An der Front
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
Viele reden über „DIE Mindestsicherungsbezieher“, ohne ein bestimmtes Bild von den Betroffenen oder ihrem Schicksal zu haben – bei ihm sitzen sie hingegen tagtäglich im Foyer mit ihren Ängsten und hoffen auf Unterstützung ihrer Mitbürger: Peter Eigelsreiter ist Leiter des Sozialamtes St. Pölten, zudem lehrt er als Dozent an der FH St. Pölten zum Thema „Materielle Grundsicherung“ – kurzum, der Mann weiß, worum es geht abseits von tendenziellen Facebook-Postings und Medienberichten.
Fast 18 Jahre ist Eigelsreiter mittlerweile an Bord des Sozialamtes. Begann er zunächst als „klassischer“ Sachbearbeiter, so leitet er seit gut neun Jahren St. Pöltens wichtigste Sozialeinrichtung. Damit hat Eigelsreiter auch noch das alte Sozialhilfe-System kennengelernt und schüttelt bei der Frage nach den Unterschieden zur Mindestsicherung fast unmerklich den Kopf. „Ich verstehe die aktuelle Aufregung nicht ganz. Im Grunde ist die Bedarfsorientierte Mindestsicherung fast ident zur ehemaligen Hilfe zum Lebensunterhalt, mit dem großen Vorteil, dass die Bezieher gegenüber früher auch krankenversichert sind und eine e-card haben.“ Früher mussten diese nämlich noch einen eigenen Sozialhilfe-Krankenschein vom Sozialamt holen „und waren damit automatisch in der Öffentlichkeit stigmatisiert.“ Im Gegensatz zu früher wird die Mindestsicherung heute auch nur mehr zwölfmal ausbezahlt, außerdem sind die früher eigens ausgezahlte Bekleidungsbeihilfe und der Heizkostenzuschuss inkludiert. „Es gibt in Bedarfsfällen aber zusätzlich noch die Möglichkeit von Beihilfen aus dem Sozialhilfegesetz, die jedem Bedürftigen – also nicht nur Mindestsicherungs-Beziehern – zustehen.“ Das kann sein, wenn das Amt z.B. bei einer Kaution für eine Mietwohnung einspringt, bei der ersten Grundausstattung mit Möbeln unterstützt (die in St. Pölten im Übrigen von der Emmausgemeinschaft bezogen werden, wodurch das Geld quasi im sozialen Kreislauf bleibt) oder ein relevantes, kaputtgegangenes Elektrogerät ankauft, das sich der Betroffene schlicht nicht leisten kann.
Wir sprechen im Falle von Mindestsicherungsbeziehern jedenfalls von Menschen, die ohne Hilfe der öffentlichen Hand auf Sicht wohl in der Obdachlosigkeit landen würden. Und das möchte der Staat, also wir, aus gutem Grund vermeiden: Der nächste Schritt wäre nämlich ein möglicherweise völliges Abgleiten in Verelendung, Krankheit und – aufgrund mangelnder Perspektive – Kriminalität und Radikalität. Von der vielzitierten „sozialen Hängematte kann keine Rede sein“, ärgert sich Eigelsreiter. „Das ist alles beileibe kein Spaß für die Betroffenen!“
Im Grunde genommen ist die Mindestsicherung eben genau das, was der Name schon zum Ausdruck bringt: das Minimum, um über die Runden zu kommen. Ein Minimum, das ohnedies weit unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.161 Euro, liegt. „Deshalb stoße ich mich auch sehr an der aktuellen Neiddebatte, vor allem weil sie auf falschen Informationen und Halbwahrheiten fußt. Die Mindestsicherung ist eine rudimentäre Absicherung. Grundsätzlich, so steht es im Gesetz, soll dadurch auch die soziale Teilhabe gewährleistet werden – de facto kann man das aber mit diesem Betrag kaum!“ Soll heißen: Der für viele vielleicht selbstverständliche Kaffeehausbesuch, das neue Stück im Kleiderschrank, die morgendliche Tageszeitung, der Kinobesuch zwischendurch, die Mitgliedschaft im Sportverein, der selbstverständliche Griff zur Butter und zum Schinken anstelle der Margarine (die viele zum Glück kostengünstig im Sozialmarkt erstehen können), sind vielfach nicht drin. Jede unvorhergesehene Reparatur kann zum unlösbaren Problem werden mit dementsprechenden Existenzängsten und Stress. Vom Urlaub am Meer oder gar einem Auto, das ja auch getankt werden muss, ganz zu schweigen.
