MFG - Das Böse unter der Sonne St. Pöltens
Das Böse unter der Sonne St. Pöltens


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Das Böse unter der Sonne St. Pöltens

Text Michael Müllner
Ausgabe 12/2008

Seit Monaten sitzt Josef Fritzl in St. Pölten in U-Haft und wartet auf seinen Prozess. Anfang nächsten Jahres soll es so weit sein, dann wird die Weltpresse, angelockt vom Bösen, wie ein Tsunami über die Stadt hereinbrechen - nicht zum ersten Mal.

Es sind v. a. zwei Fälle, die St. Pölten vor 30 bzw. 50 Jahren zum Schauplatz des Grauens   in der Presse mutieren ließen, die stets ihren Fokus dort hinrichtet, wo die Sensation in der Luft liegt, selbst wenn diese noch so perfid und krank ist – oder gerade deswegen. Der Fall Gufler und der Fall Kniesek.
Blaubart Max Gufler
Es klingt grotesk. Aber der größte Kriminalfall St. Pöltens feiert heuer Jubiläum. Am 31. Oktober 1958, also vor 50 Jahren, richtet das Landesgendarmeriekommando Kärnten das Ersuchen an die Polizei St. Pölten, den in der Stadt wohnhaften Waschmaschinenvertreter Max Gufler, damals 48 Jahre alt, wohnhaft am Kupferbrunnberg, über den Aufenthalt einer abgängigen Maria Robas zu befragen. Damit wird einer der größten Kriminalfälle der Zweiten Republik losgetreten. Titelt die St. Pöltner Zeitung am 6. November 1958 noch fragend „Ist Max Gufler ein Massenmörder?“, so ist man bei Prozessbeginn im April 1961 davon überzeugt „Massenmörder Gufler rechnet mit lebenslänglich“.
Auch ein „Spitzname“ wird Gufler rasch beigestellt: Blaubart, benannt nach dem Märchenkönig Blaubart, der seine Frauen aus Habgier ermordet und in einer Kammer versteckt versteckt. Ja, Gufler selbst wird zum „Märchenkönig“, eine regelrechte Gufler-Mania bricht aus, wie sich etwa der ehemalige Landesgerichtspräsident Dr. Alfred Anzeletti erinnert. „Gufler hatte auch meine Tante eine Zeitlang im Visier, deshalb kannte ich ihn persönlich. Er war an sich ein völlig unauffälliger Mann, nicht groß, nicht unsympathisch, mit sehr guten Umgangsformen, eloquent. Als seine Geschichte aufflog, war das DIE Sensation. Das ging bis hin zu Witzen, etwa, dass Gufler von der Sozialversicherung engagiert ist, damit diese den Witwen nicht so lang Pension zahlen muss.“ Im Spiel Räuber und Gendarm spielen Kinder Gufler, und in die Alltagssprache findet die Drohgebärde „Hör auf, oder ich spiel den Gufler“ Eingang. Späterhin fehlt der Fall in keinem Buch über historische Kriminalfälle, die Titel wie „Gassner, Gufler & Co.“ tragen, und Doris Plank arbeitete den Fall 2004 für die ORF Reihe „Tat-Sachen“ auf.
Guflers Fehler
Plank hat auch die ehemaligen Polizisten Johann Haiden und Hubert Gnad für die Sendung befragt, die direkt in den Fall involviert waren. „Als die Meldung aus Kärnten kam, setzte sich mein Kollege Brunntaler auf sein Moped. Dienstfahrzeuge waren in der Zeit noch Mangelware. Er ist zur Wohnung von Max Gufler gefahren, den er ja kannte, und mit ihm am Sozius des Mopeds zum Polizeiposten gefahren.“
Dort konfrontiert man Gufler mit einer eigenartigen Geschichte: Der Ex-Mann von Maria Robas hat ein Schreiben von einem Dr. Eberharter aus München (wie sich später herausstellen wird, hat Gufler dieses fingiert) erhalten, wonach seine Frau bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt sei. Doch auf Nachfrage wird dem Ex-Mann mitgeteilt, dass den Behörden von einem Unfall nichts bekannt ist. Er erstattet Anzeige.
Bei den Nachforschungen erfährt die Polizei, dass Maria Robas mit einem Mann in Urlaub gefahren sei, aus dem sie bislang nicht zurückgekehrt ist. Zuvor hat sie noch ihre Sparbücher aufgelöst, ihre Wohnung geräumt und wollte bei einem Fleischermeister (sie ist in Begleitung des Mannes) ein Darlehen eintreiben, der ihr allerdings die Rückerstattung des zweiten Teiles für einen späteren Zeitpunkt zusagt. Zu diesem zweiten Termin erscheint der Mann ohne die Frau – und begeht einen Fehler. Der Fleischer braucht zur Löschung des Darlehens im Grundbuch nämlich die Unterschrift von Robas, die der Mann nicht erbringen kann. Der Fleischer händigt schließlich zwar das Geld aus, besteht aber auf die Hinterlegung eines Dokuments zur Sicherstellung – der Mann hinterlässt den Zulassungsschein seines grünen DKW, lautend auf das Kennzeichen N 153.098. In der Zwischenzeit wird eine im Reifnitzbach gefundene Leiche als Maria Robas identifiziert. Über den Zulassungsschein eruiert man den Namen ihres letzten Begleiters: Maximilian Gufler aus St. Pölten.
Der volle Turnsaal
In St. Pölten führt man eine Hausdurchsuchung in Guflers Wohnung sowie einer angemieteten Garage durch und stellt zahlreiche Gegenstände von Robas sicher. „Der Mord an Maria Robas war bald geklärt, aber was wir bei der Hausdurchsuchung in der Mansardenwohnung des Max Gufler noch alles gefunden haben, war enorm. Gufler war entweder ein Sammler oder er hatte mehr am Kerbholz“, erinnert sich Haiden. Über 3.500 Gegenstände werden sicher gestellt: Waschmaschinen, Mäntel, Schmuckstücke, Gebisse etc. Das ganze Material wird in der Turnhalle der Polizei verstaut, woran sich auch der ehemalige Kriminalpolizist Johann Mayerhofer erinnert. „Der Turnsaal, wo heut die Garagen sind, war bis oben hin vollgeräumt. Und bei einem Kollegen ist lange das Führerscheinbild vom Gufler gehangen.“ Auch der DKW Guflers bleibt in Erinnerung, wie der ehemalige Kriminalbeamte Joe Summerer ausführt. „Ich kann mich noch erinnern, in Wien in der Marokanergasse, da stand im Exerzierhof der erbsengrüne DKW von Gufler – den hat dann ein Kollege aus Pottenbrunn gekauft.“
Der Fall kommt in die Medien, viele Personen melden sich, zahlreiche Gegenstände werden mit anderen abgängigen Frauen in Verbindung gebracht. Gufler leugnet jeglichen Mordzusammenhang. „Gufler hatte es leicht. Es waren an die zehn Beamten bei den Befragungen beteiligt. Er erzählte jedem etwas anderes. Und für uns war es schwer: Es war der erste länderübergreifende Mordfall in der Kriminalgeschichte Österreichs“, so Haiden.
