen Jahren schwelt die Mindestsicherungsdebatte, die zuletzt durch die Asylthematik weiter aufgeheizt wurde. In zahlreichen Foren, Zeitungen, aber zusehends auch etablierten Parteien wird folgendes Bild suggeriert: Mindestsicherungsbezieher sind Menschen, die jeden Monat fürs Nichtstun ungeschaut 837 Euro kassieren und diesen Komfort in der „sozialen Hängematte“ dauerhaft einer ordentlichen Arbeit vorziehen, was den Sozialstaat zusehends an den Abgrund führt. MFG bemühte sich, Dichtung von Wahrheit zu trennen.

Vorab: Blick in die Historie
Die Mindestsicherung löste im Herbst 2010 die sogenannte „Hilfe zum Lebensunterhalt“, im Volksmund „Sozialhilfe“ genannt, ab. Der Kern und die prinzipielle Stoßrichtung sind aber gleich geblieben und lesen sich im NÖ Mindestsicherungsgesetz unter §1 wie folgt: „Ziel der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ist die Vermeidung und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausschließung oder von anderen sozialen Notlagen bei hilfsbedürftigen Personen.“
Die Mindestsicherung ist also für jene Personen gedacht, die über keine angemessenen eigenen Mittel verfügen und auch durch Leistungsansprüche gegenüber Dritten den eigenen Bedarf bzw. den ihrer Angehörigen nicht ausreichend decken können. Als ausreichend wird aktuell ein Betrag von 837,76 Euro für eine Einzelperson betrachtet (Staffelung siehe unten). Mit dieser Leistung sollen insbesondere die regelmäßigen Aufwendungen für Nahrung, Bekleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und Strom abgedeckt werden. Bereits darin enthalten ist ein Anteil von bis zu 25% zur Finanzierung des angemessenen Wohnbedarfes, das sind 206,95 Euro.
Im Jahr 2015 wandte das Land Niederösterreich für die Mindestsicherung rund 61 Millionen Euro auf (was knapp 6,5% der gesamten Sozialhilfeabgaben des Landes entsprach). Im Jahr 2011 lag der absolute Wert noch bei rund 35,1 Millionen Euro.
„Der hat ein Riesenhaus, ein fettes Auto und kassiert Mindestsicherung!“
Vermögen muss eingesetzt werden.
Vermögen (Ersparnisse, wertvolle Bilder, Münzsammlungen u.ä.) muss man, bis zu einem Freibetrag von 4.188,8 Euro (was aber ohnedies die wenigsten haben), einsetzen, bevor man überhaupt Anspruch auf die Mindestsicherung bekommt. Selbst ein Auto darf man in der Regel nur behalten, wenn man es für die Ausübung des Berufes benötigt (z.B. pendeln) bzw. wenn es sich, um es salopp zu formulieren, um eine wertlose „Kraxn“ handelt. Hat jemand ein neues Auto, gilt dieses als Vermögenswert und muss veräußert werden.
Wohnt ein Antragsteller in einer eigenen Immobilie (Haus, Eigentumswohnung), so muss er diese zwar nicht veräußern, nach einer Frist von sechs Monaten kann sich die Bezirksbehörde aber grundbücherlich eintragen, um Ersatzforderungen bei einer etwaigen Veräußerung bzw. auch im Falle eines Erbes geltend zu machen. D.h. es kann sein, dass die Mindestsicherung aus diesen Mitteln zurückgezahlt werden muss – auch von den Erben.
„Wir erhalten die ganzen Großfamilien!“
Über 50% leben in Einpersonenhaushalten.
Spricht man von Mindestsicherungsbeziehern, so haben viele kinderreiche Familien im Kopf, welche sozusagen vom Staat erhalten werden. Die Realität sieht aber anders aus.
In Niederösterreich gibt es aktuell (Stand Jänner) 16.542 Personen in der Mindestsicherung (über das gesamte Jahr 2015 waren es 24.139 Bezieher, was bei 1,62 Millionen Niederösterreichern einem Anteil von ca. 1,2% an der Gesamtbevölkerung entsprach).