Wobei man ein Fahrzeug ohnedies nur haben darf, wenn man es zum Beispiel für den Arbeitsweg braucht. Oder – diesbezüglich ist man pragmatisch – wenn es keinen relevanten Wert mehr besitzt. Handelt es sich hingegen um ein neueres Modell „also sagen wir z.B. ein Auto im Wert von 8.000 Euro, dann muss es veräußert werden, weil es als Vermögenswert gilt“, so Eigelsreiter. De facto darf ein Mindestsicherungsbezieher Vermögen von maximal 4188 Euro besitzen, alles darüber hinaus muss er für seine Existenzsicherung einsetzen, kurzum verkaufen – auch Häuser oder Eigentumswohnungen, es sei denn, er wohnt selbst darin. „In diesen Fällen geht das Sozialamt aber nach sechs Monaten ins Grundbuch!“ Zudem wird vorab untersucht, ob es nicht Verwandte gibt, die von Rechts wegen Unterhaltspflichten gegenüber dem Anstragsteller haben. „In diesem Fall kann der Klient auch aufgefordert werden, den Unterhalt z.B. von seinen Eltern einzuklagen.“ Ein Ansinnen, das immer wieder Betroffene vor einer Antragstellung abschrecken lässt.
Klingt nicht gerade nach dem viel zitierten „Schlaraffenland“, zumal die Antragsteller auf Herz und Nieren geprüft werden. Dazu genügt bereits ein Blick auf den Antrag, der stolze neun Seiten umfasst und dessen richtige Angaben man per Unterschrift bestätigen muss. „Werden falsche Angaben gemacht, können Strafen verhängt werden.“
Und die Behörde prüft akribischst: „Wir sind ja untereinander vernetzt. Wir haben etwa Zugang zum Zentralen Melderegister, zum Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, zu AMS-Daten etc. Aufgrund des elektronischen Aktes kann man diesbezüglich fast vom gläsernen Menschen sprechen!“
Auch die zweite große Unterstellung, demnach viele arbeitsfähige Mindestsicherungsbezieher ihren ach so bequemen Status Quo einer ordentlichen Arbeitsanstellung vorziehen, verweist Eigelsreiter ins Reich der Lügen. „Aus unserer Erfahrung liegt die Zahl jener, die das System ausnutzen, vielleicht bei zwei bis drei Prozenzt. Der Anteil ist in Wahrheit verschwindend gering! Die Menschen möchten ja arbeiten, mit Ausnahme jener, die gesundheitlich nicht können oder schon im pensionsfähigen Alter sind.“ Abgesehen davon, dass Mindestsicherungsbezieher von Gesetzes wegen verpflichtet sind, AMS-Termine, Angebote und im Idealfall vermittelte Arbeit wahr- bzw. anzunehmen, andernfalls wird die Unterstützung auf ein Mindestmaß gekürzt. „Wir überprüfen etwaige Arbeitsunfähigkeit genau, entweder über die Gesundheitsstraße der PVA oder durch den Amtsarzt. Das sind alles keine neuen Dinge, sondern das passiert schon seit Jahrzehnten so“, ärgert sich Eigelsreiter über den in der Diskussion bisweilen eingebrachten Vorwurf, es fände keine Kontrolle statt, was zugleich ein hohes Maß an Missbrauch suggeriert und die Mindestsicherungsbezieher zu einer Art „Täter“ stempelt. „Im Grunde habe ich den Eindruck, dass die aktuelle Neiddebatte in Wahrheit von anderen Problemen ablenken soll. Und die Opfer sind halt die Schwächsten der Gesellschaft.“