Chiffre Glücksfahrt
Trotzdem kommt man dem Täter allmählich auf die Spur. Bei den exhumierten Leichen wird immer wieder ein Schlafmittel nachgewiesen: Somnifen, das in stärkerer Dosierung zur raschen Bewusstlosigkeit führt. Mit selbigem sind zahlreiche Flaschen von Guflers Bar versetzt. Und nun kann man allmählich rekonstruieren.
Unter der „Chiffre Glücksfahrt“ hat sich der als nett und höflich geltende Mitvierziger via Zeitungsannoncen an betuchte Witwen herangemacht, denen er eine gemeinsame Zukunft verspricht. In weiterer Folge versucht er, das Hab und Gut der Damen an sich zu bringen. Sobald er seine Schäflein im Trockenen wähnt, lädt er sie zu einer „Liebesfahrt“ ein, stößt mit ihnen auf die gemeinsame Zukunft an – nur dass der Damen-Likör (er selbst trinkt ein anderes Getränk, „weil der Likör zu wertvoll ist“) mit Somnifen versetzt ist. Die Frauen werden bewusstlos. Drei von ihnen legt er daraufhin in Bäche oder Seen, ein Opfer erdrosselt er mit einem Schal.
Letztlich können Gufler vier Morde nachgewiesen werden, wobei der damals zuständige Gerichtsmediziner Prof. Gottfried Machata im ORF-Interview noch mehrere vermutet. „Wir haben im Fall Gufler insgesamt sieben Leichen untersucht. Die älteste lag sieben Jahre im Erdgrab. Wir konnten in allen Fällen Somnifen nachweisen! Der Staatsanwalt hat sich aber auf die sichere Seite begeben und nur vier Fälle angeklagt. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass mehr Verbrechen geschehen sind.“ Zu den Morden kommen noch zwei Mordversuche. So meldet sich ein gewisser Richard Wagner, Schmuckvertreter. Er wurde, weil Gufler an seinen Schmuck herankommen wollte, ebenfalls vergiftet. Als Wagner auf der Fahrt erwacht und aus dem Auto springt, überrollt ihn Gufler dreimal und fährt davon. Doch Wagner überlebt. Auch der Juwelierhändler Karl Kovaricek erkennt in Gufler den Mann, der ihn bei einem Überfall 1951 niedergeschossen hat.
 
Lebenslänglich
Bis zuletzt spielt Gufler Katz und Maus, gibt Delikte zu, um sie dann wieder zu widerrufen. „Gufler war verstockt und doch sehr redegewandt irgendwie. Er hat nur das zugegeben, was klar am Tisch gelegen ist. Das hat er dann sozusagen zugeben müssen“, so Gnad gegenüber dem ORF. Die Staatsanwaltschaft spricht diesbezüglich von einer „Taktik“ und ortet eine „in gewisser Hinsicht dumme Schläue und geistige Primitivität“. Auch für den Gerichtspsychiater ist Gufler schwer fassbar, weil „er ist kein Triebverbrecher, der etwa aus einem abnormen Sexualtrieb heraus einen Mord begeht. Gufler betrachtet Mord als Einnahmequelle, er betreibt seine Verbrechen zu Erwerbszecken.“ Dies mit erschreckender Kaltschnäuzigkeit, wie sich Haiden erinnert. „Gufler bezeichnete den Mord an der Zeitungsträgerin aus Fohnsdorf als seinen traurigsten: Bei ihr sei nichts zu holen gewesen und es habe ihm ums Benzingeld leid getan.“
Zwischenzeitig behauptet Gufler auch, Geständnisse nur gemacht zu haben, um seine Lebensgefährtin zu schützen und weil ihm die Polizei versprochen habe, dass er zu Weihnachten im Gefängnis ein Wiener Schnitzl mit Gurkensalat bekommt.
1961 steht Gufler vor Gericht. Die Beweislage ist erdrückend, dennoch bestreitet er bis zuletzt die Mordtaten: „Ein Betrüger bin ich wohl, aber gemordet habe ich nicht!“ Die Geschworenen verurteilen ihn dennoch zu lebenslanger Haft mit Dunkelhaft am jeweiligen Jahrestag der Morde. 1966 stirbt Gufler an Magenkrebs im Gefängnis Stein. Als Blaubart von St. Pölten lebt er in der Historie weiter.
Werner Kniesek
In eine gänzlich andere Sphäre taucht man mit dem Fall Werner Kniesek ein, über den der im Fall Gufler involvierte Kriminaloberst Mallek 1980 in einem NÖN-Interview meint: „Massenmörder Gufler war im Vergleich zur Brutalität von Kniesek noch ein Kavalier!“ Wie das? Es sind vor allem die angesprochene Brutalität, die Willkür, der Sadismus Knieseks, die die Menschen zutiefst verstören. Der damals involvierte Kriminalbeamte Franz Schweighofer meint sodenn, „Das war sicher das Ärgste in meiner Karriere!“, und der damalige Prozess-Staatsanwalt Dr. Peter Lanzrath bekennt: „Das war eine unvorstellbare Tat. In vielen Fällen beginnt man zu verstehen, wie es zur Tat gekommen ist. Kniesek hingegen werde ich nie begreifen!“ Auch Dr. Anzeletti konstatiert. „Man ist entsetzt. Als normaler Mensch kann man dazu eigentlich keinerlei Zugang finden! Und man denkt darüber nach, ob eine Freiheitsstrafe für ein derartiges Delikt anzuwenden, nicht zu dürftig ist.“
Auch Kniesek wird medial gehypt. Der Regisseur Gerald Kargl dreht, vom Kniesek Fall „inspiriert“, den Kinofilm „Angst“, und als der Mörder im Juli 1980 im Gerichtssaal sitzt, drängt sich draußen die internationale Presse, was NÖN-Chefredakteur Hans Ströbitzer kritisch hinterfragt: „Inzwischen geht in St. Pölten der ‚Tanz der Reporter um das schwarze Schaf der Gesellschaft’ weiter. In den Reigen haben sich die Vertreter deutscher, französischer und italienischer Zeitungen eingeschaltet. Ja, sogar die englische Television eilte nach St. Pölten, damit sich die Fernseher des britischen Königreiches den Anblick des österreichischen Massenmörders nicht ‚ersparen brauchen.’ Alles in allem kommt mir vor: Das ist ein bisschen viel Publicity um einen Mörder!“ Es offenbart aber auch eine gewisse Malaise, denn selbst die Medienkritik verkommt letztlich zum Echo auf das unglaubliche Verbrechen.
