MFG - Der Tag der Wahrheit
Der Tag der Wahrheit


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Der Tag der Wahrheit

Text Althea Müller
Ausgabe 09/2008

Durchschnittlich 200 mal täglich lügen wir, wenn man einer US-Studie glauben darf. Und die meiste Zeit davon fällt es uns nicht mal mehr auf. Wie aber schmeckt dann eigentlich ein ganzer Tag randvoll mit Wahrheit?

Die Schwindelei als halblegales Mittel zum Zweck oder zur Konfliktvermeidung ist uns genauso geläufig wie die in der Psychologie „weiße Lüge“ genannte kleine Unwahrheit, die schlicht das Zusammenleben vereinfachen soll. Wenn wir somit an die 200 mal am Tag lügen, so katapultieren wir uns trotzdem nicht zwingend 200 mal in die Hölle, denn nicht jede Lüge darf als unmoralisch gewertet werden. Ja: Wer das Lügen gar nicht beherrscht, dem schreibt die Wissenschaft sogar gesundheitliche und soziale Defizite zu.

Das wahre Gesicht zeigen
Auf der anderen Seite predigen unzählige Selbsthilfebücher den Mut zur Wahrheit, zum eigenen Ich, zur frontalen Konfrontation mit sich und der Umwelt. Das verspricht, wenn schon nicht den Welt- dann doch zumindest den inneren Frieden. Anreiz genug also, um einen Tag lang das Experiment zu wagen und nur die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit zu sagen. Ohne Schummeln und Rauswinden.

8 Uhr 30
Ich bin spät dran und ein paar km/h zu schnell unterwegs, als in der Kurve ein blauer Mann auftaucht. Er wachelt mich zum Straßenrand. Meine körpereigene Ehrlichkeitsdroge beginnt langsam zu wirken und so schüttle ich – total meschugge – bereits beim Aussteigen ärgerlich den Kopf: „Es ist immer dasselbe. Uns junge Leute mit den alten Karren halten Sie auf. Die Bonzen mit ihren teuren Autos, die einen Hunderter durchs Ortsgebiet breschen, kriegen sicher nie einen Strafzettel.“ Ich starre den Polizisten so trotzig. Er ist ein wenig erstaunt. „Die Bonzen? Haben Sie denn Vorurteile?“ „Ein bisschen“, sage ich, weil ich ja nicht lügen darf. Die überraschende Reaktion: „Fahren’S halt weiter, aber das nächste Mal langsamer.“ Im nächsten Moment sitze ich wieder hinterm Lenkrad und zittere wie Espenlaub. Das ist ja erstaunlich gutgegangen!

Fazit: Mit Polizisten gesellschaftskritische Diskussionen loszutreten, kann gut gehen. Muss es aber nicht. In Zukunft bleibe ich lieber wieder beim waidwunden Rehblick.

9 Uhr 10
Etwas zu spät erscheine ich im Büro. Eine periphere Kollegin wünscht mir am Gang einen guten Morgen. „Sch***-Morgen, eher“, antworte ich ehrlich. Sie blickt erst leicht befremdet, taut dann aber auf und erzählt, dass es ihr selbst auch nicht so gut gehe, weil blahblah. Das ist zuerst noch nett, artet aber schließlich aus: Ich sollte schon längst am Schreibtisch sitzen, doch die Litanei hört nicht auf.

Fazit: Auf Oberflächlichkeit zu pfeifen, kann Nähe schaffen. Schlimmstenfalls jedoch zuviel.

13 Uhr
Die Chefin fragt mich, warum ich später gestartet habe. Ich muss ihr sagen, dass ich mich schlicht verquatscht habe. Viel lieber hätte ich von Kopfweh oder einem dramatisch hängen gebliebenen Lift geredet, aber so was ist heute tabu. Ergebnis: Ärgerlicher Rüffel. Sonst aber auch nichts. Und prinzipiell fühle ich mich trotz Anschiss besser, als wenn ich gelogen hätte.

Fazit: Fehler zuzugeben macht keinen Spaß, hebt aber das Selbstwertgefühl.

16 Uhr
Telefonat mit Onkel Ed. Er mokiert sich mal wieder über das System. Normalerweise gebe ich ihm recht bzw. sage gar nichts dazu, weil er ja wirklich ein lässiger alter Typ ist. Heute aber – Fehlanzeige. Der Sag-die-Wahrheit-Alarm schaltet sich ein. „Ganz ehrlich“, sage ich, „wenn es dir hier nicht passt, wieso wanderst du nicht aus? Mich nervt dein ewiges Gejammere.“ Beleidigte Leberwurst am andren Ende der Leitung. Ich würde jetzt gern lügen und sagen, dass ich es nicht so gemeint habe. Da das nicht geht, muss ich jetzt noch eine geschlagene halbe Stunde über die Vor- und Nachteile des österreichischen Rechtssystems debattieren.

Fazit: Nahestehenden Menschen die Meinung zu sagen, ist einerseits mühsam. Andererseits ein Zeichen von gegenseitigem Respekt: Ich will deine Meinung hören, weil du mir wichtig bist. Ja, auch, wenn es eine halbe Stunde dauert.

19 Uhr
Die schwerste Probe. Stippvisite bei Verwandten. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und lasse einige Bemerkungen fallen, z. B. über eins der Kinder, das unglaubliche Wörter kennt oder darüber, dass ich den Witz jetzt eher untergriffig fand. Obwohl ich vor Angst fast vergehe, sind die Reaktionen aber nicht tödlich, sondern genauso ehrlich: Ich selbst hätte ja keine Kinder, wüsste also nicht, wie schwer es sei, sie zu erziehen. Und meine Scherze lägen auch nicht immer über der Gürtellinie.

Fazit: Sich mit der Verwandtschaft anzulegen, bedeutet, auch selbst gehörig was einstecken zu müssen. Aber solang man weiterhin gemeinsam am Tisch sitzen kann, ohne sich gegenseitig zu verspeisen, ist es trotzdem – oder grade deswegen – ein erbauendes Gefühl.

22 Uhr
Das letzte Exempel – Treffen mit Lieblingsfreundin Sil, gemeinsames Aufbrezeln zum Ausgehen. Als Ziel haben wir ein gar düst’res Event ausgewählt. Problem 1: Ich bin seit etwa hundertzehn Jahren nicht mehr „gothic“. Problem 2: Sil ist es seit ihrer Geburt und wird es immer bleiben. Wie der Suppenkaspar am Tisch bin ich darum nun gezwungen, ihr das mir liebevoll aufgedrängte Nietenhalsband zurückzuschießen – nein, ich esse meine Suppe nicht. Sie passt mir nicht mehr. Ich komme mir blöd vor. Und außerdem bin ich kein Hund. Kurzer Schlagabtausch, danach aber ist Ruhe. Und eine seufzende Sil gesteht mir ein unscheinbares Outfit zu, in dem ich mich dafür sauwohl fühle.

Fazit: Sich nicht zu verkleiden, sondern zu sich selbst zu stehen – auch wenn man einfach nur fad sein will – garantiert Pudelwohlfühlfaktor.

„Und übrigens“, sagt Sil zuckersüß, als wir versöhnt – sie top gestylt, ich gar nicht – Richtung Festivität fahren, „finde ich, dass du mal wieder trainieren gehen solltest.“

Fazit, Freunde: Vorsicht! Ehrlichkeit wirkt offensichtlich ansteckend…