MFG - Menschlichkeit und Vernunft
Menschlichkeit und Vernunft


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St. Pöltens gute Seite

Menschlichkeit und Vernunft

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2015
Der berühmte österreichische Psychiater Viktor Frankl, der – nicht aus Österreich fliehend – die Gräuel des Konzentrationslagers erleiden musste und zahlreiche Verwandte durch Mord verlor, betonte stets, dass das Leben Herausforderungen stellt und der Mensch darauf zu antworten, ja sein Leben zu „ver-antworten“ hat. Nicht anders ergeht es dem Staat, dem Kollektiv von Menschen – auch diesem werden Aufgaben gestellt, Aufgaben wie etwa die aktuelle Flüchtlingssituation. Und wie der einzelne, so muss auch der Staat insgesamt darauf antworten und dieses Handeln ver-antworten.
Österreich ist nicht zum ersten Mal vor diese Herausforderung gestellt und es hat darauf immer – egal ob im Zuge der Ungarnkrise 1956, dem Prager Frühling 1968, dem Ausruf des Kriegsrechts in Polen 1981, den Balkankriegen in den 90ern oder späteren Konflikten – eine eindeutige Antwort, ja Haltung gehabt: Wir helfen!
Österreich hat es früher vielleicht sogar selbstverständlicher getan, weil seine im Weltkrieg geprägten Bürger noch wussten, was das bedeutet – Krieg, Elend, Hunger, Tod, Angst. Auch weil sie wussten, was es heißt, verfolgt zu werden oder zu verfolgen. Über 130.000 Österreicher sind in den 30er-Jahren geflohen, fanden in anderen Staaten Unterschlupf, Hilfe. Viele begannen dort ein neues Leben. Jene, denen die Flucht nicht gelang, waren zumeist zum Tode verurteilt: Über 110.000 Menschen wurden Opfer ihres eigenen Staates und seines Terrors.
Dabei war die Situation für jene, die damals flohen, so traumatisch wie für die Flüchtlinge heute. Stefan Zweig etwa, der ins Exil gehen musste, schreibt in „Die Welt von gestern“: „Und dann standen sie an den Grenzen, dann bettelten sie bei den Konsulaten und fast immer vergeblich, denn welches Land wollte Ausgeplünderte, wollte Bettler?“ Da war die Hoffnung, da war das Bangen, die Rettung oder die Verdammnis. Jene, die man abwies, wurden ihren Mördern ausgeliefert, so dass auch der Flüchtling Bruno Kreisky bei seinem Asylantrag in Kopenhagen flehend feststellte: „Wenn Sie mich jetzt zurückschicken, liefern Sie mich den Leuten aus, denen ich gerade entkommen bin.“
Und genau weil man aus der Geschichte gelernt hatte, weil die Lage für viele Flüchtlinge – damals vor allem aus Deutschland, Österreich, später ganz Europa – während des Zweiten Weltkrieges prekär, willkürlich, ungewiss war, beschloss die Staatengemeinschaft 1951 den Status von Flüchtlingen, ihre Rechte, ihre Pflichten, ihren Schutz in ein „Abkommen zur Rechtsstellung der Flüchtlinge“ zu gießen, das besser bekannt ist als „Genfer Flüchtlingskonvention“. Österreich hat diese – wie 146 weitere Staaten – unterzeichnet und sich damit völkerrechtlich verpflichtet, Flüchtlinge zu schützen. So, wie es vielen Landsleuten auf der Flucht ergangen war, so sollte es anderen Verfolgten nicht mehr ergehen.
Dieser Verpflichtung sind wir immer nachgekommen, und das hat mich bereits als junger Mensch – der als Nachgeborener historische Momente wie ‘56 oder ‘68 gar nicht miterlebt hatte – immer stolz gemacht auf dieses Land und seine Bürger.
Und selbst wenn schon früher, 1968, die Politik bisweilen zauderte, gab es Mutige wie z.B. den damaligen Gesandten in Prag, Rudolf Kirchschläger, der wider der Anweisung aus Wien weiter VISA für die Tschechoslowaken ausstellte, bis die Regierung  auch begriff, worum es geht: Menschenleben! Die Bürger standen ohnedies mit offenen Herzen bereit.  
Während der Balkankriege halfen wir wieder, und es machte mich nicht minder stolz, dass den Hetzern, die versuchten die Armen unseres Landes gegen DIE Ausländer auszuspielen und per Volksbegehren „Österreich zuerst“ forderten, die Mehrheit der Bevölkerung das Lichtermeer entgegensetzte.
Und heute? Geben wir uns selbst die Chance, wieder stolz auf uns zu sein, als eine Insel der Seligen,  wie Papst Paul VI Österreich einmal bezeichnet hat.Freilich nicht im unrealistischen Sinne, weil wir von all den Problemen, die da draußen durch die Welt stieben und im Inneren glosen, verschont blieben – sondern weil wir auf die Herausforderungen, die uns das Leben stellt, die richtigen, verantwortungsvollen Antworten geben, die v.a. auf zwei Grundpfeilern ruhen: Menschlichkeit und Vernunft.