Winter in St. Pölten
15. Jänner 1980. Der 33jährige Werner Kniesek tritt, ein Monat vor seiner Entlassung, einen dreitägigen Hafturlaub an, um – so die offizielle Begründung – auf Arbeitssuche zu gehen. Seit langem schnappt er wieder die Luft der Freiheit, saß er doch Jahre seines Lebens hinter Gittern – von Jugend an. Nachdem er bereits als 13jähriger Schüler im Heim einen Mitzögling attackiert, „um ihn zu töten“, wie er 1980 aussagen wird, sticht er als 16jähriger 1962 seine eigene Mutter nieder. Zwar meint er bei seinem ersten Geständnis 1980 „ohne Grund“, im Zuge der Untersuchungen wird aber ein prinzipieller Hass gegen Frauen evident, der seinen Ursprung u. a. in der Verführung des damals erst 13jährigen durch eine Freundin der Mutter haben dürfte, die den Buben zu sexuellen, sadistischen Handlungen  nötigt. Das werden die Gutachter später analysieren, ebenso wie sie einen „seit Jahren bestehenden triebhaften Sadismus“ konstatieren. Nach seiner Entlassung 1966 begeht Kniesek verschiedene Diebstähle. 1972 folgt die nächste Gewalteskalation. Kniesek schießt in Salzburg eine ihm völlig unbekannte 73 jährige Pensionisten nieder. Wegen Mordversuch geht er abermals hinter Gitter. Seinen „Drang, Personen zu töten“ verliert er in all den Jahren nicht, den er folgender Weise beschreibt: „Starke Kopfschmerzen im Stirnbereich, gelber Schein vor Augen, der immer greller wurde, und eine Stimme in mir sagte ‚Ich muss jemanden langsam qualvoll töten’, eine 2. Stimme sagte ‚nein!’“
Als er im Jänner 1980 seinen Hafturlaub antritt, geht er schon mit dem Vorsatz hinaus, diesen Drang endlich zu stillen. Kniesek fährt nach Wien, wo er sich in einer Pension einquartiert. Im Laufe des Tages kauft er eine Schreckschusspistole, Klebeband, Mullbinden u. a., die er in einem schwarzen Aktenkoffer verstaut.
Am 16. Jänner dringt er in Hietzing in zwei Häuser ein, verlässt diese aber wieder, nachdem niemand zuhause ist. Schließlich fährt er nach St. Pölten. Warum, „könne er nicht sagen, weil er dort an sich niemanden kennt und auch mit der Örtlichkeit nicht vertraut sei.“
In St. Pölten, es ist gegen 15 Uhr, gibt er sich als Teppichvertreter aus und lässt sich mit dem Taxi in eine Nobelgegend führen – der Taxler setzt ihn am Kupferbrunnberg aus. Dort läutet Kniesek bei zwei Häusern an, einmal öffnet eine Dame. Ihr Glück: Sie führt einen Hund an ihrer Seite. Kniesek geht wieder. Nachher wird man sich an den Mann erinnern, die erste Täterbeschreibung lautet: „Ca. 40 Jahre alt, 180 cm groß, schlanke Gestalt, gewellte, lichte Haare. Der Mann trug einen dunkelgrauen Mantel und hatte einen schwarzen Aktenkoffer bei sich. Es soll sich um eine gepflegte Erscheinung gehandelt haben.“
Das Martyrium
Als Kniesek im 1. Stock eines Hauses einen Mann am Fenster erblickt, dringt er in das Haus ein. Wie sich herausstellt handelt es sich um den behinderten, an den Rollstuhl gefesselten Walter Altreiter. Von ihm erfährt Kniesek, dass auch Mutter und Schwester im Haus leben und shoppen sind.
Als die beiden Frauen gegen 18 Uhr heimkehren, erwartet sie Kniesek mit gezückter Pistole und fesselt sie anschließend auf Stühlen im Wohnzimmer. „Ich habe den Frauen gleich gesagt, dass ich alle drei töten werde.“
Dann beginnt er die Frauen zu quälen und zu misshandeln. Tochter Ingrid entkleidet er vor den Augen der Mutter, fesselt sie mit verschiedenen Gegenständen wie Stoffteilen, Schals, Gürtel, Gummikabel, und schlägt sie auch damit. Auf die Frage, warum er nicht auch die Mutter misshandelt habe, gibt Kniesek später zu Protokoll, weil „sie durch Ansehen der Tochter seelisch mehr leidet.“ Als die herzkranke Frau in Bewusstlosigkeit zu fallen droht, erlaubt Kniesek Tochter Ingrid, ihr Tabletten zu verabreichen, freilich nicht aus Mitleid, sondern weil er erreichen wollte, „dass ich diese Frau weiterhin quälen kann und dass sie nicht eines plötzlichen Schocktodes stirbt.“
Auf das Flehen der Frauen, sie zu verschonen und stattdessen Geld, Schmuck etc. an sich zu nehmen, reagiert der Mörder mit der Wiederholung seiner Absicht und erdrosselt gegen 20 Uhr quasi zum Beweis die Hauskatze.