Das wahre Grundproblem ortet Eigelsreiter in der prekären Arbeitsmarktsituation. „Es fehlen schlichtweg Jobs. Da ist in den letzten zehn Jahren eindeutig ein Anstieg festzustellen.“ Gerade jener Personenkreis, der sich vielfach unter den Mindestsicherungsbeziehern findet – Personen mit ausschließlich Pflichtschulabschluss, keinem Berufsabschluss oder schlechten Deutschkenntnissen – ist am meisten betroffen, „wobei in den letzten Jahren eklatant auffällt, dass zusehends andere Personengruppen dazugekommen sind.“ Damit verweist Eigelsreiter auf das Phänomen, dass sich die Armutsgefährdung mittlerweile in den Mittelstand vorfrisst. Zudem sei der Anstieg der sogenannten working poor, also von Menschen, die zwar arbeiten, davon aber trotzdem nicht leben können, unübersehbar, wofür Eigelsreiter nicht nur die globale Wirtschaftsgroßwetterlage, sondern auch eine verfehlte österreichische Arbeitsmarktpolitik mitverantwortlich macht. „Anstelle faire Mindestlöhne einzuführen, was das Problem dämpfen könnte, hat die Arbeitsmarktpolitik in den letzten Jahrzehnten das glatte Gegenteil gefördert: Teilzeit wurde forciert, Scheinselbstständigkeit produziert, Billigarbeit – Stichwort Leasing – zugelassen. Davon kann man aber in 90% der Fälle nicht leben! Diese Leute sind daher praktisch auf die Mindestsicherung angewiesen, und glauben Sie mir, die würden gerne Vollzeit arbeiten gehen!“
Wie sie überhaupt gerne aus dem Prozess „Mindestsicherung“ rauskommen würden. Gerade in kleineren Kommunen kommt es noch immer vor, dass Bedürftige aus Schamgefühl die ihnen zustehende Mindestsicherung gar nicht erst beantragen, „weil sie dort direkt auf der Gemeinde den Antrag stellen müssen und dann jeder weiß, dass sie Mindestsicherung beziehen. In größeren Städten wie St. Pölten ist das leichter, da kann man diesen gleich direkt über das AMS stellen, da kennt auch nicht jeder jeden“, verweist Eigelsreiter auf das mit Armut bzw. dem Ersuchen um Hilfe oft einhergehende Schamgefühl. Dieses sei auch bei Alleinerzieherinnen, in den letzten Jahren die am schnellsten steigende Personengruppe unter den Beziehern, sowie älteren Personen stärker ausgeprägt. „Es ist ja auch wirklich eine extreme Ausnahmesituation, allein die Vorsprache, dann die Infos und Daten, die abgefragt werden. Die Personen stehen aufgrund ihrer Lebenssituation enorm unter Druck und haben pure Existenzangst.“
Seitens des Amtes versuche man „ein möglichst positives Klima zu schaffen. Umgekehrt ist aber auch der Druck auf die Mitarbeiter enorm. Die Arbeit ist im Laufe der Jahre zusehends mehr geworden und der Arbeitsalltag kann sehr belastend sein, zumal man oft auch die zum Teil tragischen Umstände kennt, wie jemand überhaupt erst in diese Situation geraten ist“, macht Eigelsreiter auf die menschliche Dimension aufmerksam.