Von den aktuell 16.542 Personen sind 5.551, also gut ein Drittel, Kinder, gegenüber 10.991 Erwachsenen. Sieht man sich die Struktur der Erwachsenen an, so waren hier wiederum – ein allgemeines Armutsphänomen – 6.119 Frauen gegenüber 4.872 Männern zu verzeichnen. Rund 50% der Mindestsicherungsbezieher lebten in Haushalten, wo nur eine Person ist bzw. Anspruch hatte. 8.526 Bezieher lebten in sogenannten Bedarfsgemeinschaften, wobei hier das Gros alleinerziehende Mütter darstellen. Die Annahme, dass vor allem Großfamilien das Gros der Bezieher ausmachen, ist also falsch: Österreichweit lag der Anteil von Paaren mit vier oder mehr Kindern bei gerade einmal 2%!
„Die kassieren alle 837,76 Euro!“
Durchschnittliche Höhe lag in NÖ bei 175,50 Euro.
Die bedarfsorientierte Mindestsicherung ist aktuell mit 837,76 Euro beziffert. Dies ist auch die Zahl, mit der in den diversen Debatten „hantiert“ wird. Was freilich unterschlagen wird, ist die durchschnittliche Auszahlungshöhe pro Person. Und diese lag im Jahr 2015 in Niederösterreich nicht beim Maximalbetrag, sondern bei 175,50 Euro!
Dies erklärt sich zunächst einmal damit, dass je nach Zahl der im Haushalt befindlichen Personen ein Abstufungsschlüssel besteht, der wie folgt aussieht:
•    Mindestsicherung für Alleinstehende und Alleinerzieher: 837,76 Euro
•    Für Ehepaare/Partner: 1.256,64 Euro
•    Für jede weitere erwachsene UND unterhaltsberechtigte Person: 418,88 Euro
•    Für Personen in einer Wohngemeinschaft ohne gegenseitige Unterhaltsansprüche: 628,32 Euro
•    Für Minderjährige Kinder mit Anspruch auf Familienbeihilfe: 192,68 Euro
Außerdem sind rund 50% der Bezieher sogenannte „Aufstocker“, haben also etwa Arbeitseinkünfte (z. B. Teilzeitbeschäftigung) oder verfügen über sonstige Bezüge (z.B. „Sozialtransfers“ wie Notstandshilfe, Arbeitslosengeld, Unterhalt durch geschiedene Ehepartner u.ä.). Diese werden von der Mindestsicherung abgezogen!
„Da ist man ja blöd, wenn man arbeiten geht!“
Es gibt keine „Wahlmöglichkeit“.
Diese Aussage ist in ihrem Grundansatz falsch: Erwerbsfähige Personen haben nämlich nicht die Wahlmöglichkeit, ob sie sich sozusagen zwischen Mindestsicherung oder einem kollektivvertraglich geregelten „Mindestlohn“ entscheiden. Um Mindestsicherung zu erhalten, MÜSSEN arbeitsfähige Personen bereit sein, Arbeit (Vollzeit) anzunehmen. Tun sie dies nicht, wird die Mindestsicherung gekürzt. Ausgenommen sind nur Personen, die eine Sorgepflicht für Kinder unter drei Jahren haben, die Familienangehörige mindestens der Pflegestufe 3 betreuen oder die bereits das Regelpensionsalter erreicht haben.
Prinzipiell ist festzuhalten, dass die Mindestsicherung im Unterschied zu einem Lohn nicht 14-mal, sondern zwölfmal im Jahr ausbezahlt wird. Möchte man also Vergleiche ziehen, muss man seriöser Weise die Jahreseinkommen (Vollerwerb) miteinander vergleichen.
Das Bundesministerium für Soziales hat hierzu einige Fallbeispiele (Stand 2014) durchgerechnet. Nachstehende sind inklusive des Wohnkostenanteils. Ohne Wohnkostenanteil potenziert sich die Differenz noch.
•    Jahreseinkommen Mindestsicherung (BMS) im Vergleich zu 1.000 Euro Brutto-Lohn ergibt netto:
9.933,83 Euro BMS : 11.892 Euro Lohn (19,71% Differenz)
•    Jahreseinkommen Mindestsicherung (BMS) im Vergleich zu 1.158 Brutto-Lohn ergibt netto:
9.933,83 Euro BMS : 13.697,18 Euro Lohn (37,88%)
•    Jahreseinkommen Mindestsicherung (BMS) im Vergleich zu 1.300 Brutto-Lohn ergibt netto:
9.933,83 Euro BMS zu 14.448 Euro Lohn (45,44% Differenz)
Hinzu kommen mögliche weitere Sozialtransferleis­tungen, die Mindestsicherungsbezieher wie anderen (Bedürftigen) gleichermaßen zustehen: Kinderbeihilfe, Kinderabsetzbetrag, Pflegegeld, GIS Gebührenbefreiung (max. Nettoeinkommen 988,7 Euro Einpersonenhaushalt, 1482,41 Nettoeinkommen Zweipersonenhaushalt, ab dritter Person jeweils +152,6 netto), Rezeptgebührenbefreiung (NOEGKK: max. Nettoeinkommen 882,7 Euro Einpersonenhaushalt, max. Nettoeinkommen 1.323, 58 Zweipersonenhaushalt, pro Kind +136,21 netto).
„Die wollen alle nix hackeln!“
Missbrauch wird auf 2-3% geschätzt.
Im Hinblick auf die oft suggestive Unterstellung „die Mindestsicherungsbezieher sind alle hocknstad und wollen nix hackeln“ ist festzuhalten, dass 60% der Bezieher gar nicht als erwerbsfähig gelten, weil sie entweder Kinder sind, nicht mehr im erwerbsfähigen Alter stehen (also z.B. Senioren ohne Regelpensionsansprüche) oder krankheitsbedingt nicht arbeiten können. Indirekt Rückschlüsse kann man aber über die AMS Daten beziehen: So waren laut AMS Geschäftsstellen-Leiter Thomas Pop im Vorjahr 10.700 von Arbeitslosigkeit betroffene Niederösterreicher Mindestsicherungsbezieher, 1.850 davon konnten erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden.
Bewusster Missbrauch ist selten, wie der St. Pöltner Sozialamtsleiter Peter Eigelsreiter betont. „Aus unserer Erfahrung liegt die Zahl jener, die das System ausnutzen, vielleicht bei zwei bis drei Prozent. Der Anteil ist in Wahrheit verschwindend gering.“
AMS Vorstand Johannes Kopf warnt im „profil“-Interview aber in manchen Fällen vor einer „Inaktivitätsfalle“: „Ein Beispiel: Ein Ehepaar, drei kleine Kinder, kommt mit Mindestsicherung und Familienzuschlag auf 1800 Euro im Monat. So viel würde der Mann nie verdienen, wenn er arbeitet. Das ist eine Inaktivitätsfalle, weil die Sozialtransfers sinken, wenn er zu arbeiten beginnt.“ Die richtige Antwort sieht Kopf allerdings nicht in einer Verschärfung der Mindestsicherung, sondern „Mein Vorschlag wäre, dass man bei Arbeitsaufnahme einen Teil der Mindestsicherung noch eine gewisse Zeit zahlt. Sodass ein Anreiz besteht, Jobs anzunehmen. Bei der derzeitigen Gesetzeslage darf man niemandem einen Vorwurf machen, wenn er sich nicht um Arbeit bemüht. Mein Modell hingegen würde helfen, aus der Inaktivität herauszukommen.“ Das Land Niederösterreich hat im letzten Herbst ein solches Anreiz-System beschlossen.
Prinzipielles Kernproblem ist aber aktuell die Arbeitsmarktsituation – auf eine frei gemeldete Stelle kamen im Dezember 2015 in Niederösterreich 20,7 beim AMS als erwerbslos gemeldete Personen.
„Die liegen uns ewig auf der Tasche!“
Durchschnittliche Bezugsdauer beträgt 7 Monate.
An den Stammtischen wird vielfach das Bild gezeichnet, dass der Staat Menschen „ewig“ über die Mindestsicherung „mitschleppt“. Bezogen auf sämtliche Bezieher betrug die durchschnittliche Bezugsdauer im Jahr 2015 in Niederösterreich de facto sieben Monate.
Zwar hat im Zuge der Landtagssitzung etwa Abgeordneter Anton Erber (ÖVP) darauf verwiesen, dass rund 40% die Mindestsicherung über 20 Monate lang beziehen, zugleich blieb er aber eine Differenzierung schuldig, denn in dieser Zahl sind auch jene Kinder, Personen mit Betreuungspflichten sowie Personen im pensionsfähigen Alter enthalten, die länger als der Durchschnitt Mindestsicherung beziehen. Prinzipiell ist die Verweildauer seit Einführung der Mindestsicherung 2010 angestiegen.