Zwischen den Misshandlungen lässt er Ingrid Kaffee kochen und trinkt mit ihr eine Tasse. Gegen 23 Uhr erdrosselt er vor den Augen der zwei Frauen den Sohn bzw. Bruder Walter. „Ich hab ihn deswegen umgebracht, weil ich damit die Frauen treffen konnte“, sagt er im Prozess aus. Und in seinem Polizeigeständnis bekennt er. „Ich fand an diesem Anblick, vor allem auch an jenem der Frauen, die ich als Zuseher genötigt hatte, Gefallen.“
In den nächsten Stunden setzt Kniesek die Misshandlungen Ingrids fort, auch mit brennenden Zigaretten. Um zwei Uhr erdrosselt er vor ihren Augen die Mutter.
Das Martyrium der 23jährigen, die er an Heizungsrohren im Keller anbindet, dauert noch weitere drei Stunden an. Gegen fünf Uhr erdrosselt er auch sie mit einem Kabel.
Im Anschluss verstaut er die Leichen im Mercedes der Familie und säubert das Haus, so penibel, dass dies Dr. Lanzrath bis heute irritiert: „Das Frappierendste für mich war der Tatort, der absolut harmlos wirkte. Es gibt Fälle, wo noch Tote liegen, Maden kriechen, man quasi im Blut watet, aber hier waren absolut keine Spuren, als wäre nie etwas vorgefallen. Nur im Keller war jene Stelle, wo Kniesek die Tochter an die Heizungsrohre gebunden hatte, vom Staub befreit. Das hatte er vergessen.“
Die Fahndung
Als Kniesek gegen 8 Uhr vor die  Tür tritt, macht er dem Nachbarn die Gartentür auf, damit dieser wie gewohnt den Zugang zum Haus freischaufeln kann, was von Kniesek ungeheurer Kaltblütigkeit zeugt, die auch Richter Dr. Rudolf Eckelhart beim Prozess anspricht: „A Kaltblütigkeit ham’s schon, da ham’S drei Leichen im Auto und dann sprechen’S no an Polizisten an und fragen’S um a Zeitung.“
Mit dem Auto fährt Kniesek zunächst nach Karlstetten, wo er im Gasthaus Lind frühstückt. „Knieseks nervöses Verhalten war allen aufgefallen. Wie er die Tausender zählte und dann nach dem Weg nach Wien fragte, wobei er nicht über St. Pölten fahren wollte, war nicht normal. Dazu kam dann noch der Mercedes mit der St. Pöltner Nummer“, erklärt 1980 der Geselle des Hauses, warum er anschließend Kniesek bei der Gendarmerie angezeigt hat. Auch der Umstand, dass Kniesek beim Essen die Handschuhe anbehält, irritiert.
In Folge wird eine Fahndung nach dem Auto ausgegeben, das Haus der Altreiters wird ab dem Nachmittag observiert. Die Nachbarn zeigen sich besorgt, weil die Jalousien noch immer runtergelassen sind. Gegen 16 Uhr wird es Kriminalinspektor Franz Schweighofer zu bunt. „Es ist es schon dunkel geworden, da hab ich entdeckt, dass ein kleines Fenster eingeschlagen war, so auf 1,60 cm Höhe. Da bin ich zur Nachbarin und hab mir eine Leiter geholt. Das Fenster war zu, was mir komisch vorgekommen ist, weil ein Einbrecher lässt das offen,  um Lärm zu vermeiden. Ich bin hineingekrochen und in Matsch gelandet, es waren ein paar Marmeladegläser umgefallen, das heißt, da ist schon vorher jemand so rein. Aber die Tür – in die Küche wie sich dann herausgestellt hat – war zu.“ Der Kriminalbeamte überlegt kurz, nimmt sich dann ein Herz. „Ich hab die Krache entsichert, dann die Tür eingedrückt. Es war stockfinster im Haus. Ich bin blitzschnell durch alle Räume, aber da war eigentlich nix Ungewöhnliches festzustellen. Auf der Couch sind zwei Pelzmäntel aufgebreitet gelegen, und eine halbe Kanne Filter-Kaffee stand noch da. Im ersten Stock war das Wagerl vom behinderten Sohn. Im Windfang ist eine Handtasche offen am Boden gelegen, und ich hab mir gedacht, die Frauen hätten das sicher so nicht liegen lassen.“ Obwohl sonst alles friedlich scheint, vermutet Schweighofer ein Verbrechen. „Auf der Dienstelle hab ich gesagt, da fehlen drei Leute, da ist was Schreckliches passiert, das können wir noch gar nicht absehen!“
Da man eine mögliche Rückkehr des Täters nicht ausschließt, wird das Haus auch in der Nacht observiert – von innen. Joe Summerer, damals einer der Beamten, erinnert sich an die angespannten Stunden. „Ein Hundeführer und ich haben uns im 1. Stock des Hauses platziert. Es war stockfinster. Ich bin in Gedanken die ganze Zeit durchgegangen, was ich mache, wenn jetzt jemand den Schlüssel reinsteckt und reinkommt. Was, wenn er eine Pistole hat? Wer drückt als erster ab?“
Um 2 Uhr läutet im totenstillen Haus das Telefon, Summerer springt auf und hebt ab. „Da hat es geheißen, man hat in Salzburg das Auto gefunden, wir könnten die Aktion abbrechen.“
Tatsächlich ist Kniesek zu diesem Zeitpunkt schon verhaftet. Gegen 23.30 Uhr finden die Salzburger Kollegen das Auto. Als Kniesek zum Fahrzeug zurückkommt, halten sie ihn an. „Da der PKW hinten so stark hinunterhing, wurde mit dem Schlüssel der Kofferraum geöffnet. Ganz oben lagen verschiedene Plüschdecken. Dabei stellte sich heraus, dass sich unter diesen drei Leichen befanden“, ebenso wie das tote Kätzchen, heißt es im Bericht.
Kniesek wird verhaftet.
Noch leugnet er alles. In der Zelle begeht er zwei Selbstmorderversuche, einmal möchte er sich erhängen, ein zweites Mal die Pulsadern aufbeißen. Beides wird vereitelt. Gegen Mittag des nächsten Tages, 18. Jänner, legt er ein erstes Geständnis ab, das er dann in St. Pölten am 19. Jänner noch detaillierter wiederholt.