Dass man nunmehr gerade bei dieser Personengruppe den Sparstift ansetzen möchte, „verstehe ich einfach nicht.“ Die von der ÖVP geforderte Deckelung mit 1.500 Euro für Mehrpersonenhaushalte hält Eigelsreiter „für gar nicht gut. Das Geld wird ja für die gesamte Familie gebraucht. Kürze ich nun, dann bleibt schlicht weniger Geld für die Förderung der Kinder über. Schon jetzt können diese in der Regel keine tiefergehenden Freizeitaktivitäten in Anspruch nehmen, wenn wir z.B. an den Besuch einer Musikschule u.ä. denken. Bekommt die Familie weniger Geld möchte ich nicht wissen, mit welchen Einschränkungen die Kinder dann noch leben müssen – und da geht es gar nicht nur um die Freizeitgestaltung und soziale Teilhabe, sondern zum Beispiel auch um gesunde Ernährung. Dieser Schritt liefe unserem gesellschaftlichen Ziel, gesunde, normalentwickelte Erwachsene heranzubilden, eindeutig zuwider.“
Auch der Idee, einen Teil der Mindestsicherung in Form von Sachleistungen zur Verfügung zu stellen, kann Eigelsreiter nichts abgewinnen: „Das wäre ein absoluter Rückschritt, weil wir damit auf eine Art der Leistungsgewährung zurückfallen, die vor drei, vier Jahrzehnten aus gutem Grund abgeschafft wurde. Ein Grundprinzip der Mindestsicherung ist ja Subsidiarität. Die Menschen sollen sich selbst helfen, selbst organisieren können. Werden aber nur Sachleistungen geleistet, verlernen sie den prinzipiellen Umgang mit Geld und damit die Prioritätensetzung.“
Bleibt zuletzt noch die Frage, was der nunmehrige Beschluss des Landtages, subsidiär Schutzbedürftige aus der Mindestsicherung auszuschließen, bedeuten wird? Zwar hat Eigelsreiter noch keine Informationen vom Land zu den neuen Bedingungen erhalten, „aber es heißt, dass subsidiär Schutzbedürftige, die bereits Mindestsicherung bezogen haben, dann ausschließlich auf die äußerst geringe Unterstützung der Grundversorgung zurückfallen und somit elementarste Zahlungen wie Miet- und Energiekosten nicht mehr tätigen werden können – von den zuvor angesprochenen Einschränkungen für die Kinder ganz abgesehen.“
Wie alle Sozial-Experten sieht Eigelsreiter damit eher eine Vergrößerung der Probleme als eine Verbesserung heraufdämmern: „Die Mindestsicherung in ihrer jetzigen Form mag vom Instrumentarium her vielleicht nicht ideal sein, umgekehrt fiele mir aber auch kein besseres System ein. In einer ‚sozialen Hängematte‘ leben diese Menschen jedenfalls sicher nicht – da braucht sich niemand Sorgen zu machen, dass das System ausgenutzt wird. Wir haben zahlreiche Möglichkeiten, Kontrollen durchzuführen – was allein schon schwierig für die Bezieher ist, weil wir ohnedies schon in die intimsten Bereiche ihres Lebens vordringen.“
STAND JÄNNER
Mit Jänner 2016 gab es in St. Pölten 1912 Mindestsicherungsbezieher. Von diesen waren 786 Kinder, 571 Frauen und 555 Männer. Die volle Höhe von 837,6 Euro erhalten nur ca. 10% der Bezieher.
