MFG - Gurkenkrümmung
Gurkenkrümmung


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St. Pöltens gute Seite

Gurkenkrümmung

Text Johannes Reichl
Ausgabe 03/2019
Europa schrankenlos“ lautete der Titel jener Ausstellung am Vorabend des österreichischen EU-Beitritts, mit der St. Pölten 1994 nicht nur sein Europaengagement, sondern auch seine hoffnungsvollen Erwartungen an ein vereintes Europa zum Ausdruck brachte. Viele davon hat die EU erfüllt.Es ist daher geradezu irrwitzig, wenn heute von manchen noch immer alte Hüte wie die Gurkenkrümmung im Mund und als „Argument“ gegen die EU geführt werden. Abgesehen davon, dass Österreich schon in den 1960ern die Gurkenkrümmung geregelt hatte und die EU selbige 2009 auslaufen ließ, verhält es sich damit in etwa so, als würde man Marcel Hirscher nach 8 Gesamtweltcupsiegen, 7 mal WM-Gold und 2 mal Olympiagold vorhalten, dass er beim Nachtslalom in Schlad­ming 2015 aber schon das 7. Tor ein bisserl zu direkt angefahren ist.Symbolisch steht die Gurkenkrümmung freilich für die Grundausrichtung der EU am Kapitalismus (denn die Gurken sollen ja gerade sein, damit möglichst viel in eine Schachtel passen – so banal ist das). Das mag nicht unbedingt romantisch klingen, hat sich aber als Grundvehikel bewährt: Wirtschaftliche Vernetzung bedeutet nämlich gegenseitige Abhängigkeit! Und diese wiederum, so hatten es Robert Schumann und Konrad Adenauer 1951 im Sinn, als sie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl – quasi die Mutter aller europäischen Vergemeinschaftungsschlachten – aus der Taufe hoben, beugt Krieg vor. Europa ging freilich noch einen entscheidenden Schritt weiter, und der erst machte es wirklich zur Erfolgsgeschichte und zum großen Friedenswerk: Es entwickelte das anfangs kühle supranationale Wirtschaftskonstrukt zur Wertegemeinschaft weiter und schrieb ihm eine Erzählung, ja eine Seele ein, die im Artikel 2 des Vertrages von Lissabon, für alle Mitglieder verpflichtend, niedergelegt ist: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Was für eine Botschaft! Eingedenk der Tatsache, dass der Homo sapiens ein neidvolles Wesen ist und der Vergleich der Tod jeglicher Zufriedenheit hat man sich zudem gemeinsame verbindliche Standards verordnet. Sie sollen auf Sicht einen Ausgleich schaffen und das aktuell noch bestehende Gefälle innerhalb der Gemeinschaft erträglich machen: Deshalb zahlen die Reichen etwa mehr als die Armen, deshalb haben EU-Bürger – egal wo sie in der EU arbeiten – im jeweiligen Mitgliedsland nicht nur dieselben Pflichten (z. B. Steuern), sondern auch dieselben Rechte – also z. B.  Anspruch auf die landesübliche Kinderbeihilfe! Wer willkürlich einzelne Leistungen verwehrt und einseitig diskriminiert, stellt damit das gesamte Grundkonstrukt der EU in Frage und leistet gefährlichen Kettenreaktionen Vorschub. Vor allem begreift er nicht das große Ganze dahinter, das auf Solidarität und Gemeinschaft aufbaut.Und da schließt sich der Kreis zu Europa schrankenlos, dieser großen Hoffnung, die in Form der EU aber ein ganz konkreter und bislang erfolgreicher Gegenentwurf, ja eine Antwort auf zwei verheerende Weltkriege ist.Genau davon müssen wir den Menschen erzählen, vom Friedensprojekt EU, von ihrer Seele, und davon, wie diese wirkt, und zwar ganz konkret bei uns. Deshalb ist auch das Motto St. Pöltens zur Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt gut gewählt: „Europa daheim“. Und wenn mir jetzt noch einmal jemand mit der Krümmung der Gurken kommt, muss ich ihm selbige leider – freilich nur im übertragenen Sinne – auf die Birne knallen. Dann ist sie bestimmt krumm.