Der durchführende Beamte Bader schreibt nach Knieseks Geständnis abschließend in seinem Bericht. „Wenngleich man bei der Täterpersönlichkeit den Eindruck gewinnt, dass er sehr realistisch auf den Tathergang und damit auch auf seinen vorgegebenen, gestörten Geisteszustand hinweisen möchte, bekam man gleichzeitig auch den Eindruck, dass  er den Tatablauf ‚verhandlungsreif’ nochmals gern schildern wollte, um sich vielleicht neuerlich in seiner Triebhaftigkeit zu bestätigen.“
Schweighofer meint resümierend: „Wir haben damals Glück gehabt. Hätte es nicht den Tipp gegeben und hätten wir Kniesek nicht erwischt, wär er am 18. Jänner einfach wieder ins Gefängnis zurück und der Fall wäre vielleicht nie aufgeklärt worden.“
Die Verhandlung
Drei Monate später steht der Mörder vor Gericht. Staatsanwalt Dr. Lanzrath erinnert sich: „Das Geständnis war da, so betrachtet war alles klar. Das Eindrucksvollste war das Plädoyer des Verteidigers Dr. Hofbauer, der gebeten hat, dass alle aufstehen und eine Schweigeminute für die Opfer abhalten. Ich selbst hab im Plädoyer darauf hingewiesen, dass Kniesek wie eine Naturkatastrophe über die Familie Altreiter hereingebrochen ist.“
Nach nur fünf Stunden wird Kniesek zu lebenslanger Haft und Einweisung in eine Anstalt für abnorme Rechtsbrecher verurteilt. In seinem Schlusswort betont er dass „wenn mir 1972 Gehör geschenkt worden wäre, die Tat nicht hätte geschehen können.“ Kniesek verweist damit auf den Umstand, dass er 1972 in einem Brief an einen Psychiater um eine Untersuchung gebeten hat.
1980 ist diese Tatsache im Hinblick auf den gewährten Hafturlaub Knieseks natürlich ein Riesenthema. Hätte die Tat gar verhindert werden können? Hätte er überhaupt freikommen dürfen? „Das war kein Ruhmesblatt der Justiz. Wenn man den Kniesek Akt liest, weiß man, dass er ein brandgefährlicher Wiederholungstäter war, der auch während der Haft über seine Fantasien, über seine Gefühle Briefe geschrieben hat. Das Fatale war, dass diese Schriften offensichtlich niemand gelesen hatte“, legt Dr. Lanzrath seine Sicht der Dinge dar.
Die Folgen
Heute, 28 Jahre später, sitzt Kniesek nach wie vor in Graz ein. Die damals Tangierten hat der Fall nie gänzlich losgelassen. Die ehemalige Untermieterin der Altreiters, die just an dem Tag zu ihren Eltern gefahren war, möchte keine Stellung nehmen „weil dann kommt das von damals alles wieder hoch, das ist nicht so leicht“. Tatsächlich sagte Kniesek im Hinblick auf weitere Bewohner des Hauses aus, „ich hätte jeden umgebracht.“ Auch jener Zeuge in Karlstetten, dessen Tipp die Fahndung mit auslöste, möchte „eher nicht in der Zeitung erwähnt werden.“
Der ehemalige Kriminalbeamte Schweighofer räumt ein „dass mich das eigentlich nicht belastet. Aber manchmal, wenn ich am Haus vorbei geh, denk ich mir, das war mein Mordhaus!“, und Dr. Lanzrath antwortet auf die Frage, was vom Fall Kniesek letztlich überbleibt, „dass für mich der Fall nicht abgeschlossen ist. Er taucht immer wieder auf. Vor ca. acht Jahren hatte ich ein Seminar in Innsbruck, wo Kriminalpsychologe Müller einen Vortrag über grausige Fälle und Gefährlichkeitsprognose hielt. Damals wurde gemunkelt, es laufe ein Verfahren zur bedingten Entlassung Knieseks. Nach dem, was Müller über diese Art Täter ausgeführt hatte,  war Kniesek der Prototyp eines nie zu entschärfenden Sexualtäters. Im Anschluss bin ich zu ihm hin und habe ihn gebeten, sich den Fall näher anzuschauen.
Das heißt, eine bedingte Entlassung Knieseks kann er sich nicht vorstellen? „Ohne Gutachten vorgreifen zu wollen, ich weiß ja nicht, wie sich Kniesek in der Haft entwickelt hat. Aber ich hätte Angst, ihn freizulassen. Die Bevölkerung hat jedenfalls ein Recht zu wissen, was mit Kniesek ist!“
Angst, das ist wohl ein Schlüsselbegriff in dem Fall, denn die Angst der Opfer war es, die Kniesek die größte Lust bereitete, und die er in gewisser Weise selbst heute noch, 28 Jahre später, zu verströmen imstande ist.
Tanz der Reporter geht weiter
Was letztlich von Fällen wie Gufler, Kniesek oder jüngst Prikopil und Fritzl bleibt, ist ein großes Unverständnis. Eine Verstörung. Da kann man gedanklich nicht mehr mit. Ein Phänomen, das Dr. Müller in zahlreichen Interviews bestätigt. „John Steinbeck hat schon gemeint, es gibt Menschen, die in Erfahrungswelten leben, die wir nicht betreten können.“ Und trotzdem sind es offensichtlich gerade diese, die faszinieren. Aus einer Art „Veranlagung“ heraus, wie Dr. Anzeletti andeutet, „weil der Mensch sich eher in die Täterrolle reindenken kann als in jene des Opfers“? Sind Kapitalverbrecher dann gar eine Art Katalysator für das eigene, verdrängte Böse in uns? Leben wir also in der „Hingabe“ an Berichte über Gewaltverbrechen unsere ureigensten dunklen Instinkte unbewusst aus? Immerhin räumt Dr. Müller im Falter Interview ein, „dass in jedem Menschen das Gute und das Böse vorhanden ist. Da kann ich nur Bernhard Shaw zitieren, der gemeint hat, es gebe keinen Menschen, der nicht in eine Situation kommen kann, in der er einen anderen umbringt. Ich gehe sogar noch weiter und sage nach 23 Jahren Tätigkeit in diesem Bereich: Derjenige, der noch nie daran gedacht hat, einen anderen umzubringen, der ist mir suspekt.“
Und so wird zum Fritzl-Prozess wieder eine Armada von Journalisten anreisen, um detailliertest über das Verbrechen zu berichten, und wir werden ebenso gierig die grausigen Brocken aufsaugen. Woher aber diese Geilheit? Und wie weit darf sie gehen? Etwa so weit, dass man ganze Anklageschriften, wo minutiös die Taten des Verbrechers beschrieben werden, veröffentlicht? Ohne Rücksicht auf die Opfer, auf Pietät, auf Bewusstsein? Sind wir gar aufgrund der zunehmenden Ästhetisierung und Kommerzialisierung des Bösen, seine Popularisierung in Filmen, Games etc. völlig abgestumpft, frei nach dem Motto „Grauen ist geil!“ Dr. Müller hält den Umgang der Populärkultur mit Verbrechen jedenfalls für bedenklich. „Als ich ein Bub war, hat es Spielkarten mit Segelflugzeugen drauf gegeben, der eine hatte 12 Meter Spannweite, der andere 15 Meter, die haben wir getauscht. In Amerika können sie heute Spielkarten kaufen, da steht oben: Jeffrey Dahmer 17 Mordopfer, John Wayne Gacy 33 Opfer, gib mir die Karte! Es gibt keinen Bezug zu dem, was Realität ist und was nicht. Daran schließt sich die Frage der Faszination des Bösen an, und ich kann nur sagen: Für mich gibt es das nicht. Wenn Sie einmal Bilder von zu Tode gequälten Kleinkindern gesehen haben, dann hört sich die Faszination des Grauens auf.“
Interview: Joe Summerer, Heinrich Kofler, Johann Mayerhofer, Franz Schweighofer, Kriminalbeamte i. R.