Wir sprechen im Falle von Mindestsicherungsbeziehern jedenfalls von Menschen, die ohne Hilfe der öffentlichen Hand auf Sicht wohl in der Obdachlosigkeit landen würden. Und das möchte der Staat, also wir, aus gutem Grund vermeiden: Der nächste Schritt wäre nämlich ein möglicherweise völliges Abgleiten in Verelendung, Krankheit und – aufgrund mangelnder Perspektive – Kriminalität und Radikalität. Von der vielzitierten „sozialen Hängematte kann keine Rede sein“, ärgert sich Eigelsreiter. „Das ist alles beileibe kein Spaß für die Betroffenen!“
Im Grunde genommen ist die Mindestsicherung eben genau das, was der Name schon zum Ausdruck bringt: das Minimum, um über die Runden zu kommen. Ein Minimum, das ohnedies weit unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.161 Euro, liegt. „Deshalb stoße ich mich auch sehr an der aktuellen Neiddebatte, vor allem weil sie auf falschen Informationen und Halbwahrheiten fußt. Die Mindestsicherung ist eine rudimentäre Absicherung. Grundsätzlich, so steht es im Gesetz, soll dadurch auch die soziale Teilhabe gewährleistet werden – de facto kann man das aber mit diesem Betrag kaum!“ Soll heißen: Der für viele vielleicht selbstverständliche Kaffeehausbesuch, das neue Stück im Kleiderschrank, die morgendliche Tageszeitung, der Kinobesuch zwischendurch, die Mitgliedschaft im Sportverein, der selbstverständliche Griff zur Butter und zum Schinken anstelle der Margarine (die viele zum Glück kostengünstig im Sozialmarkt erstehen können), sind vielfach nicht drin. Jede unvorhergesehene Reparatur kann zum unlösbaren Problem werden mit dementsprechenden Existenzängsten und Stress. Vom Urlaub am Meer oder gar einem Auto, das ja auch getankt werden muss, ganz zu schweigen.
Wobei man ein Fahrzeug ohnedies nur haben darf, wenn man es zum Beispiel für den Arbeitsweg braucht. Oder – diesbezüglich ist man pragmatisch – wenn es keinen relevanten Wert mehr besitzt. Handelt es sich hingegen um ein neueres Modell „also sagen wir z.B. ein Auto im Wert von 8.000 Euro, dann muss es veräußert werden, weil es als Vermögenswert gilt“, so Eigelsreiter. De facto darf ein Mindestsicherungsbezieher Vermögen von maximal 4188 Euro besitzen, alles darüber hinaus muss er für seine Existenzsicherung einsetzen, kurzum verkaufen – auch Häuser oder Eigentumswohnungen, es sei denn, er wohnt selbst darin. „In diesen Fällen geht das Sozialamt aber nach sechs Monaten ins Grundbuch!“ Zudem wird vorab untersucht, ob es nicht Verwandte gibt, die von Rechts wegen Unterhaltspflichten gegenüber dem Anstragsteller haben. „In diesem Fall kann der Klient auch aufgefordert werden, den Unterhalt z.B. von seinen Eltern einzuklagen.“ Ein Ansinnen, das immer wieder Betroffene vor einer Antragstellung abschrecken lässt.
Klingt nicht gerade nach dem viel zitierten „Schlaraffenland“, zumal die Antragsteller auf Herz und Nieren geprüft werden. Dazu genügt bereits ein Blick auf den Antrag, der stolze neun Seiten umfasst und dessen richtige Angaben man per Unterschrift bestätigen muss. „Werden falsche Angaben gemacht, können Strafen verhängt werden.“
Und die Behörde prüft akribischst: „Wir sind ja untereinander vernetzt. Wir haben etwa Zugang zum Zentralen Melderegister, zum Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, zu AMS-Daten etc. Aufgrund des elektronischen Aktes kann man diesbezüglich fast vom gläsernen Menschen sprechen!“
