Emil, ein Sommermärchen
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
09/2025
Es war einmal ein kleines, beschauliches Städtchen, das wurde alljährlich vom berühmt-berüchtigten Sommerloch heimgesucht. Dann stöhnten die Leute „Ach, es ist so gar nichts los. Es ist soooooo fad“, obwohl ihnen das insgeheim gar nicht so schlecht gefiel. Aber so sind die Menschen – immer sehnen sie sich nach dem, was sie gerade nicht haben. Denn war einmal etwas los, rollten sie mit den Augen und klagten ganz leidend: „Ich halte das alles nicht mehr aus, ich bekomme ein Burnout!“ Aber diesen Sommer passierte dann doch etwas, was das Sommerloch ganz schnell verscheuchte: Emil, der Elch tauchte auf. So mir nichts dir nichts war er auf einmal da – mitten in der Stadt! Und veränderte sie ein bisschen … Alle wollten den Emil sehen. Und so konnte es schon vorkommen, dass die Leute wie an einer Kette aufgefädelt entlang eines Zaunes lehnten und dem Emil dabei zuschauten, wie er in einem Garten das tat, was er am liebsten machte: essen. Da stand die Frau Anwalt neben dem Schichtarbeiter, ein junger Syrer neben einem Bauern aus dem Pielachtal, ein Skater im Schlabberlook neben einer elegant gekleideten Lady, eine Veganerin neben einem gestandenen Biker und so weiter. Ein richtig bunter Haufen war das. Nur ab und zu schauten sie auf, und wenn sich ihre Blicke trafen, mussten sie unvermittelt lächeln und fühlten sich einander irgendwie verbunden. Das machte der Emil, der auf seine Art auch ein Zauberer war, obwohl er das glaub ich gar nicht wusste. Natürlich gab es auch die Miesepeters, die mit erhobenem Zeigefinger schimpften „Lasst den Elch in Ruhe“ oder sich mokierten „So ein Theater um einen Elch“ – interessanterweise wussten die aber immer ganz genau Bescheid, wo der Emil gerade steckte und was er wieder für Schabernack getrieben hatte. Die Schaulustigen wollten dem Emil bestimmt nichts Böses, ganz im Gegenteil hielten alle brav Abstand, wie es der Tierschutzverein empfohlen hatte. Sie wollten ihn nur ein bisschen beobachten, so von der Ferne aus und, okay, vielleicht auch das ein oder andere Selfie schießen – „ein Elch in St. Pölten“, flüsterten sie einander dann selig zu, und wieder spürten sie eine Art Einverständnis. Emil machte im Übrigen nicht wirklich den Eindruck, als ob ihn dieser Hype großartig stören würde. Der trabte einfach nur munter drauf los, wohin ihn gerade seine Hufe trugen, tauchte mal in einer Siedlung auf, ein andermal mitten auf der Straße, und war er einmal für ein paar Stunden verschwunden, weil er wahrscheinlich ein Nickerchen hielt oder so, titelten die Zeitungen sofort panisch „WO IST EMIL?“ Einmal setzte er sich sogar auf die Gleise der Westbahn – das war dann vielleicht nicht sooooo super, aber selbst das verziehen ihm die meisten. „Naja, der Emil halt!“, sagten sie nachsichtig, „was soll man da machen?!“ Die ÖBB informierten nur ihre Kunden, dass der Verkehr „wegen Tieren im Gleisbereich (Emil)“ gesperrt sei. Die brauchten tatsächlich nur seinen Namen erwähnen, und schon wussten alle „Ah, Emil der Elch!“, so berühmt war er! Sogar eine eigene Facebook-Gruppe hatte er mit Tausenden Followern, und oft wurde er – wie ein Superstar – von der Polizei eskortiert, die ein bisschen auf ihn aufpasste. Immerhin wusste ja keiner so recht, ob der Emil einen Führerschein hatte und die Verkehrsregeln kannte – seinem Verhalten nach eher nicht.So war das mit dem Emil, und dann, von einem Tag auf den anderen, war er so schnell fort wie er aufgetaucht war. Die Reihen der Schaulustigen lösten sich auf, jeder ging wieder seiner eigenen Wege, und bald machte sich nicht nur das Sommerloch wieder breit, sondern auch eine gewisse Kälte. Wo man sich eben noch in Verbundenheit angelächelt hatte, beäugte man einander wieder misstrauisch und grantelte vor sich hin … Schade eigentlich. Und Emil? Wenn er nicht gestorben ist – wie es am Ende jedes ordentlichen Märchens heißen muss – dann wandert er hoffentlich noch immer froh und munter durch die Gegend und bringt die Leute zusammen. Vielleicht sitzt er ja gerade beim Heurigen, oder er blockiert die Franz-Josefs-Bahn … wer weiß das schon. Der Emil halt!