An der Front
Hat man in ihrem Beruf nicht ständig Angst?

Summerer: Angst habe ich eigentlich nie gehabt. Aber bei Observationen etwa gab es immer eine gewisse innere Anspannung, wo du die Situation im Geiste immer und immer wieder durchgegangen bist. Aber das hat psychisch Sicherheit gebracht.
Mayerhofer: Also, wenn du den Beruf ergreifst, musst du dich darauf einstellen. Wenn du da ein niedriges Angst-Level hast, hast du schon verloren. Im Moment musst du voll konzentriert sein, erst im Nachhinein kannst du dich entspannen.
Und wie ist das Nachher? Wie verarbeitet man brenzlige Situationen?
Summerer: Da denkst du dir bisweilen, jetzt hab ich eigentlich eine Sau gehabt.
Schweighofer: Für mich war immer komisch, dass Feuerwehrmänner psychisch betreut werden, Sozialarbeiter etc. – aber wer hat uns betreut? Niemand! Da haben bestenfalls die Leute von der Rechtskunde gesagt, da hast ein Schluckerl Whiskey. Bei uns war alles selbstverständlich. Dabei hast du als Kriminialbeamter mit Toten zu tun, wobei das Belastendste für mich war, wenn ich einer Familie mitteilen mussste, dass ein Angehöriger verstorben ist.
Über Ihren Beruf gibt es viele Klischees.  Wie laufen etwa Verhöre wirklich ab?
Summerer: Im Prinzip geht es darum, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Die testen dich aus, wobei du ab einem bestimmten Punkt weißt, wie weit du kommst.
Mayerhofer: Ein guter Draht ist wichtig. Es hat Gangster gegeben, die - wenn sie wieder kamen - nur mit einem bestimmten Beamten reden wollten. Ein anderer hätte aus denen nie etwas herausgebracht!
Schweighofer: Einvernahmen sind kein Frage Antwort Spiel, da kommst du nicht weit. Es geht eher um Einfühlungsvormögen, darum, dass du einen Zugang findest, Vertrauen schaffst. Das macht einen guten Kriminialbeamten aus. Heute hilft einem oft der DNA Beweis, aber früher ist es sehr darauf angekommen, dass du ein Geständnis abringst!
Kofler: Es hatte jeder seine eigene Methode, das war auch Einstellungssache. Manche Kollegen haben Spielchen gespielt. Mir hingegen war wichtig, dass man ehrlich ist, auch als
 
Sie haben von Sympathie gesprochen. Entwickelt man auch ein Verständnis für Täter?
Kofler: Es gibt schon Menschen, arme Hunde, die haben ein Umfeld, wo sie durch die absolute Hölle gegangen sind. Da denkt man dann für sich: Also wenn ich in derselben Situation wäre, würde ich auch nicht für mich die Hand ins Feuer legen.
Summerer: Ich hatte einmal einen Fall, eine Frau, die wurde jahrelang von ihrem Mann grauslichst misshandelt. Irgendwann hat sie ihn in der Nacht mit dem Hammer erschlagen. Als sie sich dann von ihrer Tochter verabschiedete, weil sie ins Gefängnis musste, war das tragisch, da hat mir schon derbarmt. 
Kofler: Viele Verbrechen passieren im Familienkreis. Da gibt es oft eine höhere Schwelle, auszusagen, viel wird verschwiegen. Dadurch kommen Familien oft in die Bredouille. Für die Betroffenen ist es eine Erleichterung, wenn wir sozusagen von außen eindringen, weil dann haben sie endlich die Möglichkeit, reinen Tisch zu machen. Ansonsten ist das ganze Leben auf Lug und Trug aufgebaut. Dann wird ein Täter zwar nie verurteilt, aber er hat ewig Schuldgefühle bzw. ist immer dem Gegenüber ausgeliefert. Und das Opfer befreit sich von der Last.
Warum ist Ihr Beruf so fasziniserend?
Summerer: Jeden Tag laufen zig Krimis, Millionen Leute sitzen vorm Fernseher und denken sich, ich will auch einmal im Leben Kriminalbeamter sein! Aber wir sind es! Das ist toll!
Interview: Dr. Peter Lanzrath, Staatsanwalt i. R.
"Psychologie ist wichtig."
Was fällt Ihnen heute ad hoch zum Fall Kniesek ein?
Das war eine unvorstellbare Tat. Furchtbar, und umso furchtbarer, weil man schon den Eindruck gewann, dass dieses Verbrechen vielleicht hätte verhindert werden können. Denn Knieseks Schriften im Gefängnis, die muteten beinahe wie Hilferufe an.
Der Kniesekfall platzte 1980 in eine Phase, da die Strafrechtsreform von Justizminister Broda stark weichen Strafvollzug etc. setzte. Wie beurteilen Sie dies heute?