Auch die zweite große Unterstellung, demnach viele arbeitsfähige Mindestsicherungsbezieher ihren ach so bequemen Status Quo einer ordentlichen Arbeitsanstellung vorziehen, verweist Eigelsreiter ins Reich der Lügen. „Aus unserer Erfahrung liegt die Zahl jener, die das System ausnutzen, vielleicht bei zwei bis drei Prozenzt. Der Anteil ist in Wahrheit verschwindend gering! Die Menschen möchten ja arbeiten, mit Ausnahme jener, die gesundheitlich nicht können oder schon im pensionsfähigen Alter sind.“ Abgesehen davon, dass Mindestsicherungsbezieher von Gesetzes wegen verpflichtet sind, AMS-Termine, Angebote und im Idealfall vermittelte Arbeit wahr- bzw. anzunehmen, andernfalls wird die Unterstützung auf ein Mindestmaß gekürzt. „Wir überprüfen etwaige Arbeitsunfähigkeit genau, entweder über die Gesundheitsstraße der PVA oder durch den Amtsarzt. Das sind alles keine neuen Dinge, sondern das passiert schon seit Jahrzehnten so“, ärgert sich Eigelsreiter über den in der Diskussion bisweilen eingebrachten Vorwurf, es fände keine Kontrolle statt, was zugleich ein hohes Maß an Missbrauch suggeriert und die Mindestsicherungsbezieher zu einer Art „Täter“ stempelt. „Im Grunde habe ich den Eindruck, dass die aktuelle Neiddebatte in Wahrheit von anderen Problemen ablenken soll. Und die Opfer sind halt die Schwächsten der Gesellschaft.“
Das wahre Grundproblem ortet Eigelsreiter in der prekären Arbeitsmarktsituation. „Es fehlen schlichtweg Jobs. Da ist in den letzten zehn Jahren eindeutig ein Anstieg festzustellen.“ Gerade jener Personenkreis, der sich vielfach unter den Mindestsicherungsbeziehern findet – Personen mit ausschließlich Pflichtschulabschluss, keinem Berufsabschluss oder schlechten Deutschkenntnissen – ist am meisten betroffen, „wobei in den letzten Jahren eklatant auffällt, dass zusehends andere Personengruppen dazugekommen sind.“ Damit verweist Eigelsreiter auf das Phänomen, dass sich die Armutsgefährdung mittlerweile in den Mittelstand vorfrisst. Zudem sei der Anstieg der sogenannten working poor, also von Menschen, die zwar arbeiten, davon aber trotzdem nicht leben können, unübersehbar, wofür Eigelsreiter nicht nur die globale Wirtschaftsgroßwetterlage, sondern auch eine verfehlte österreichische Arbeitsmarktpolitik mitverantwortlich macht. „Anstelle faire Mindestlöhne einzuführen, was das Problem dämpfen könnte, hat die Arbeitsmarktpolitik in den letzten Jahrzehnten das glatte Gegenteil gefördert: Teilzeit wurde forciert, Scheinselbstständigkeit produziert, Billigarbeit – Stichwort Leasing – zugelassen. Davon kann man aber in 90% der Fälle nicht leben! Diese Leute sind daher praktisch auf die Mindestsicherung angewiesen, und glauben Sie mir, die würden gerne Vollzeit arbeiten gehen!“
Wie sie überhaupt gerne aus dem Prozess „Mindestsicherung“ rauskommen würden. Gerade in kleineren Kommunen kommt es noch immer vor, dass Bedürftige aus Schamgefühl die ihnen zustehende Mindestsicherung gar nicht erst beantragen, „weil sie dort direkt auf der Gemeinde den Antrag stellen müssen und dann jeder weiß, dass sie Mindestsicherung beziehen. In größeren Städten wie St. Pölten ist das leichter, da kann man diesen gleich direkt über das AMS stellen, da kennt auch nicht jeder jeden“, verweist Eigelsreiter auf das mit Armut bzw. dem Ersuchen um Hilfe oft einhergehende Schamgefühl. Dieses sei auch bei Alleinerzieherinnen, in den letzten Jahren die am schnellsten steigende Personengruppe unter den Beziehern, sowie älteren Personen stärker ausgeprägt. „Es ist ja auch wirklich eine extreme Ausnahmesituation, allein die Vorsprache, dann die Infos und Daten, die abgefragt werden. Die Personen stehen aufgrund ihrer Lebenssituation enorm unter Druck und haben pure Existenzangst.“
Seitens des Amtes versuche man „ein möglichst positives Klima zu schaffen. Umgekehrt ist aber auch der Druck auf die Mitarbeiter enorm. Die Arbeit ist im Laufe der Jahre zusehends mehr geworden und der Arbeitsalltag kann sehr belastend sein, zumal man oft auch die zum Teil tragischen Umstände kennt, wie jemand überhaupt erst in diese Situation geraten ist“, macht Eigelsreiter auf die menschliche Dimension aufmerksam.