... analoge Beiträge:

Foto Sabphoto - Fotolia.com

Nur – wie sehen sie aus, DIE Mindestsicherungsbezieher? Im Falle der Familie Maier (sämtliche Namen sind auf Wunsch geändert, Anm.), die ich an diesem Tag in der S-Lounge im Süden der Stadt treffe, „stinknormal“. Als sie hereinkommen, hält Mama Maria die Tür auf und Papa Franz schiebt brav den Kinderwagen hinter ihr her, in dem die kleine Anna zufrieden an ihrem Schnuller nuckelt. Armut ist nichts, was man sieht. Es ist etwas, unter dem man leidet – viele im Geheimen und nach  ...


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Die Mindestsicherung ist seit längerem ein vieldiskutiertes Thema – was ohne Zweifel auf ihren kontinuierlichen Anstieg seit Einführung zurückzuführen ist. Welche Faktoren haben diesen aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren bedingt?
Der Anstieg ist einerseits damit begründet, dass auch die Arbeitslosigkeit angestiegen ist. Andererseits, dass immer weniger Personen mit dem aktiven Arbeitseinkommen das Auskommen finden. Viele haben ein Arbeitseinkommen unter der  ...


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Experten sagen, der aktuell vielfach suggerierte Sozialmissbrauch sowie die angebliche Arbeitsunwilligkeit bei der Mindestsicherung seien verschwindend gering und lägen bei ca. 2-3% der Bezieher. Wie beurteilen Sie das?
Faktum ist, Ende des Jahres 2015 waren 40 Prozent der Mindestsicherungsempfänger arbeitsfähig. Meines Erachtens sind die Kontrollen in diesem Bereich zu mangelhaft. Dass Förder- und Kontrollstelle überhaupt in einer Hand liegen, gibt es sonst ohnehin  ...


Foto NÖ Landespressedienst / Maria Dürnecker

Schon im Vorfeld machten die NGOs mobil. Die Diakonie etwa monierte prinzipiell die Eile, mit der das Gesetz überhaupt zustande kommen sollte. „Die Einbringung erfolgte im Landtag durch einen Initiativantrag, sodass der Gesetzesentwurf nicht einmal einer Begutachtung unterzogen wurde.“
Vor allem drei Kernbereiche wurden auf neue Beine gestellt bzw. – wie im Fall des Wohnzuschusses – auch nicht: Der Wohnkostenanteil wird, wie bislang, als Teil der Bedarfsorientierten  ...


Foto Matthias Köstler

Fast 18 Jahre ist Eigelsreiter mittlerweile an Bord des Sozialamtes. Begann er zunächst als „klassischer“ Sachbearbeiter, so leitet er seit gut neun Jahren St. Pöltens wichtigste Sozialeinrichtung. Damit hat Eigelsreiter auch noch das alte Sozialhilfe-System kennengelernt und schüttelt bei der Frage nach den Unterschieden zur Mindestsicherung fast unmerklich den Kopf. „Ich verstehe die aktuelle Aufregung nicht ganz. Im Grunde ist die Bedarfsorientierte Mindestsicherung fast ident zur  ...