Damals ging man, sehr auf die Psychologie bauend, davon aus, dass jeder Mensch manipulierbar ist, also  Veränderungen zugänglich. Demnach gibt es also für jeden Behandlungsmöglichkeiten – in dieser Zeit wurden ja auch Anstalten für abnorme Rechtsbrecher geschaffen. Das war, wie man im Laufe der Jahre draufgekommen ist, teilweise zu idealistisch, denn es gibt Individuen, die ihr Leben lang gefährlich bleiben, die also nicht heilbar sind. Aber im Großen und Ganzen war die Reform ein großer Wurf, der bis heute nachwirkt.
Ein Aspekt waren bedingte Entlassungen. Welchen Sinn haben diese?
Die bedingte Entlassung ist das wichtigste Instrument überhaupt, um dem Häftling Hoffnung zu geben. Hat er keine Perspektive, ist ihm alles egal, und somit ist er auch im Vollzug gefährlicher. Zudem sind bedingte Entlassungen ein Mittel zur Disziplinierung, weil ja die Frage relevant ist, wie hat sich der Häftling während seiner Gefangenschaft verhalten. Natürlich sind auch schlimme Fehler passiert. Jack Unterweger etwa war ein klassisches Beispiel verfälschter Resozialisierung!
Demgegenüber flammen immer wieder Stimmen auf, wonach „lebenslang lebenslang bleiben muss“
Das wäre fatal, weil es dann keine Perspektive mehr für die Häftlinge gäbe, wie bereits oben erwähnt. Lebenslang ist in der Regel nie lebenslang. Gewöhnlich kann man nach etwa 15 Jahren erstmals einen Antrag auf bedingte Entlassung stellen. Am wichtigsten ist dabei die sogenannte Gefährlichkeitsprognose, die der Entlassungssenat abgibt. Gutachten, die Strafkarte, vergleichbare Fälle spielen bei der Beurteilung eine Rolle. Vereinzelt gibt es aber auch Häftlinge, die man überhaupt nie mehr rauslassen kann oder bestenfalls dann, wenn sie körperlich so devastiert sind, dass sie keine Gefahr mehr darstellen.
Wie beurteilen Sie persönlich den Strafvollzug in Österreich?
Letztlich ist es eine Frage, welcher Theorie ich anhänge. Prinzipiell haben wir haben keine andere Lösung in unserem Rechtsstaat als das Verwahren. Und es ist schon eine Visitenkarte für einen Staat, wie er mit seinen Häftlingen umgeht. Sperr ich sie nur weg, oder versuche ich, sie einer vernünftigen Beschäftigung zuzuführen.
Ich persönlich war immer für differenzierte Strafen, für Psychologie. Das heißt, man muss sich jeden Täter genau anschauen, mit ihm Gespräche über seine Taten führen, über Wert und Unwert, und daraus schließen, welche Maßnahme am sinnvollsten ist.
Reines Wegsperren, drakonische Strafen sind nicht unbedingt zielführend, da bin ich sehr skeptisch. Ich persönlich neige eher zu psychologischer Betreuung. Und wenn jemand rückfällig wird, dann kann ich noch immer härtere Strafen geben. Kommt er aber nicht mehr, hat es gepasst. Auch im Gespräch mit Opfern stelle ich häufig fest, dass diesen mit reiner Strafe nicht wirklich geholfen ist, während, wenn der Täter späterhin kommt und sich entschuldigt, dies für viele Erleichterung schafft.
Wird man in Ihrem Beruf nicht mit der Zeit desillusioniert?
Nein. Man lernt eher zu differenzieren, entwickelt für vieles Verständnis, selbst für Untaten. Meistens gibt es eine Erklärung, die Hand und Fuß hat, selbst bei Tötungsdelikten. Das heißt nicht, dass man das entschuldigt, aber man kann vieles nachvollziehen. Aus diesem Grund baut unser Strafsystem auch auf differenzierte Urteile, gibt es Strafrahmen, und das halte ich für sehr sinnvoll!
Wie gerecht ist das Recht?
In der Justiz besteht bisweilen die Gefahr, dass man sich nur auf die kleinen Hendldiebe konzentriert. Überspitzt formuliert: Erwischen tut man sozusagen die Depperten, während sich die Intelligenten dem System besser entziehen, dabei sollte man darauf mehr Augenmerk legen. Dazu genügt ein Blick in die Hochfinanz - wie viele Scharlatane sind da unterwegs!
Interview:Mag. Dr. Alfred Anzeletti, Landesgerichtspräsident i.R.
Begriff der Strafe wird nivelliert 
Wie haben Sie persönlich den Kniesek Fall erlebt?
Von Gerichtsseite her war ich am Rande involviert, weil ich teilweise den Akt behandeln habe müssen. Man ist einfach entsetzt. Es war defintiv einer der schrecklichsten Straffälle, die mir je in meiner Laufbahn untergekommen sind. Er wirft die Frage von Schuld und Sühne auf, nach Relation von Strafe, ob in solchen Fällen eine lebenslange Strafe wirklich ein Äquivalent für die Todesstrafe ist.
Mit dieser Frage setze ich mich seit Jahren auseinander. Historisch ist es so, dass man die Blutrache, die früher bestimmend war, durch das Gesetz abgelöst hat. Der Staat hat seinem Bürger gesagt, ich übernehme für dich dieses Problem, damit die Blutrache beendet wird. Aber diesen Auftrag erfüllt der Staat nur mehr bedingt. Er verschafft den Opfern und Angehörigen nicht immer das Gefühl der gerechten Strafe für den Täter.
Im Zuge des Kniesek-Falles gab es Demonstrationen gegen die Justiz. Manche wollten den Mörder am liebsten lynchen, manche forderten die Todesstrafe. Darf man darüber nachdenken?
Bei uns ist die Todesstrafe ein Tabuthema.  Aber unter dem Aspekt präventiver Notwehr ist sie denkbar, denn das ist das Paradoxon: Im Sinne gerechtfertigter Notwehr gibt es die Todesstrafe in gewisser Weise  schon. So betrachtet wäre sie die Notwehr der Gemeinschaft vor einem Täter, von dem nicht zu erwarten ist, dass er sich ändern kann. Aber ich weiß selbst keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Das ist immer problematisch.
