MFG - Leitschaun
Leitschaun


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Leitschaun

Text Herbert „Hebi“ Binder
Ausgabe 11/2014
Die Blätter fallen, fallen wie von weit. Herr: Es ist Zeit. Herbstwinde blasen Rilkes Verse durcheinander. November. Die Schanigärten sind weggeräumt. Man sitzt drinnen und widmet sich in platonischem Voyeurismus der Szene draußen.
Bürgerliche Geschäftigkeit, Typen, Originale. Röntgenbildträger, Schulstangler, Hausmänner mit Einkaufszettel. Elegante Musliminnen, in ihrem Outfit an die früheren Englischen Fräuleins erinnernd. Schulkinder aus allen Landesteilen, beeindruckt weniger vom Rathaus als vom Haus mit den vielen Tellern. Hochhakige, tiefblonde Botox-Testimonials aller Altersklassen. Melker auf der Suche nach ihren Autos. Das Recht auf Eigentümlichkeit ist unantastbar!
Meine Lieblinge sind die alten Prälaten. Planeten ähnlich ziehen sie ihre ewig gleichen, einander überschneidenden Innenstadt-Runden, leise lächelnd im Wissen, dass ihr Sonnensystem derzeit vielleicht etwas aus der Mode, letztlich aber für den Menschen gut ist. Niemand kann sich erinnern, jemals zwei von ihnen gemeinsam unterwegs gesehen zu haben. Man hat’s ihnen aberzogen, schon in der Seminarzeit.
Ums Eck geigen zwei Roma hinreißend „Du schwarzer Zigeuner, komm spiel mir was vor“, Text von Fritz Löhner (Löwy), mit Hermann Leopoldi auch Schöpfer des Buchenwald-Liedes. Er wurde als österreichischer Jude 1942 in Auschwitz erschlagen. Sollte, dürfte man tatsächlich den ursprünglichen Text dieses deutschen Tangos gemäß political correctness umformulieren?
Direkt ins Sinnieren kommt man so beim „Leitschaun“. Typen, Gruppen, Originale. Die Allereigentümlichsten sind ja wahrscheinlich ohnehin nicht die da draußen, sondern wir, die wir da, wie aus einem Aquarium, die wirkliche Wirklichkeit an uns vorbei ziehen lassen …