Dass man nunmehr gerade bei dieser Personengruppe den Sparstift ansetzen möchte, „verstehe ich einfach nicht.“ Die von der ÖVP geforderte Deckelung mit 1.500 Euro für Mehrpersonenhaushalte hält Eigelsreiter „für gar nicht gut. Das Geld wird ja für die gesamte Familie gebraucht. Kürze ich nun, dann bleibt schlicht weniger Geld für die Förderung der Kinder über. Schon jetzt können diese in der Regel keine tiefergehenden Freizeitaktivitäten in Anspruch nehmen, wenn wir z.B. an den Besuch einer Musikschule u.ä. denken. Bekommt die Familie weniger Geld möchte ich nicht wissen, mit welchen Einschränkungen die Kinder dann noch leben müssen – und da geht es gar nicht nur um die Freizeitgestaltung und soziale Teilhabe, sondern zum Beispiel auch um gesunde Ernährung. Dieser Schritt liefe unserem gesellschaftlichen Ziel, gesunde, normalentwickelte Erwachsene heranzubilden, eindeutig zuwider.“
Auch der Idee, einen Teil der Mindestsicherung in Form von Sachleistungen zur Verfügung zu stellen, kann Eigelsreiter nichts abgewinnen: „Das wäre ein absoluter Rückschritt, weil wir damit auf eine Art der Leistungsgewährung zurückfallen, die vor drei, vier Jahrzehnten aus gutem Grund abgeschafft wurde. Ein Grundprinzip der Mindestsicherung ist ja Subsidiarität. Die Menschen sollen sich selbst helfen, selbst organisieren können. Werden aber nur Sachleistungen geleistet, verlernen sie den prinzipiellen Umgang mit Geld und damit die Prioritätensetzung.“
Bleibt zuletzt noch die Frage, was der nunmehrige Beschluss des Landtages, subsidiär Schutzbedürftige aus der Mindestsicherung auszuschließen, bedeuten wird? Zwar hat Eigelsreiter noch keine Informationen vom Land zu den neuen Bedingungen erhalten, „aber es heißt, dass subsidiär Schutzbedürftige, die bereits Mindestsicherung bezogen haben, dann ausschließlich auf die äußerst geringe Unterstützung der Grundversorgung zurückfallen und somit elementarste Zahlungen wie Miet- und Energiekosten nicht mehr tätigen werden können – von den zuvor angesprochenen Einschränkungen für die Kinder ganz abgesehen.“
Wie alle Sozial-Experten sieht Eigelsreiter damit eher eine Vergrößerung der Probleme als eine Verbesserung heraufdämmern: „Die Mindestsicherung in ihrer jetzigen Form mag vom Instrumentarium her vielleicht nicht ideal sein, umgekehrt fiele mir aber auch kein besseres System ein. In einer ‚sozialen Hängematte‘ leben diese Menschen jedenfalls sicher nicht – da braucht sich niemand Sorgen zu machen, dass das System ausgenutzt wird. Wir haben zahlreiche Möglichkeiten, Kontrollen durchzuführen – was allein schon schwierig für die Bezieher ist, weil wir ohnedies schon in die intimsten Bereiche ihres Lebens vordringen.“
STAND JÄNNER
Mit Jänner 2016 gab es in St. Pölten 1912 Mindestsicherungsbezieher. Von diesen waren 786 Kinder, 571 Frauen und 555 Männer. Die volle Höhe von 837,6 Euro erhalten nur ca. 10% der Bezieher.