Der Tod, heißt es, hat eine reinigende Wirkung. Er ist Abschluss eines Problems. Das Schlimmste ist ja lebenslänglich für die Angehörigen. Für die Frau, die Kinder – die werden nämlich auch zu Opfern. Die können sich ein Leben lang nicht mehr befreien. Das ist auch eine Art von Sippenhaftung. Daran denkt überhaupt niemand.
Eines muss man zudem einräumen: Wer den Krieg als mögliches Mittel der Auseinandersetzung bewahrt, der kann ehrlicher- und konsequenterweise nicht gegen die Todesstrafe sein. Und es hängen damit auch Fragen wie Abtreibung oder Sterbehilfe eng zusammen. Auch hier wird die Rechtsfähigkeit einer Person in Frage gestellt von anderen. Aber die Frage ist immer problematisch!
Damals entbrannte auch eine große Diskussion um den Strafvollzug, die Frage, wie locker er sein darf. Wie beurteilen sie die heutige Situation.
Es war die Zeit von Justizminister Brodas Strafrechtsreform, und die war auch notwendig und überfällig. Zugleich gab es die Vorstellung der gefängnislosen Gesellschaft. Das war zwar ein schönes Ideal, aber zu idealistisch. Wie etwa auch heute in anderem Kontext die Frage des Mindesteinkommens, dass jeder, egal ob er arbeitet oder nicht, 800-1000 Euro bekommen soll. Die Folge wird sein, dass der Anreiz, Arbeiten zu verrichten, die nicht gut bezahlt sind, die kein hohes Sozialprestige haben, gleich gegen  null geht.
Im Hinblick auf den Strafvollzug ist dieser heute als äußerst milde zu bezeichnen. Dies lässt bisweilen Zweifel aufkommen, ob es überhaupt noch ein richtiger Strafvollzug ist und ob der Staat seiner übernommenen Verpflichtung der Rechtssprechung zur Genüge nachkommt.
Inwiefern bezweifeln Sie das?
Im Häfen geht’s den Leuten gut. Die haben Fernseher, PC’s, Filme. Sie müssen nicht wirklich arbeiten, können Kurse des AMS besuchen. Viele liegen im Krankenhaus und lassen  sich Sachen sanieren, die sie sich draußen nie hätten leisten könnten. Jemand, der zum Vergleich zuhause krank ans Bett gefesselt ist, bettlägrig, der hat ein viel härteres Los zu tragen.
Das heißt, die Strafen sind zu mild?
Ich schreib kein Evangelium, kann keine Tipps geben, wie es richtig wäre. Das haben wir in Wahrheit ohnedies schon verschlumpft. Wir können - und wollen - ja auch nicht zurück ins Mittelalter. Trotzdem ist der Begriff der Strafe in gewisser Weise nivelliert worden. Meine Großmutter hat einen Spruch geprägt: „Allzu gut ist schon halb liderlich!“, und das stimmt. Ein Beispiel: Die Rückfallsquote bei jugendlichen Straftätern ist extrem hoch. Was nicht berücksichtigt wird: Die Strafe trifft sie erst beim dritten, vierten Vergehen voll. Wichtig wäre hingegen, dass schon die erste Strafe eine spürbare ist.
Wie beurteilen Sie die Bemühungen um Resozialisierung? Das ist ja ein großes Thema und Ziel.
Ich hab mich mit dieser Frage philosophisch auseinandergesetzt. Prinzipiell geht es um die Freiheit des Menschen. Er bestimmt in Eigenverantwortung selbst darüber, ob er gut oder böse sein möchte. Jeder hat so betrachtet das Recht Verbrecher zu sein, aber wenn er erwischt wird, hat er auch die Pflicht, die Konsequenzen mit allen Sanktionen zu ertragen!
Die Gesellschaft soll sich daher endlich davon befreien, sich mitschuldig zu fühlen. Ich glaub auch nicht, dass immer alles durch die Herkunft, das Milieu, die Eltern etc. erklärt werden kann. Das ist ein Minderungsgrund, aber keine Entschuldigung oder Relativierung. Freilich: Jeder, der willig ist und wo man den Eindruck gewinnt, dass er es wirklich ernst meint, soll unterstützt werden. Aber man muss genau die Sinnhaftigkeit prüfen.
Vielen Häftlingen fehlt auch eine echte Schuldeinsicht. Die denken sich eher,  ich hab nur das Pech gehabt, dass ich erwischt worden bin.
Medial hat man den Eindruck, dass es eine extreme Fokussierung auf den Täter gibt? Warum ist das so?
Weil sich der Mensch eher in die Täterrolle reindenken kann als in jene des Opfers. Das ist sozusagen spannender. Das Opfer wird zur Nebensache degradiert, mit dem setzt sich keiner auseinander. Das ist irgendwie so wie mit einem Schnitzel, das man ohne Bedenken verzehrt. Da denkt auch keiner daran, dass das einmal ein lebendiges Schwein war, das geschrieen hat und getötet wurde.
Wie beurteilen Sie die Rolle der Medien? Ist unter dem Aspekt der Öffentlichkeit ein fairer Prozess überhaupt noch möglich?
Aufgrund des heutigen Medienrummels, der Vorinformation der Öffentlichkeit mit geheimen Akten, lässt sich die Unvoreingenommenheit de facto nicht mehr gewährleisten. Es ist unmöglich, bei längeren Verfahren, die Laienrichter dementsprechend abzuschirmen. Ein Extrembeispiel war diesbezüglich der Proksch-Prozess, derin in seiner Mediendimension mindestens so schlimm war wie der Fritzl-Prozess werden wird. Proksch hat die Bevölkerung alles verziehen, und heute wird er verehrt wie Che und es hatte den Anschein, dass für Mittäter Staatsbegräbnisse augerichtet werden. Auch der Fall Elsner ist ein Beispiel, wo aufgrund des medialen Getöses ein fairer Prozes praktisch unmöglich war. Die Verbindung von Medien und Justiz ist extrem bedenklich. Für mich wäre es in meiner aktiven Laufbahn undenkbar gewesen, dass Presseleute zu mir in die Wohnung kommen und mich interviewen. Heute gibt kein Amtsgeheimnis mehr, und die enge Verbindung zwischen erhebenden Organen und den Medien ist übertrieben gut.